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2007-06-20

Geronimo: »Den Anspruch haben, nicht blöd zu werden«

Gespräch mit Geronimo. Über Autonome und Volxküchen, Anti-G-8-Proteste und Polizeigewalt, Militanz und Sozialdemokratie

Christof Meueler

Geronimo verfaßte eine sehr lesenswerte Trilogie zur Geschichte der Autonomen: »Feuer & Flamme« (1990), »Feuer & Flamme II« (1992) und »Glut & Asche« (1997). Geronimo lebt in Norddeutschland in unmittelbarer Nähe einer der vielbefahrensten Straßen Europas. Gemeinsam mit Tausenden Mitläufern überrannte er in Rostock auf dem unangemeldeten Weg in die Rote Zone eine Kette der bayrischen Polizei – temporär stellvertretend für Milliarden Überflüssiger auf der Welt.

Nach den Protesten gegen den G-8-Gipfel liest und hört man überall: Die Autonomen sind zurück! Ist das nur ein Schreckgespenst oder Realität?

Die Autonomen waren doch immer da: in den antirassistischen Grenzcamps, in der Antifa, auf Kongressen, in Mittenwald gegen die Gebirgsjäger. Aus den 80er Jahren verbleiben kollektive Projekte und sympathische Aktivisten. Intellektuelle, die den Anspruch haben, nicht blöd zu werden und die eigentlich auch kaum eine Karriere gemacht haben. Andererseits kann man aber sagen, die Rostocker Randalebühne ist von der bürgerlichen Presse verstanden worden.

Ich dachte, die Autonomen wären in den 90er Jahren von der Antifa abgelöst worden.

Aber nur aus der Perspektive der Sicherheitsbehörden. Leider hat sich die Antifa aus meiner Sicht nicht richtig überlegt, was sie mit dem Begriff »Autonomie« anfangen will. 2001 war ich in Göttingen auf einem Kongreß, bei dem der Plan, die Antifa bundesweit parteiähnlich zu organisieren, endgültig aufgegeben wurde. Vorher hatte man die Ansicht vertreten, die Autonomen-Bewegung der 80er Jahre wäre daran gescheitert, daß sie nicht richtig organisiert gewesen wäre. Das hat mich verblüfft. Weil man auf den Fotos aus den 80er Jahren, wo ich mich immer wieder mal mit Zehntausenden Leuten in Wackersdorf, bei der Startbahn-West oder in Westberlin verlaufen habe, nie ein Transparent findet, auf dem steht: »Ich bin organisiert«. Als man dann anfing, genau solche Transparente in die Weltöffentlichkeit zu tragen, standen nicht mehr so viele Leute drumherum. Tragischerweise haben viele Linksradikale die offenen Fragen, die nach der Implosion des realen Sozialismus auf der Tagesordnung standen, auf die Organisationsfrage verkürzt. Sie fingen an, sich feste zu organisieren, anstatt Feste zu organisieren.

Die Autonomen entstanden in Westdeutschland im Zuge der Anti-AKW-Bewegung Ende der 70er Jahre?

In dieses Handgemenge würde ich das präzise hineindatieren. Antiatombewegung norddeutscher Raum, sozusagen der militante Flügel der Bürgerbewegung, der diese Militanz auch funktional nötig hatte – übrigens bis auf den heutigen Tag in den Anticastorprotesten. Außerdem gab’s noch die Auseinandersetzung mit maoistischen Gruppierungen, von denen viele Mitglieder dann den Schritt in die sozialen Protest pazifisierende Grüne Partei gemacht haben. Einfach gesagt: Die Linksradikalen waren zu diesem Zeitpunkt in den Städten in die Krise gekommen, wußten dort nicht mehr weiter und zogen dann nach Brokdorf oder Gorleben.

Es gibt aber auch andere Lesarten: Manche plazieren die Gründung der Autonomen im Westberliner Häuserkampf Anfang der 80er Jahre.

Jedenfalls entstand eine Alternativbewegung, die sich bis heute fortzieht – in die Camps rund um Heiligendamm. Es hat immer ein autonom-alternativ hippieskes Milieu gegeben, in dem die Autonomen leben, gedeihen, auch darin verschwinden oder sich transformieren.

