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2007-09-16

Bilanzversuch zu den Aktivitäten rund um Flucht und Migration in der Anti-G8-Mobilisierung

Im Gesamtprotest breit angekommen –
in der Antirassistischen Bewegung wenig angenommen …

Im Rahmen der Anti-G8-Mobilisierung im Juni in Rostock und Heiligendamm
gab es ein vielgestaltiges Programm zu Flucht und Migration, sowohl auf
aktionistischer als auch auf inhaltlicher Ebene. Die Bandbreite reichte
von Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen bis hin zu
Vernetzungstreffen, Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen. Im
wesentlichen waren drei Ziele mit den Bemühungen verbunden, dieses
umfangreiche Programm dort stattfinden zu lassen:

Bild: Sonnenblumenhaus
Bild: Sonnenblumenhaus /

1. eine stärkere Verankerung dieser Thematik in der gesamten
Protestbewegung;

2. Ansätze transnationaler Vernetzung aufzugreifen und zu vertiefen;

3. einen Bündelungspunkt für die oftmals sehr zersplittert
erscheinenden antirassistischen Netzwerke zu schaffen.
Während zu den ersten beiden Punkten eine ziemlich erfolgreiche
Umsetzung gelungen ist, fällt die Bilanz zum dritten Punkt doch eher
kritisch aus.

Erfolgreich in der Gesamtbewegung verankert …
Von verschiedenen NGOs und attac über die aktiveren gewerkschaftlichen
und Partei-Jugendverbände bis hin zum linksradikalen Dissent-Netzwerk -
quer durch das gesamte Protestspektrum gab es in der Mobilisierung gegen
den G8-Gipfel eine überraschend große Akzeptanz bis Offenheit für das
Thema Flucht und Migration. Das lag zum einen daran, dass einzelne
Gruppen aus dem NoLager-Netzwerk und von kein mensch ist illegal den
Anspruch auf eigenständige Thematisierung sehr frühzeitig eingebracht
hatten. Bereits im Frühjahr 2006, zur ersten Aktionskonferenz in
Rostock, stand der Vorschlag für eine Extra-Demonstration zum
Migrationsthema im Raum.
Zum zweiten überzeugte die „inhaltliche Brücke“: denn die strukturellen
Hintergründe von Flucht und Migration sind oftmals in der
zerstörerischen Politik der G8 zu finden. Insofern können Flüchtlinge
und MigrantInnen diese Zustände aus direkter eigener Erfahrung
kritisieren. Zudem sind es wiederum die G8-Staaten, die ein globales
Migrationsregime hochrüsten und damit die Verantwortung tragen für die
vielen tausend Toten an den Außengrenzen.
Und schließlich dürfte entscheidenden Einfluss gehabt haben, was
einleitend im Aufruf zum 4. Juni-Aktionstag formuliert wurde:
“Bewegungen und Kämpfe von Flüchtlingen und MigrantInnen verstärken sich
überall auf der Welt. In San Diego oder Ceuta werden Grenzen
unterlaufen, in Los Angeles oder Brüssel Legalisierung eingefordert, in
Hamburg oder Bamako sich Abschiebungen widersetzt, in London oder
Woomera in Abschiebungsknästen rebelliert, in El Ejido oder Seoul gegen
Prekarisierung gekämpft. Niemand kann mehr die globale Dimension und
wachsende Bedeutung von migrantischen und Flüchtlingskämpfen
ignorieren…”.
Und dass die entsprechenden Forderungen nach globaler Bewegungsfreiheit
und gleichen Rechten breiter denn je zumindest zur Kenntnis genommen und
von großen Teilen der Protestbewegung auch mitgetragen werden, hat sich
in Rostock auf verschiedenen Ebenen niedergeschlagen: so in der
Gestaltung der Demonstrationsspitze einer der zwei Marschrouten auf der
Großdemo am 2. Juni oder im Eröffnungsbeitrag auf dem Alternativgipfel,
vor allem aber in der großartigen Beteiligung am Migrationsaktionstag am
4. Juni. Mit nahezu 10.000 TeilnehmerInnen wurde die 4.6.-Demonstration
zur zweitgrößten Manifestation der gesamten Aktionswoche! Und dieser
tolle Mobilisierungserfolg ist auch dadurch nicht zu schmälern, dass die
Demonstration im weiteren Verlauf abgebrochen werden musste, weil die
Polizei die angemeldete Route durch die Stadt kurzfristig verweigerte
und es eine erneute Eskalation an diesem Tag unbedingt zu vermeiden galt.

