von Stefan Wirner, Ressortleiter Innenpolitik der linken Wochenzeitung "Jungle World"
Wer die Anti-G-8-Szene in den vergangenen Monaten nur ein wenig beobachtet hatte, wusste längst: Die Autonomen waren von Anfang an auf Gewalt aus. Doch die meisten Linken lügen sich auch nach den Ausschreitungen von Rostock weiter in die Tasche: wieder soll an allem nur der repressive Staat schuld sein. Ein linkes Plädoyer, sich endlich der Wirklichkeit zu stellen.
Die Pressemitteilungen lasen sich, als wären sie bereits vor der Großdemonstration gegen den G8-Gipfel, die am Samstag in Rostock stattfand, geschrieben worden.
Sie waren offenbar einer blühenden Phanasie entsprungen, denn mit dem, was in Rostock geschehen war, hatten sie kaum etwas zun tun. „G8-Proteste beginnen trotz Provokationen mit erfolgreicher Demonstration von 80 000 Menschen“, schrieb etwa der „BundesprecherInnenrat der Linksjugend (solid)“, eines Verbands, der der Linkspartei nahe steht. „Bei der Abschlusskundgebung hat die Polizei durch Angriffe und gezielte Provokationen bewusst Gewalt geschürt, um die Demonstration zu diskreditieren“, hieß es weiter. Schließlich konnte man einen Satz lesen, den die Verfasser im Kopfstand aufgeschrieben haben müssen, denn anders lässt sich das kuriose Weltbild nicht mehr erklären: „Nur durch das entschlossene deeskalierende Eingreifen vieler Demonstranten konnten weitere Ausschreitungen seitens der Polizei verhindert werden.“
Ähnlich bewertet auch die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, die Ereignisse. Sie teilte am Montag mit, die Bundesregierung trage die Verantwortung für die Eskalation, und, wer hätte das gedacht: „Die größte Gewalt geht von den G8 selbst aus.“
Der Bundesvorstand der Roten Hilfe, der bekanntesten linken Gefangenenhilfsorganisation, meinte, die Polizei habe die Protestierenden in Rostock „massiv angegriffen“, „Wasserwerfer und Tränengas wurden ziellos und flächendeckend gegen die Menge eingesetzt“. Wer so vorgehe, müsse sich „nicht darüber wundern, dass die Situation eskaliert“. Die Zahl der verletzten Polizisten wird angezweifelt, sie sei gefälscht worden, um von der Zahl der verletzten Demonstranten abzulenken.
Erschreckend leichte Anreise, "ganz ohne Polizeischikanen
Ein Berichterstatter auf dem linken Internetforum „Indymedia“ musste zwar zunächst einräumen: „Nach einer erschreckend leichten Anreise, ganz ohne Polizeischikanen wie Personalien- oder Buskontrollen, kamen wir ohne Probleme am Hauptbahnhof an.“ Weiter unten aber hieß es dann zu den Straßenschlachten: „Gegen das aggressive Vorgehen der Polizei wehrten sich viele Demonstrationsteilnehmer/innen mit Wurfgeschossen (die leider recht häufig daneben gingen)“. Das Motto lautet hier: „Die Lügen von Rostock“.
All diese Erklärungen sind typisch für die Ansichten von großen Teilen des linken Spektrums. Man legt sich die Welt zurecht, wie sie einem passt. Schuld an allem seien die Provokationen der Polizei gewesen, die Autonomen hätten sich nur gegen die brutalen Übergriffe gewehrt, so der Tenor. Eine ähnlich absurde Interpretation der Wirklichkeit wurde den Zuschauern der Live-Übertragung des Spektakels auf dem Sender Phönix zuteil. Während im Hintergrund ein brennendes Auto und Steine werfende Vermummte zu sehen waren, fühlte sich der Moderator der Demonstration dazu genötigt, die Stimmung aufzuheizen, indem er der Polizei Provokationen unterstellte und sie aufforderte, sich zurückzuziehen. Er konnte sich gerade noch dazu durchringen, die Autonomen zu bitten, doch wenigstens die Feuerwehr durchzulassen. Auch für den Soziologieprofessor Walden Bello von den Philippinen, der eine Art Ikone der Bewegung ist, war der Brand auf der anderen Seite des Platzes kein Grund, in seiner Suada gegen die Globalisierung und die G8 einen Moment lang innezuhalten. Er heizte die Auseinandersetzungen mit seiner großspurigen Rede noch eigens an.