Also sind die Autonomen politische Camper?

Ja, im Kontext der Selbstorganisierung: nomadisch, zuweilen autark und aggressiv. Immer in der Nähe der dampfenden Volxküche, eine Art demonstrative kollektive Armutskultur, die ja überraschenderweise selten politisch gedacht wird.

Den anderen Linken hat dieses Essen einfach nicht geschmeckt?

Jeder, der hier nölt, »das Essen schmeckt mir nicht«, ist sofort mit der Frage konfrontiert, ob er denn nicht besser kochen könnte.

In den Anti-G-8-Camps gab es auf einmal viele hungrige junge Gesichter?

Manche fanden es erfrischend, einmal gegen das dunkle Imperium vorzugehen. Und zwar nicht in einem religiös-islamistischen Horizont, sondern mit einer irgendwie gearteten links-emanzipatorischen Perspektive. Ein Grund zu großer Hoffnung. Doch scharfkantig-intellektuelle Profilbildung findet ja nicht im Rahmen von Straßengefechten statt, sondern auf Kongressen, in Büchern, Zirkeln und dergleichen mehr. Ich persönlich zum Beispiel habe mich entschieden, für immer ein junger Kommunist zu sein. Da spielt das Alter nicht die geringste Rolle.

Und wie haben Sie nach der G-8-Protestwoche wieder zurück in den Alltag gefunden?

Ich gebe Ihnen eine positive Antwort: Ja, ich bin jetzt wieder dahin sortiert, wo ich im Hartz I-, II-; III- und IV-Regime hinzugehören habe.

Werner Rätz von ATTAC und der Interventionistischen Linken meinte nach der Randale in Rostock, daß es nun angebracht wäre, die globalisierungskritische Bewegung in gute und schlechte Kräfte zu sortieren.

Warum soll man bitte schön an einer Bewegung teilnehmen, wenn man nicht aus den depressiven Sortierungen des trostlosen Alltagslebens ausbrechen will? Und wenn Zigtausende Menschen kollektiv den ersten Schritt raus aus ihren Zwangssortierungen versuchen, dann sollen sie von ATTAC wieder neu sortiert werden? Das finde ich grauenhaft. Was maßen die sich eigentlich an?

Ja, wer ist eigentlich ATTAC?

ATTAC ist ein Sammelbecken der aus den staatlichen Institutionen weitgehend outgesourcten Intelligenz der untergegangenen sozialstaatlich-fordistischen Epoche. Aber diese Beschreibung ist natürlich keine Antwort auf die nun wirklich dumme Politik der aktuellen Führungsriege dieser Organisation.

Was meinen Sie damit?

Sie begreifen nicht das notwendig dialektische Verhältnis zwischen Randale oder – sagen wir es lieber sozialverträglich – Dampf im Kessel und den von ATTAC angestrebten systemimmanenten Reformen.

Können Sie das vielleicht noch etwas komplizierter ausdrücken?

Gerne: Warum wohl hat ATTAC in Rostock darauf verzichtet, ein eigenes Camp mit eigenen starken Ordnern und eigenen Sortierungen durchzuführen? Genau: Wie bei ihren Sommerakademien hätten sich in einem solchen Camp mehr Referenten mit bedeutenden akademischen Titeln als potentielle Zuhörer eingefunden. Herr Wahl von ATTAC erklärt über das sozialistische Massenblatt Tagesspiegel, Autonome bei ATTAC-Aktivitäten nicht mehr sehen zu wollen. Danach muß er in unserem Rostocker Camp an mir vorbeiradeln, weil die im Gegensatz zur vielfältig autonomen Bewegung keine eigene vergleichbare Struktur auf die Beine stellen können. Die Reformisten sollen intellektuell bitte nicht beständig unterhalb des Niveaus der tatsächlichen Gewaltverhältnisse agieren.

