15.06.2007 — Portside / ZNet
Berlin. Ostsee-Urlauber haben sie schon immer zu schätzen gewusst – die kleine schmale Bahnstrecke, liebevoll “Mollie” genannt. Während des G8-Gipfels der Präsidenten und Ministerpräsidenten blieb das Gelände der Bäderbahn allerdings streng für jene reserviert, die direkt etwas mit der Konferenz in dem aufgemotzten Strandhotel zu tun hatten. Für alle anderen war Mollie Tabuzone – so war es zumindest geplant.
Am 5. Juni trotzte eine große Gruppe Demonstranten dem Verbot. Globalisierungsgegner, Leute, die vor der Erwärmung der Erdatmosphäre warnen und Leute, die die Armen der Welt gegen die Führer der reichen Staaten unterstützen wollen, umgingen den Polizeikordon und liefen über die Roggenfelder. Ziel war es, die Gleise der Mollie so lange wie möglich zu blockieren. Auch umliegende Straßen wurden von Demonstranten blockiert. Diese Blockierer und die Mollie-Blockierer fühlten sich der friedlichem, gewaltlosen Aktion verpflichtet – die meisten jedenfalls.
Schon seit Monaten hatte der überwiegende Teil der deutschen Medien die Terrorismus-Keule geschwungen – vor allem in den letzten vier bis fünf Wochen. Sie warnten vor gewalttätigen Jugendlichen aus dem europäischen Ausland, die auf Randale aus seien und erläuterten, warum diese gestoppt werden müssten. Häuser wurden durchsucht, Computer und anderes Equipment konfisziert, Leute verhaftet. Ständig gab es neue Regelungen, wo und in welcher Form demonstriert werden dürfe oder auch nicht – eine endlose Serie an immer neuen Regeln. Vor allem die Umgebung der Bannmeilen um den Konferenzort, eingefasst durch einen hohen Zaun (mit Stacheldraht an der Spitze und ausgerüstet mit den neuesten elektronischen Alarmsystemen), war umstritten. Bis zum letzten Augenblick – und sogar noch danach – gab es immer wieder neue Regelungen. Dies führte zu einer enormen Verwirrung in den Medien, die an Hysterie grenzte. Es führte auch dazu, dass weniger Demonstranten kamen, als erwartet. Aber die 80 000 Demonstranten, die im Endeffekt kamen, waren überwiegend resolut entschlossen, kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht provozieren zu lassen.
In der Menge, die entschlossen war, die Mollie zu blockieren, befanden sich auch mehrere Mitglieder des so genannten “Schwarzen Blocks” – Demonstranten in schwarzen Klamotten mit Kapuzen, die sich nicht der Taktik der Gewaltlosigkeit verpflichtet fühlten. Schon am ersten Tag der Antigipfel-Proteste (Samstag) hatten sie sich mit der Polizei harte Auseinandersetzungen geliefert. Wie zu erwarten, sorgten die Zusammenstöße für Riesenschlagzeilen. In den meisten Medien erschienen einseitige, übertriebene Berichte. Aber hier, an der Mollie, schien alles friedlich. Die Gruppe, die über die Felder gekommen war, vermied absolut alles, was der Polizei Gelegenheit geboten hätte, ihre Wasserwerfer und Schlagstöcke erneut einzusetzen bzw. ihre großen neuen Arrestkäfige. Die Gruppe des ‘Schwarzen Blocks’ bestand aus vier Personen. Seltsam – einer der Vier in Schwarz, offensichtlich ihr Anführer, trug eine Jacke mit dem roten Logo der bei Globalisierungsgegnern so beliebten Musikgruppe Slip-Knot. Das Ungewöhnliche daran war, dass alle übrigen Demonstranten es tunlichst vermieden, ein Detail (zum Beispiel ein Logo) an sich zu tragen, das sie auf Polizeiaufzeichnungen leichter identifizierbar gemacht hätte. Als schließlich die Polizei anrückte und in der Nähe in einer Reihe Aufstellung nahm (bereit, die Blockade zu beenden), waren die Vier die Ersten, die Steine aus dem Gleisbett holten und diese mit dem Ruf “Kriegen wir die Bullen!” in Richtung der Polizei schleuderten. Ein Demonstrant schaute sich den jungen Mann mit dem Logo etwas genauer an (bevor dieser Gelegenheit hatte, sein Halstuch übers Gesicht zu ziehen).
“Das ist der Kerl, der mich letztes Jahr in Bremen verhaftet hat!” rief der Demonstrant. Er und seine Freunde stürzten sich auf die Vier. Zwei schafften es auf die Polizeiseite, auch der Dritte konnte irgendwie entwischen, aber den jungen Mann mit dem roten Logo – wahrscheinlich war es der Anführer -, packten sie. Ich gebe zu, sie haben ihn nicht gerade sanft angefasst. Aber einer der Organisatoren aus der Gruppe nahm sich seiner an und schützte ihn vor der Menge. Er zog ihn hinüber zu den Reihen der Polizei – und in Sicherheit.
Nach dieser Episode war es vorbei mit dem Steine werfen. Dennoch setzte die Polizei ihre Wasserwerfer ein – mit oder ohne Rechtfertigungsgrund.
