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2007-09-10

Tadzio Müller & Kriss Sol: Zwei Siege auf einmal? Das geht nun wirklich nicht!

Heiligendamm, die
radikale Linke, und kein Antagonismus weit und
breit…

„Der Gipfel in Heiligendamm war am Ende tatsächlich ein historischer
Erfolg, vor allem wegen des Durchbruchs, der im Bezug auf Klimawandel erzielt
wurde… Die Medienberichterstattung über den Gipfel teilte die
Einschätzung, dass der Gipfel ein Erfolg gewesen sei. Nach dem Gipfel
krönte Deutschlands größtes Boulevard-Blatt, immer den Finger am Puls der
öffentlichen Meinung, Angela Merkel zur ‚Miss
World’.“1

Flyer

Es ist nett, ab und an einen Sieg feiern zu können. Während wir mit
tausenden Menschen am Lagerfeuer in Reddelich saßen, waren wir uns aber
nicht so sicher, ob die kollektive Euphorie, die im ganzen Camp herrschte,
schlichtweg das Resultat zu vieler schlafloser Nächte (und Tage) war, oder
ob wir tatsächlich wieder einmal gewonnen hatten: so wie wir damals in
Seattle gewonnen hatten, so wie damals in Prag, oder sogar in
Genua.

Gewissermaßen stimmt es schon, dass wir es waren, die in Heiligendamm
gewonnen haben. Erstens zwangen etwa 10.000 von uns 16.000 PolizistInnen und
1000 SoldatInnen dazu, auf den See- und Luftweg auszuweichen; wir schafften
es, die Logistik des Gipfels teilweise zu stören: JournalistInnen, für
solch eine Veranstaltung unentbehrlich, berichteten, dass sie mehrere Stunden
in Booten fest saßen, Delegationen verspäteten sich, etc. Wir lenkten die
Aufmerksamkeit von Menschen im ganzen Land und vielen anderen Teilen der Welt
auf unsere Aktionen und Blockaden, also auf die Tatsache, dass unsere
Bewegung existiert und relevant ist. Das sind bedeutende Erfolge. Den Staat,
der einer bestimmten (konzeptionell unzureichenden) Definition zufolge
diejenige Institution ist, die über das legitime Gewaltmonopol in einem
bestimmten Gebiet verfügt, unter Druck zu setzen, ihn von diesem Gebiet in
eine kleine Enklave zu vertreiben – auf Boote und Hubschrauber – ist an
und für sich schon eine höchst bedeutungsvolle Tat(sache). Wie sonst sollte
‚Revolution’ aussehen, wenn nicht wie das kontinuierliche Ausüben von
Druck auf Staat und Kapital in unserem täglichen
Leben?
Wohin werden sie noch flüchten? Es ist gerade einmal sechs Jahre her, dass
die G8 aufhörten, ihre Gipfel in großen Metropolen abzuhalten, und
stattdessen aufs vermeintlich ruhige Land zogen. In Europa zumindest hat
dieser Schritt massiven Widerstand nicht verhindern können. Was wird ihr
nächster Schritt sein? Das Rotationsprinzip aufgeben, und einen festen G8
Sitzungssitz in der Sahara einrichten? Wo sie auch hingehen werden, unser
Wille zu intervenieren und ihre Treffen, wenn nicht unmöglich, dann doch so
schwierig wie möglich zu machen, wird
bleiben.