Der Organisator der Rostocker Demo, Monty Schädel, hat dem ZDF gegenüber kundgetan, daß ihn die Bilder des 2. Juni in Rostock an die Bilder von Rostock-Lichtenhagen im Spätsommer des Jahres 1992 erinnern würden. Wenn das stimmt, dann würde das bedeuten, daß Autonome auf dem Platz der Abschlußkundgebung im Rostocker Hafen 300 von der Abschiebung bedrohte Polizeibeamte in ein Hochhaus eingesperrt hätten, um sie dann abfackeln zu wollen. Ich habe nun wirklich einiges gesehen, aber diese dramatische Sequenz ist von mir völlig unbemerkt geblieben.

Wie bewerten Sie denn die Randale in Rostock?

Zunächst einmal Dank an die Polizei, daß sie auch diesmal darauf verzichtet hat, einen Kundgebungsteilnehmer in den Hinterkopf zu schießen. Bekanntlich hat genau das die Politische Abteilung der Westberliner Polizei vor 40 Jahren getan. Statt dessen wurde 2007 einem Wehrlosen ein Auge rausgehauen. Ansonsten waren wesentliche Teile des Polizeieinsatzes in Rostock bei der Abschlußkundgebung erkennbar gegen diese kollektive Manifestation gerichtet. Unter dem Vorwand der Strafverfolgung sollte unser Recht auf unkontrollierte Versammlung zertrampelt werden. Es hat mich froh gestimmt, das es vielfältige Formen des Unwillens, die leider im Detail nicht immer frei von Fehlern waren, gegen diese dreisten staatlichen Gewalteinsatz gegeben hat.

Die Randale war also eine Reaktion auf die Übergriffe der Polizei?

Nein, es gab auch die Lust zum ungezügelten Angriff. Das ist immer eine außerordentlich ambivalente Sache. Das überraschende Maß an Freiheit, das man damit gewinnen kann, ist mit allen Kainsmalen der herrschenden Gewaltförmigkeit verquickt: Egoismus, Brutalität, Dummheit.

Wurde die Randale vorbereitet?

Ja, seit mindestens 13 Jahren, das heißt spätestens seit dem wunderbaren Aufstand der zapatistischen Bewegung im mexikanischen Urwald 1994. Zwischenetappen waren Seattle, Prag, Göteborg, Genua und so weiter, ich will Sie nicht langweilen. Und am revolutionären 1. Mai in Kreuzberg habe ich die ganzen Jahre auch nicht nur zum Spaß teilgenommen.

Im Unterschied zum Berliner Lokaltermin am 1. Mai hatten die G-8-Proteste eine internationale Ausstrahlung.

Stimmt. Doch kein Mensch weiß, was Globalisierung eigentlich bedeutet. Also weiß auch niemand, was Antiglobalisierung ist. Da gibt es ungeheuer viele Paradoxien. Und ein Teil davon ist diese heterogene, weitgehend unreflektiert friedfertige Bewegung. Sie ist ja viel globaler mit Pidgin-Englisch, Internet und sportiven Momenten als der Durchschnitt der Bevölkerung in den Industriestaaten. Eigentlich müßten die Staatschefs die alle einladen und sagen, wenn jemand globalisiert, dann seit ihr das von der Bewegung einmal quer über die Welt. Völlig ungeklärt ist auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Globalität und Lokalität, eine absolute Blackbox. Zum Beispiel sind aus Hamburg 21 Busse zur Rostocker Demo hin- und auch wieder zurückgefahren. Ob die Leute sich in Hamburg danach wieder begegnen werden, ist völlig unklar.

Auf seiten der Polizei gab es sehr wohl so etwas wie ein lokales Bewußtsein und Gedächtnis. Im Vorfeld der G-8-Proteste wurden in Berlin sozusagen privathistorisch-polizeilich mehrere Wohnungen durchsucht, angeblich weil man nach den bislang anonym gebliebenen Autoren des Sammelbandes »Autonome in Bewegung« fahndete – auch wenn das schon 2003 erschienen ist.

Diesen Angriff auf dieses ebenso großartige wie fundamental zu kritisierende Werk der Literatur nehme ich als Hommage an meine eigene Lebensgeschichte. Trotzdem hat es auch mich überrascht, wie gering staatlicherseits das Maß an Toleranz gegenüber Leuten ist, die man doch zunächst einmal mit herablassender Geste als »mitteilungssüchtige Spinner oder Schwätzer« diffamieren könnte.