Transnationale Vernetzung vertieft …
Unter inhaltlicher Bezugnahme auf internationale Konferenzen und
Aktionstage im letzten Jahr sowie mit den dabei entwickelten Kontakten
wurde im Vorfeld der Anti-G8-Woche für Sonntag, den 3. Juni, zu einem
transnationalen Netzwerktreffen zu Flucht und Migration aufgerufen. Über
200 Interessierte haben letztlich an dieser Tagung teilgenommen, und die
Zusammensetzung war in der Tat transnational, zumal es durch finanzielle
Mittel des Alternativgipfels möglich war, AktivistInnen aus mehreren
afrikanischen und osteuropäischen Ländern nach Rostock einzuladen. In
den Arbeitsgruppen ging es nicht allein um Informationsaustausch sondern
auch um konkrete Kampagnen und Projekte, um vor dem Hintergrund einer
zunehmenden Externalisierungspolitik der EU-Migrationskontrolle z.B.
gegen bestimmte Rückführungsprogramme nach Afrika oder gegen die neuen
Lager in Osteuropa zu intervenieren. So wurde ein für Mitte August in
der Ukraine geplantes Noborder-Camp bekannt gemacht, das in
Transkarpatien unmittelbar an der neuen Außengrenze der EU stattfinden
soll. Und es wurden weitere Verabredungen getroffen, um der
Vorverlagerung des EU-Grenzregimes nach Nordafrika entgegenzuwirken,
u.a. bei anstehenden EU-Afrikanischen Regierungskonferenzen im Rahmen
der portugiesischen EU-Präsidentschaft.
Jedenfalls ist es über diese Arbeitsgruppen sowie weitere Diskussionen
im Rahmen des Alternativgipfels gelungen, die Anti-G8-Mobilisierung
dafür zu nutzen, die Kontakte insbesondere zu den afrikanischen
AktivistInnen auszubauen. Schon in den Wochen darauf hat sich gezeigt,
dass beispielsweise der Informationsfluss über neue
Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen in
Marokko sehr viel schneller und verbindlicher geworden ist.