Zweitens (wo ist erstens?), und vielleicht noch wichtiger: wir haben
erreicht, was sich viele von uns in den Jahren und Monaten vor Heiligendamm
erhofft hatten, nämlich einen ‚re-konstitutiven Moment’ des
Konfliktpotenzials sozialer Bewegungen. Was Gipfelproteste am Ende des
vergangenen und zu Beginn dieses Jahrhunderts erreicht hatten, war die
Schaffung eines ‚gemeinsamen Raumes’ – eines sozialen und diskursiven
Raumes, in dem verschiedene Kämpfe, Bewegungen, und Individuen sich selbst
als Teil einer globalen Bewegung verstehen konnten, durch den
unterschiedliche Bewegungen verschiedene Kristallisierungspunkte globaler
kapitalistischer Herrschaft kollektiv konfrontieren konnten. Das war damals.
Während der letzten Jahre hatten viele von uns jedoch den Eindruck, dass, so
sehr wir auch immer wieder die Existenz einer ‚globalen Bewegung’
beschworen, es diese eigentlich nicht mehr gab. Die integrative Qualität
von Gipfelprotesten ist seit Genua ausgetrocknet, aufgrund von Repression,
Vereinnahmung, und der Instrumentalisierung von Bewegungsagenden durch Staat
und Kapital: von der ‚sozialen Verantwortung von Unternehmen’ bis hin zur
unsäglichen Abspaltung und Vereinnahmung des moderaten Flügels unserer
Bewegung in Gleneagles unter der Regie der Blair/Brown-Regierung. Gleneagles
war vor allem der Höhepunkt eines Prozesses, der genauso ein Ausdruck
unseres Erfolges (Themen, über die ‚wir’ sprachen mussten als
‚Probleme’ wahrgenommen werden) wie unserer Niederlage war: das langsame
Austrocknen des Antagonismus, der zwischen unseren Agenden und denen der
G8/WTO/usw.
existierte.

Trotzdem: Das Gefühl während jenes letzten Abends am Lagerfeuer war anders.
Wir fühlten uns stark, waren wieder wer, die Menschen um uns fühlten sich
ermutigt und gestärkt. Aber das war nur das anfängliche Gefühl am Feuer:
ob wir wirklich ‚wieder wer sind’ hängt vor allem davon ab, was jetzt
folgt. Seattle wäre nicht der Mythos, der es heute ist, wenn danach nicht
Washington, Prag, Quebec, Göteborg, Genua, etc. passiert wären, wenn
tausende von Menschen, auf dem uneingelösten Versprechen der Vergangenheit
aufbauend, dieses Ereignis nicht als positiven und ermutigenden Ausgangspunkt
für zukünftige Interventionen genommen
hätten.

Nach der Euphorie kam die Ernüchterung. Als wir am nächsten Tag die Zeitung
aufschlugen, stellten wir nicht nur fest, dass die alte Welt immer noch
existierte, sondern dass es die G8 tatsächlich geschafft hatten, in den
bürgerlichen Medien wieder als legitime globale Problemlösungsinstanz
dazustehen. Zumindest Merkel und ihre Mannschaft wurden weithin dafür
gelobt, dass sie die USA dazu gezwungen hatte, eine irgendwann in der Zukunft
einmal bindende Vereinbarung zum Thema Klimawandel zu treffen. Die
Bild-Zeitung krönte Merkel zur ‚Miss World’, weil sie den amerikanischen
Dinosaurier besiegt habe, sie war diejenige, die die G8 dazu brachte, etwas
gegen Klimawandel zu unternehmen. Legitimation für sie selbst, aber auch
für den Gipfel und die G8 als solche. Plötzlich gab es zwei Sieger: die G8,
und die globale Bewegung gegen die G8. Irgendwas stimmte hier
nicht.

Vielleicht finden wir eine Erklärung für diese offensichtliche
Beschränktheit unseres ‚Erfolges’, wenn wir uns die vier Ziele der
Interventionistischen Linken (IL) anschauen – einem der linksradikalen
Netzwerke, das gegen die G8 mobilisierte (sie war ein wichtiger Akteur beim
BlockG8 Netzwerk, das wiederum die Massenblockaden organisierte). Die Ziele
der IL waren (a) eine deutliche Delegitimierung der G8 an sich, (b) eine
materielle Intervention in die Infrastruktur des G8-Gipfels durch
Massenblockaden, © der Aufbau eines breiten Bündnisses und (d) eine
deutliche Abgrenzung von rechter Globalisierungskritik. Vermutlich werden
diese Ziele nicht von allen (linksradikalen) AktivistInnen geteilt, aber wir
glauben, dass die ersten beiden Ziele in jeder irgendwie gearteten
Vorstellung eines ‚Sieges’ gegen die G8 enthalten sein müssen, und als
solche von vielen auf der radikalen Linken geteilt wurden. Fangen wir mal von
hinten an: eine deutliche Abgrenzung von rechter Globalisierungskritik fand
tatsächlich erfolgreich statt; die Auswertung der Bündnispolitik
überlassen wir der IL. Aber wie steht es denn mit den ersten zwei Punkten,
der diskursiven Delegitimierung und der materiellen
Intervention?

