Von Reinhard Müller
04. Juni 2007
Das Bild setzt sich fest: Polizisten, die um ihr Leben laufen, die mit gebrochenen Gliedern am Boden liegen. Die schutzlosen und verletzten Beamten, die nur mit Glück überlebten, symbolisieren die Kapitulation des Rechtsstaats. Auch die Siegerpose geht um die Welt: Es ist der Vermummte, der kraftvoll zum Steinwurf ausholt, der töten könnte. Eine Gruppe wohlorganisierter, martialisch auftretender Schläger aus vielen Ländern hat es geschafft, die Planungen für das von insgesamt 16.000 Polizisten geschützte G-8-Gipfeltreffen ad absurdum zu führen.
Das lag gerade daran, dass die Polizei ein martialisches Auftreten (und damit auch Durchgreifen) vermeiden wollte und vermieden hat. Das ist nichts Neues: Jagd auf Polizisten, abgefackelte Autos und doch kaum Festnahmen - das alles kennt man aus den früheren Kreuzberger Nächten des 1. Mai, aus Hamburg, Göttingen und von anderen Krawallschauplätzen der sogenannten Autonomen.
So martialisch sein wie nötig
Den Namen hat die Szene erfolgreich durchgesetzt. Der Verfassungsschutz zählt mehr als 5000 Personen zu dieser vielschichtigen Bewegung, für die Gewalt ein Selbstzweck und vielleicht mehr ist. In einer Weise trifft der Begriff zu: Die Gruppe handelt unabhängig von jeglichen rechtlichen Bindungen. Die Frage lautet, warum man sie lässt. Bei allen Schwierigkeiten, die Gewalttäter frühzeitig zu erkennen und an der Anreise zu hindern: Wieso bestimmt ein wandernder Block von Vermummten das Geschehen, der wie eine „Schildkröte“ von römischen Legionären im Schonraum einer erlaubten Demonstration umherwandert?
Zur Abwehr solcher schwerer Gefahren, zum Schutz rechtstreuer Demonstranten muss das Auftreten der Polizei so martialisch sein wie nötig. Wenn der Preis einer „Deeskalationsstrategie“ mehrere Hundertschaften zum Teil schwerverletzter Polizisten sind, dann muss geklärt werden, ob es nicht geradezu ein Dienstvergehen war, diese Strategie anzuwenden. An den Polizisten selbst hat es nicht gelegen. Sie zeigten sich sehr beherrscht und griffen auch in Notwehrlagen nicht zum Äußersten - obwohl es keine Dienstpflicht gibt, sich aus Deeskalationsgründen totschlagen zu lassen.
Versuchter gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht
Die Niederlage des Rechtsstaats zeigt sich nicht nur in der Zahl der verletzten Beamten, sondern auch in der geringen Anzahl dingfest gemachter Gewalttäter. Auch das lag wohl daran, dass zu wenige Beamte bereitstanden, um den Block zu sprengen und die Gewalttäter festzusetzen - und dass sie weder den Auftrag noch die Mittel hatten, das zu tun. Mit der Schwere der in Rostock begangenen Straftaten kann das mangelhafte Einschreiten nichts zu tun haben: Die vermummten, aber fotografierten Steinewerfer haben sich - auch wenn sie zufälligerweise niemanden getroffen haben sollten - wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht.
Das Strafmaß hierfür lautet sechs Monate bis zehn Jahre Haft. Man darf auf den Ausgang der Verfahren gespannt sein. Sollte die geringe Zahl von beantragten Haftbefehlen dafür sprechen, dass keine Fluchtgefahr angenommen wurde, etwa weil die Verdächtigen in ordentlichen Verhältnissen leben?
Protest muss nicht sinnvoll sein
Einfach ist das Festsetzen von Gewalttätern aus einer großen Gruppe friedlicher Demonstranten gewiss nicht. Schon bei den Protesten in Wackersdorf und anderswo vor mehr als 20 Jahren war von einer „wandernden Bürgerkriegsarmee“ und von „verheizten“ Polizisten die Rede, die nur durch den Abwurf von Reizstoff aus Hubschraubern gerettet werden konnten; auch damals gab es kaum Festnahmen. Andererseits kann niemand behaupten, dass man in Rostock nicht mit solchen gewalttätigen Ausschreitungen rechnen konnte. Das gilt auch für die Veranstalter.
Denn ist die Grenze zwischen dem - wie es nun schon routinemäßig heißt - „legitimen Protest“ und purer Gewalt nicht einfach zu ziehen. Richtig ist: Der Anti-G-8-Protest ist aus gutem Grund vielfältig, er kann gar nicht widerspruchsfrei sein; er muss auch nicht sinnvoll sein, um vom Staat geschützt zu werden. Die Demonstranten müssen gesehen werden, ein Forum bekommen. Das geschieht, und es ist für die friedlichen G-8-Kritiker, ja für den Rechtsstaat verheerend, dass die Ausübung von Grundrechten von Gewalt überschattet und zum Teil verhindert wird.
Gewalttätern energisch entgegentreten
Doch manche Protestgruppe muss sich fragen lassen, wie groß ihr Anteil an den Krawallen ist. Allzu oft war vor dem G-8-Gipfel von geplanten Regelverstößen und Blockaden die Rede. Wenn nun ein Attac-Sprecher, an die „Autonomen“ gewandt, sagt: „Wir wollen euch nicht mehr sehen“, dann scheint das eine neue Wendung zu sein. Bisher gehörte man offenbar irgendwie zusammen. Das hat nichts mit einer „Kriminalisierung“ des Anti-G-8-Protests zu tun. Dieser Vorwurf war wegen der Durchsuchungen und Geruchsproben erhoben worden. Er war angesichts der zahlreichen vorangegangenen Anschläge schon damals Unsinn. Die Straßenschlacht von Rostock wirkt wie eine späte Bestätigung der Razzien und des (grenzüberschreitenden?) Terrorismusverdachts, sie widerlegt die Behauptung der Eskalation durch die Polizei.
Falsch wäre es freilich, nun mit Forderungen nach generell härterem Durchgreifen zu reagieren. Denn solche Reflexe wollen die Vermummten hervorrufen - falls sie weitergehende Ziele haben als die Gewaltausübung selbst. Aber über Taktik und Ausrüstung darf nach einem solchen Fiasko schon geredet werden. Auch in nächsten Tagen muss die Polizei dafür sorgen, dass jeder friedlich demonstrieren kann - und zugleich den Gewalttätern energisch entgegentreten. Ihnen muss ebenso wie den rechtstreuen Bürgern klargemacht werden, dass die Rostocker Krawalle sich nicht wiederholen werden. Nur dann hätten sich die Opfer der Polizei doch noch gelohnt - und das Bild der am Boden liegenden Staatsmacht erwiese sich als falsch.
Text: F.A.Z., 05.06.2007, Nr. 128 / Seite 1