… aber Antirassistische Bündelung ziemlich misslungen

Die Idee kam früh, schon Ende 2005, und sie war und blieb ambitioniert:
Im Rahmen der Mobilisierungstage gegen den G8 eine Demonstration zu
Migration auf die Beine zu stellen, die 5-stellig ausfallen soll – also
10.000 plus!
Das wäre für hiesige Verhältnisse geradezu sensationell gewesen, und
angesichts einer Anti-Ra-Szene, die sich “zwischen Vielfalt und (vor
allem) Zersplitterung” bewegt, ein enormer Bündelungserfolg, der
absehbar zu keinem anderen Anlass erreichbar sein dürfte. Wenige Wochen
vor dem G8 erschien dieser Anspruch aber als reine Illusion, denn die
gesamte Anti-G8-Vorbereitung gestaltete sich äußerst zäh, und in die
spezielle Vorbereitung zum Migrationsaktionstag hatten sich auch im
Endspurt kaum neue Gruppen eingeklinkt.
Dass die 10.000er-Demo dann dennoch nahezu gelungen ist, dass und wie
viele Leute sich am 4. Juni beteiligt haben (schon vor der großen Demo
fanden verschiedenen Kundgebungen in Rostock statt, so blockierten
morgens 2.000 Leute die lokale Ausländerbehörde, eine weitere Kundgebung
zum Gedenken an das 1992er-Pogrom fand mit 2500 TeilnehmerInnen in
Rostock-Lichtenhagen statt und an einer Aktion zu Ausbeutung
migrantischer Arbeit vor einer Lidl-Filiale nahmen weitere 300 Leute
teil) bleibt zunächst ein riesiger Erfolg. Dass auf der Demo aber über
weite Strecken keine Transparente zu sehen waren, ist eines der
Anzeichen dafür, dass aus längerfristig arbeitenden lokalen
Antira-Zusammenhängen relativ wenige beteiligt waren. Die Masse der
DemonstrantInnen kam aus den Anti-G8-Camps, aus klarer Solidarität oder
gar Überzeugung für die Forderungen nach globaler Bewegungsfreiheit und
gleichen Rechten für alle! Wie bereits oben ausgeführt, erscheint das
Thema Flucht und Migration insofern besser verankert denn je.
Demgegenüber konnte m.E. der Anspruch, mit diesem Migrationsaktionstag
eine Bündelung der verschiedensten Antira-Netzwerke zu ermöglichen, so
gut wie gar nicht umgesetzt werden. Die Karawane für die Rechte der
Flüchtlinge und MigrantInnen war in den drei Wochen vor dem G8 durch die
BRD gezogen und dann offensichtlich zu erschöpft, um am 4.6. nochmals
stärker präsent zu sein oder gar zu mobilisieren. Auch von den 2000
Beteiligten, und darunter ja vor allem migrantischen Jugendlichen, die
noch im November 2006 so eindrucksvoll in Nürnberg für das Bleiberecht
demonstriert hatten, waren in meiner Wahrnehmung nur wenige in Rostock
dabei. Und auch aus den kein mensch ist illegal-Strukturen waren, um ein
3. Beispiel aufzumachen, zahlreiche Initiativen gar nicht erst oder
maximal mit zuguckenden Einzelpersonen angereist. Dasselbe galt dann
umso mehr für migrantische Vereine oder auch das Mobilisierungspotential
der Flüchtlingsräte, die jeweils im frühen Vorfeld angesprochen worden
waren, sich aber offensichtlich ebenfalls entschlossen hatten, dass
ihnen dieser Aktionstag (geographisch und inhaltlich?) zu weit weg ist.
Davon ausgehend, dass “wir als antirassistische Bewegung” in vielen
Regionen dezentral Demonstrationen mit mehreren hundert Beteiligten
immer wieder hinkriegen und somit BRD-weit durchaus ein Gesamtpotential
von einigen tausend demonstrationswilligen Antiras existiert, konnte für
Rostock am 4.6. allenfalls ein Bruchteil mobilisiert werden.
Das heißt, dass sich selbst zu einem medienwirksamen Anlass wie dem
G8-Gipfel und der sowohl frühzeitig (1 1/2 Jahre!) wie auch breit
bekannt gemachten Mobilisierung für den Migrationsaktionstag eine
relevante bundesweite Bündelung aus den diversen Antira-Netzwerken nicht
hinkriegen lässt. Sei es, weil die Differenzen als zu groß erachtet
werden und der politische Wille in den jeweils zersplitterten Netzwerken
fehlt, sich wenigsten punktuell zusammenzuraufen; sei es, weil alleine
die lokale Arbeit im Vordergrund steht: es gibt zur Zeit offensichtlich
keine Bündelungsperspektiven!

So großartig also die gesamte Anti-G8-Mobilisierung auch war und so
unerwartet stark darin die Migrationsaktionen ausfielen, sollte dies den
anhaltend zersplitterten Zustand der bundesweiten Antira-Strukturen
nicht überdecken.
Bleibt zu hoffen, dass die insgesamt überwiegend positive Erfahrung der
„Bewegung der Bewegungen“ mit ihren großen Protestdemonstrationen sowie
den erfolgreichen Blockaden in Rostock und Heiligendamm auch auf die
verschiedenen antirassitischen Netzwerke abfärbt und dazu motiviert, die
potentielle Stärke immer wieder auch in zumindest einzelnen gemeinsamen
Mobilisierungen zu suchen.

h., kein mensch ist illegal, Hanau