Für uns hängen diese beiden Ziele strategisch zusammen. Zu versuchen, die
G8 zu delegitimieren, bedeutet klarzumachen, dass sie keine Lösungen für
globale Probleme finden können, weil sie eben gerade ein Teil des Systems
sind, das die Probleme überhaupt erst produziert. Und wenn dem wirklich so
ist, dann führt das notwendigerweise zum zweiten Ziel: wir sollten
versuchen, die G8 an ihrer Zusammenkunft zu
hindern.

Zum ersten Punkt: wie wichtig Gipfeltreffen (und im besonderen G8 Gipfel)
sind, also inwieweit sie tatsächlich ‚Teil des Problems’ sind, oder eben
doch nur ein kurzlebiges Spektakel, ist eine Frage, die in unserer Bewegung
seit langem kontrovers diskutiert wird. Wir glauben, dass sich die Funktion
der G8 in den letzten ca. acht Jahren, seit dem 1999er Gipfel in Köln, und
mehr oder minder im Gleichtakt mit dem Entstehen ‚unserer’ Bewegungen,
verändert hat: war sie früher eine Vermittlerin zwischen konkurrierenden
(Staats- und Kapital-)Interessen, so ist sie nun mehr und mehr eine imperiale
Institution, die versucht, die Probleme zu lösen, die sich durch das
Entstehen neuer Formen von globaler Autorität und Verwertung ergeben. Anders
ausgedrückt: bei globalen Gipfeln geht es vor allem um die Produktion und
Legitimierung wohlwollender globaler Herrschaft, oder besser, um die
Produktion globaler Herrschaft eben als wohlwollend – und mithin
akzeptabel. Wie funktioniert diese Legitimierung? Kurz gesagt, wenn Menschen
anfangen, etwas (z.B. globalen Klimawandel) als Problem oder als Bedrohung zu
betrachten, und wenn bestehende Machtstrukturen nicht überzeugend zeigen
können, dass sie mit dem Problem umzugehen wissen, kann es passieren, dass
diese Leute anstelle zu jammern tatsächlich beginnen, etwas dagegen zu tun
– etwas, das, weil die bestehenden Strukturen keine Lösung anbieten,
potenziell außerhalb dieser Strukturen liegt, über diese hinausgeht, sie
vielleicht sogar
bedroht.

Wir nennen dies die Problematik von globaler Autorität, welche die G8 (neben
anderen) seit mehreren Jahren versucht, in den Griff zu bekommen:
‚Schulden’ (Köln); ‚Armut/ Afrika’ (Gleneagles); ‚Klimawandel’
(Heiligendamm) – alles Themen, die als ‚globale Probleme’ wahrgenommen
werden, und auf diese Problemwahrnehmung versuchte die G8 einzugehen:
„macht euch keine Sorgen, wir sind die Richtigen hierfür und sitzen in der
richtigen Institution, die versucht, das Problem auf die richtige Weise zu
lösen. Um alles in der Welt, fangt jetzt nicht an, kritisch zu denken,
kritisch zu handeln, die Welt zu verändern. Die existierende ist gut genug,
es braucht nur ein paar kleine Anpassungen, die wir mit Bedacht vornehmen
werden!“ So sieht der Legitimierungsprozess aus, und so sieht, in
steigendem Maße, die Rolle der G8
aus.