Zumal einem in der Talkshowkultur eher der Eindruck vermittelt wird, man könnte gerne über alles reden.

Da hört dann plötzlich der Spaß auf in den Sicherheitsapparaturen. Die dröhnenden Brainwashprogramme der Medienindustrie schläfern unseren Sinn für den sich ausbreitenden Totalitarismus in den westlichen Gesellschaften ein.

Gegenwärtig wird wieder die sogenannte Gewaltfrage diskutiert. Und zwar teilweise von Leuten, die alt genug sind zuzugeben, daß sie das auch schon vor 25 oder 30 Jahren getan haben. Statt dessen scheinen sie auf die Randale überhaupt nicht vorbereitet gewesen zu sein.

Es wird über Ordnungsentwürfe verhandelt, ohne daß man dies zugeben wollte. Auch eine friedliche Massenversammlung ist eine spezifische Form der Gewalt, allerdings eine, die ebenso wie die polizeiliche Gewalt legalisiert ist – im Gegensatz zum Werfen eines Steins. Die einen wollen an die Regierung und die anderen wollen überhaupt keine Regierung. Das Versagen fast aller politischen Spektren in Rostock in der Gewaltdiskussion zeigt, daß man nicht in der Lage ist, den politischen Charakter unterschiedlicher Gewaltformen zu reflektieren. Statt dessen gibt es auch von seiten der Interventionistischen Linken einen Anspruch auf Bewegungsmanagement. In ersten Reaktionen auf die Rostocker Randale hörte man aus diesen Kreisen, sie hätten die Gewalt »nicht in den Griff bekommen«, sozusagen in den Polizeigriff, wo ich mich immer frage, woher nehmen die die Legitimation? Später wurde von der Interventionistischen Linken eine sehr abstrakte Erklärung nachgeschoben, weil sie sich irgendwie nicht komplett von den freien Radikalen des »Schwarzen Blocks« abgrenzen wollen. Vielen Dank für diese sehr großzügige Geste.

Es geht noch barmherziger. Bodo Ramelow, einer der führenden Funktionäre der sich an diesem Wochenende gründenden neuen großen Linkspartei, sah im Evangelischen Kirchtentag eine Vorbildfunktion, wie friedlich und polizeifreundlich die Antiglobalisierungsbewegung sein sollte.

Daß eine Organisation die andere liebt, liegt in der Logik der Sache selbst. Aber wie Herr Ramelow den schönen Begriff der Friedlichkeit in Zusammenhang mit einer Massenorganisation stellen kann, die in Folge von Kreuzzügen und Inquisitionen einen Berg von Erschlagenen vorzuweisen hat, wird mir für immer ein Rätsel bleiben.

Sie haben für die aus PDS und WASG vereinigte Linkspartei den Begriff »neu« bemüht. Tatsächlich könnte die Reorganisation der deutschen Sozialdemokratie auf erweiterter gesamtdeutscher Stufenleiter vom Schlage eines Willy Brandt und Oskar Lafontaine einer Marketingstrategie geschuldet sein, denn im Kapitalismus muß alles immer »neu« sein, sonst ist es schwer zu verkaufen. Dagegen galten die Autonomen vor Rostock ja als hochgradig »alt« und »retro«.

Von Johannes Agnoli habe ich eine Ahnung vermittelt bekommen, was es bedeutet, daß dieses Land von Preußen bis zur heutigen BRD hochorganisiert ist. Betrachtet man nur die deutsche Geschichte, muß man sagen, da ist leider viel zu wenig durcheinandergebracht worden. Wäre es anders gewesen, wären nicht so viele Menschen ermordet oder eingeknastet worden. Dagegen ist eine herrschaftskritische, rätekommunistische, lokalistische, syndikalistische Tradition immer marginal geblieben. Aber die Sehnsucht, die theoretische Tendenz und die Elemente einer freien Praxis nicht von der Staatsmaschine vereinnahmen zu lassen und den eigenen Kopf und Körper zu gebrauchen, die ist da.

[junge Welt 16. uni 2007]