"Buntes" und "vielfältiges" Bündnis
Freilich fühlten sich die Organisatoren der Demonstration später, als das Ausmaß der Gewalt offenbar geworden war, bemüßigt, sich zu distanzieren. Doch das klang meist nach einem eingeübten Ritual, denn vor den Protesten hatte man immer wieder betont, dass es sich um ein „buntes“ und „vielfältiges“ Bündnis handele und dass man sich nicht spalten lasse. Schließlich rief man ja selbst zu „zivilem Ungehorsam“ und Blockaden auf, und bei diesen, so vielleicht die Spekulation, würde man den „schwarzen Block“ ganz gut gebrauchen können.
Um zu betonen, in welcher Tradition man sich sieht, forderte ein Redner der „Interventionistischen Linken“ auf der Abschlusskundgebung vom Podium aus die Freilassung von Christian Klar. Auch für diesen Redner war das Böse schnell ausgemacht: Gegen die ehemaligen RAF-Mitglieder habe der Staat nur „Rache“ übrig. Von der vorzeitigen Haftentlassung Brigitte Mohnhaupts im März hat er wohl nichts mitbekommen.
Vor der Demonstration war es ein offenes Geheimnis gewesen, welche Ziele die Autonomen verfolgten. Wer die Szene ein wenig beobachtet hatte, wusste, dass sie sich seit über einem Jahr auf die Schlacht in Rostock eingestimmt hatte. Es ist völlig abwegig zu glauben, die schwarz gekleideten „Aktivisten“ hätten erst von der Polizei provoziert werden müssen, um sich dann zu wehren. Wie gut, dass man zufällig Steine, Latten und Molotow-Cocktails dabei hatte, als die Staatsmacht mit ihren Provokationen ansetzte!
Internetseite brennende-autos.de
Selbstverständlich ging es den Autonomen von Anfang an darum, mit ihren Gewaltaten die Weltöffentlichkeit auf die Proteste aufmerksam zu machen. In Hamburg und Berlin hatte die Szene bereits seit Anfang des Jahres von sich reden gemacht, indem sie Dutzende Autos abfackelte. Auf der Internetseite gipfelsoli.org, einem Forum der G8-Gegner, ist auch die Seite brennende-autos.de verlinkt, auf der die Brandanschläge dokumentiert sind.
Klammheimliche Freude, Zustimmung und Augenzwinkern auf der einen Seite, Empörung über eine angebliche Repressionswelle des Staates und Provokationen der Polizei auf der anderen Seite: So legt sich die linke Szene ihr Weltbild zurecht. Wäre es nicht viel ehrlicher, offen zu bekennen: „Ja, wir haben unser Ziel erreicht! Die Gewalt bringt uns in die Medien und schafft uns Aufmerksamkeit! Wir haben der Polizei einen Denkzettel verpasst!“ Aber nach dem Exzess muss dieser propagandistisch aufgearbeitet werden, und hierfür werden die Fakten auf den Kopf gestellt. Mit ihrer Randale ruft die autonome Szene harte Maßnahmen des Staates hervor, um diese dann wieder zu beklagen. Sie erfüllt sich ihre Prophezeiung selbst.
Dass manche dieser meist jungen Leute für Argumente nicht mehr zugänglich sind und sich möglicherweise mit langen Haftstrafen ihre Zukunft verbauen, ist das eine. Dass sich die Linkspartei und andere maßgebliche Teilnehmer am Protestbündnis nicht ernsthaft damit auseinandersetzen und die Tatsachen verdrehen, ist das andere. Am Ende muss man froh sein, dass es in den chaotischen Scharmützeln nicht zu noch schwereren Verletzungen einzelner oder gar zu Todesfällen gekommen ist. Ein Märtyrer wie Carlo Giuliani in Genua würde das auf dem Kopf stehende Weltbild mancher Linker nur noch einmal bestätigen.
[http://debatte.welt.de/kommentare/24036/die+radikale+linke+erfuellt+sich+ihre+prophezeiung+selbst]