Der Gipfel in Gleneagles im Jahre 2005 war ein perfektes Beispiel für diesen
Mechanismus: die Tatsache, dass die Themen „Armut“ und „Afrika“ auf
dem Gipfel behandelt wurden, war ganz klar ein Versuch, globale
Herrschaftsstrukturen nach deren jahrelanger Krise erneut zu legitimieren.
Die britische Regierung stellte sich selbst als der verlängerte Arm der
legitimen Ansprüche sozialer Bewegungen dar. Dieses Jahr war der Klimawandel
das Problem, um welches die G8 sich zu kümmern scheinen mussten. Monatelang
hatte Merkels Regierung die politischen Erwartungen daran, was in
Heiligendamm beschlossen werden könnte, nach unten gedrückt, damit auch der
allerkleinste Furz einer Übereinkunft mit der amerikanischen Regierung als
Erfolg verkauft werden könnte. Und genau so kam es: Merkels krönung zur
„Miss World“ durch die Bild-Zeitung war Legitimationsgewinn sowohl für
sie als auch für den Gipfel als solchen – nach dem Motto: Wenn die sich
bei so einem Gipfel darauf einigen können, etwas gegen ein so wichtiges
Problem wie Klimawandel zu unternehmen, dann können diese Gipfel und diese
Institution doch eigentlich so schlimm nicht sein, oder? Auf dem Heimweg von
Heiligendamm fühlten Merkel und ihre Crew sicherlich etwas, was sich gar
nicht so sehr von dem unterschied, was wir fühlten: „We are
winning!“

Und wie war das mit der „materiellen Intervention“ in den Ablauf des
Gipfels? Wir machen hier mal einen auf Spaßbremsen. Wir glauben nämlich,
dass unsere Blockaden als taktische Operation fehlgeschlagen sind. Immer
wieder hörten wir (und sagten es tatsächlich auch selbst!), dass jeglicher
Zugang zum Gipfel über den Landweg effektiv abgeschnitten sei, wunderten uns
aber, wie es sein könnte, dass innerhalb das Zaunes davon kaum Notiz
genommen wurde. Darüber hinaus schienen die Medien unsere Blockaden kaum als
das zu betrachten, was sie eigentlich sein sollten, nämlich tatsächliche
Störungen des Gipfelablaufs, sondern eher als fröhliches Theater bei dem
gezähmter Widerstand (gezähmt, weil er sich innerhalb klar vorgegebener
Grenzen hielt) artikuliert wurde. Dafür gab es Gründe. Zuerst einmal sehr
praktische: während die Polizei die friedlichen Massenblockaden des
BlockG8-Bündnisses am „East Gate“, einem der zwei Haupteingänge im
Zaun, hinnahm, konnte sie sich darauf konzentrieren, die Strasse zum „West
Gate“ störungsfrei zu halten. Deeskalation war hier für die Polizei nicht
mehr notwendig, da sie ja schon die Massenblockaden am East Gate in Frieden
ließ. Nachdem die Kampagne eine Blockade des Gipfels angekündigt hatte und
uns nach zehn Minuten auf der Strasse noch nicht die Köpfe eingetreten
wurden, stellte BlockG8 schnell fest, dass die Polizei sich entschieden
hatte, das East Gate abzuschreiben. Später hörten wir, dass die
Straßenzugänge insgesamt abgeschrieben wurden. Für den Donnerstag, den Tag
des eigentlichen Gipfeltreffens, wurde dann auf Plan B umgeschaltet:
Hubschrauber und Seetransport. Unsere Antwort darauf? BlockG8 blieb innerhalb
des Aktionskonsenses, und die Blockade wurde gehalten. Wo aber bleibt der
Antagonismus, wenn wir etwas unternehmen, der Staat sich daraufhin zurück
zieht und sagt: „Klar, nehmt diesen Raum, wir gehen woanders hin – ihr
gewinnt, wir gewinnen“? Hätten wir als Antwort darauf nicht zum Zaun gehen
sollen? Versuchen, physisch über den Raum hinauszugehen, den die
Gipfelinszenierung unseren Blockaden eingeräumt hat? Das hätte auf jeden
Fall eine viel deutlichere Ablehnung des Gipfels
kommuniziert.

Um das noch mal klarzustellen: den kollektiven Affekt des Sieges, welchen wir
in den Camps fühlten, und den Mut, den so viele aus den Protesten
schöpften, nehmen wir ernst. Aber wir wollen in eine Diskussion
intervenieren, die – vor allem in Deutschland – bisher ein wenig zu
selbstgefällig, selbstreferentiell und überraschend wenig radikal gewesen
ist. Linksradikale Politik ist antagonistische Politik und muss Staat,
Kapital und anderen Herrschaftsverhältnissen antagonistisch gegenüberstehen
– immerhin ist es das (wenn überhaupt irgendwas), was sie von der
liberalen Weltverbesserungspolitik der NGO’s unterscheidet. Wir nehmen den
Affekt ernst und stimmen zu: wir haben gewonnen, irgendwie. Aber wir müssen
realistisch sein und zugeben, dass die G8 auch gewonnen haben. Also haben
beide Seiten gewonnen – und damit stellt sich die Frage: wie kann das sein?
Klar, die Frage ist angesichts dessen, was wir gerade gesagt haben, vor
allem eine rhetorische, und die Antwort natürlich folgende: weil es zwischen
„uns“ und „den G8“ tatsächlich keinen klaren Antagonismus
gab.

Der Protest in Heiligendamm war ein typisches Produkt postmoderner Politik in
der das Politische verschwindet weil Dichotomien (deren Pole vorher als
einander gegenseitig ausschließend verstanden wurden) aufgelöst werden. Das
Resultat, zum Beispiel: natürlich können wir Klimawandel trotz Freihandel
und kapitalistischer Expansion lösen. Wir wollen hier zwei Antworten
vorschlagen, die erklären sollen, warum wir es nicht schafften, einen klaren
Antagonismus gegen die G8 und globale Herrschaft im Allgemeinen herzustellen.
Diese Antworten beziehen sich wieder auf die Notwendigkeit diskursiver
Interventionen und materieller
Störung.

Erstens schlagen wir vor, dass unser Versagen, einen klaren Antagonismus zu
konstruieren daran lag, dass wir auf unterschiedlichen Spielfeldern spielten.
Obwohl wir über ein Jahr daran arbeiteten, unsere eigenen thematischen
Schwerpunkte zu produzieren (Migration, Landwirtschaft, Antimilitarismus),
hat die radikale Linke in Deutschland doch fast total dabei versagt, eine
interessante politische Story zum Thema Klimawandel zu entwickeln. Die
Argumente, die man hierzulande in der radikalen Linken hört (sofern das
Thema nicht schon von vornherein als weichgespültes grünes Gedöns abgetan
wird), gehen über individualistische und liberale Appelle wie, man solle
doch weniger fliegen, kaum hinaus, und rücken nur selten Fragen von Eigentum
und kapitalistischer Akkumulation als Mechanismen, die notwendigerweise mit
der Umweltzerstörung zusammenhängen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dies
ist merkwürdig in einem Land mit einer historisch starken Umweltbewegung. Es
ist aber nicht merkwürdig im Kontext einer Umweltbewegung, die über die
letzten zwei Jahrzehnte mehr und mehr institutionalisiert und vereinnahmt
wurde, und keine radikale Perspektive zur Reorganisierung unserer
Gesellschaften auf der Basis eines nachhaltigen (und daher
antikapitalistischen) Paradigmas anbietet. Den Klimawandel beim G8 Gipfel zu
unserer obersten Priorität zu machen, hätte die Chance eröffnet, eine alte
Bewegung zu radikalisieren und unsere antikapitalistische Kritik durch eine
Umweltlinse zu
erweitern.

Vor wenigen Jahren noch, als es sich bei den Schlagzeilen-Themen der Gipfel
vor allem noch um Freihandel, Privatisierung und die „neoliberale Agenda“
handelte, hatten wir eine klasse Gegenstory. Unsere militanten Aktionen waren
in diese Gegenstory eingebettet, weshalb sie zu mehr als bloßen Fragen der
öffentlichen Ordnung, weshalb sie explizit politisch werden konnten. Sie
störten ganz direkt das diskursive Feld, das zur Legitimierung globaler
Herrschaft konstruiert wurde. Heute haben wir deren (ß explizieren) Story
keine eigene entgegenzusetzen, weshalb diese Konstruktion ungestört
vonstatten gehen kann, ganz unabhängig davon, wie effektiv unsere Blockaden
sind. Aber würden wir durch eine direkte Antwort auf die Schlagzeilen-Themen
des Gipfels nicht zur Legitimierung einer Institution beitragen, die wir ja
delegitimieren wollen? Dies ist nicht notwendigerweise der Fall. Solche
direkten Antworten tragen nur zur Legitimierung bei, wenn sie am Ende
Forderungen an die G8 stellen. Es könnten auch direkte Antworten formuliert
werden, welche die G8 als Teil des ganzen Problems darstellen. Es scheint uns
ziemlich offensichtlich, dass die diesjährige Strategie, keine Gegenstory
zu produzieren, nicht zu einer größeren Delegitimierung der G8 führte.
Bezogen auf Gipfelproteste im Allgemeinen sollten wir mehr daran arbeiten,
schon im Vorfeld den Headlinethemen des Gipfels eine knallige Story
entgegensetzen zu können, in welche wir unsere Aktionen einbetten können.
Ansonsten bleiben diese einfach nur Polizeiprobleme, Fragen der öffentlichen
Ordnung, und können es nicht schaffen, die Produktion globaler Herrschaft
als legitime Herrschaft zu
stören.

Die zweite Erklärung für den fehlenden Antagonismus bezieht sich auf unsere
Fähigkeit zur materiellen Intervention auf der Straße, denn ohne diese
bleibt jede noch so gute Gegenstory einfach nur selbstgefällige radikale
Propaganda ohne jegliche soziale Relevanz. Natürlich gab es in dieser
Beziehung zwischen einigen DemonstrantInnen und der Polizei einen gewissen
Antagonismus, wie alle von uns, die geschlagen oder verhaftet, mit Tränengas
oder Wasserwerfern angegriffen wurden, bezeugen können. Mit BlockG8 (u.A.
die IL, mehrere Attac-Ortsgruppen, antifaschistische Gruppen und viele mehr
arbeiteten hier mit) gab es auch einen klaren Versuch, ein breites Bündnis
für Massenblockaden zu schaffen. Am Ende wurde auch der kumulative Effekt
von Massen- und dezentralisierten Blockaden im Sinne des PAULA-Aufrufs
sichtbar. Aber: Niemand kann verneinen, dass wir sie nicht dort getroffen
haben, wo es wirklich wehtut. Die Blockaden, wenn auch erfolgreicher als bei
irgendeinem anderen Gipfelprotest in Europa, wurden zu einer Art medial
vermitteltem und beherrschtem Spektakel. Und diesem Spektakel konnte es nicht
gelingen, die auf der Straße materiell gewordenen globalen Machtstrukturen
herauszufordern, indem eine antagonistische Beziehung durch konfrontative
Taktiken auf der Straße wiedererschaffen worden wäre. Eine stärkere
Präsenz konfrontativer Taktiken hätte eine viel kompromisslosere Ablehnung
des Gipfels projiziert, als die Massenblockaden mit ihrem gelegentlichen
Volksfestcharakter. Aber hätten dann so viele Menschen daran teilnehmen
können? Hätten solche Taktiken zu einer Eskalation geführt, nach welcher
viele von uns geschlagen, traumatisiert, im Gefängnis gewesen wären,
anstatt jetzt zu Hause zu feiern? Wir können diese Frage nicht beantworten,
bestehen aber darauf, dass wir den Staat jedes Mal, wenn er sich
zurückzieht,weiter zurück drängen müssen, statt selbstzufrieden in dem
Raum, der gerade geöffnet wurde, zu
verharren.

1 John Kirton, G8: An Economic Forum of the Enlarged Western Alliance? The
Record from Rambouillet 1975 through Heiligendamm 2007 to Canada 2010. G8
Research Group, University of Toronto: 2007
(www.g7.utoronto.ca/scholar/kirton2007/kirton- schlosshofen-070724.pdf). Pp.
23,
27.

[http://
transform.eipcp.net/correspondence/1183042751]