Dieser Vorfall blieb nicht das einzige Indiz, dass die Polizei Provokateure einsetzte, auch wenn es der eindeutigste und dramatischste Vorfall dieser Art war. Mit den Tatsachen konfrontiert, gaben die Behörden zu, dass sie Personen in schwarzer Kleidung (“ladenneue Klamotten”, so die Demonstranten) zum Einsatz gebracht hatten. Die Behörden bleiben indes bei ihrer hartnäckigen Behauptung, diese Leute nur zu Observierungszwecken eingesetzt zu haben, nicht um zu provozieren oder an Provokationen teilzunehmen. Die Fakten sprechen dagegen.
Es gab andere Episoden – gewalttätigere – zum Beispiel, als Mitglieder der Gruppe Greenpeace versuchten, sich in kleinen Schlauchbooten dem Gipfel-Strand zu nähern. Auf diese aufsehenerregende Art wollten sie auf ihre Forderungen zum Thema Umweltverschmutzung aufmerksam machen. Schnellboote der deutschen Polizei gingen dazwischen und stoppten die Greenpeace-Boote. Eine Szene schaffte es sogar bis ins Fernsehen. Sie zeigt, wie ein Polizeiboot scharf beidreht und eines der Greenpeace-Boote geradewegs überfährt. Das Schlauchboot überschlägt sich, die beiden Männer an Bord werden verletzt. Sie hätten ohne weiteres ertrinken können.
Es gab noch andere erschreckende Bilder, zum Beispiel die Fotos von den großen Freikäfigen (die an Guantanamo erinnern), in denen Hunderte Verhaftete vorübergehend “zwischengelagert” wurden. Am Ende wurden nur gegen sehr wenige Demonstranten irgendwelche Anklagen erhoben. Zu mehr hatte es nicht gereicht. Auch die Zahl der angeblich verletzten Polizisten wurde massiv nach unten korrigiert – nachdem zunächst von Hunderten Verletzten berichtet worden war. Dennoch hatten die Medien und die Politik eine Grundlage für neuen Forderungen gefunden: Jede® im Land – zuerst und vor allem die nichtdeutschen Mitbürger – sollen fotografiert, mit ihren Fingerabdrücken erfasst, kontrolliert und verdokumentiert werden.
Die eigentlichen G8-Gipfel-Teilnehmer – Präsidenten und Ministerpräsidenten – haben kaum etwas erzielt. Beim Thema Umweltverschmutzung konnte man sich auf keine verbindlichen Fristen einigen und beim Kampf gegen Aids auf keine definitive Summe. Das einzig Greifbare waren Fotos mit den lächelnden Gipfel-Teilnehmern – Angela Merkel, George Bush, Putin, Blair, Abe, Sarkozy (der Neue) und den anderen.
Dennoch wurde in Heiligendamm etwas erreicht: Eine große Anzahl Organisationen war vor Ort und hat sich der Politik der reichsten und mächtigsten Regierungen (zu denen auch die deutsche Regierung Merkel zählt) in gemeinsamen Aktionen entgegengestellt. Die Bandbreite der Organisationen reichte von zahmen/regeren Grasswurzelgruppen der Grünen bis zum Block der Militanten ‘Make Capitalism History’ (die meist in Schwarz gekleidet waren). Sie campierten und demonstrierten gemeinsam, es wurde viel gemeinsam gesungen (manchmal begleitet von bekannten Musikern), und es gab den so genannten “Alternativgipfel”, mit zahlreichen Diskussionen und Meetings. Ziel war es, die Politik von unten und die Methoden des Widerstands voranzubringen. Einer der Diskussionspunkte war: Bis zu welchem Punkt sind Aktionen tolerierbar – auch solche, die unfriedlich sind? Einige verwiesen darauf, dass Bush und Blair Kriegsverbrechen begangen hätten. Im Vergleich zu deren grausamen Verbrechen seien ein paar geworfene Pflastersteine reiner Kinderquatsch. Es kam zu keiner abschließenden Einigung, aber die einzelnen, verstreuten Bewegungen haben sich einander angenähert. Ein größeres Potential als gewöhnlich schien erkennbar.
Noch zwei interessante Randbemerkungen: Walden Bello, Soziologieprofessor an der University of the Philippines, sprach auf der Auftaktsgrundgebung. Er warnte: Bei früheren Demonstrationen sei das Thema Krieg im Irak und die Gefahr eines möglichen Angriffs auf den Iran zu kurz gekommen oder ignoriert worden. Die Übersetzung war nicht sehr gut. Die Worte des Professors lauteten in etwa: “Wir müssen den Krieg mitten in dieses Meeting hineintragen”. Eigentlich war allen klar, was gemeint war: Bello schlug eine Debatte über den Irakkrieg vor, seine Worte waren nicht als Aufruf zur Gewalt in Heiligendamm zu verstehen. Dennoch drehte ihm eine Nachrichtenagentur das Wort im Mund um – zweifellos in böswilliger Absicht – und die Medien trompeteten Bellos angeblichen “Aufruf zur Gewalt” in alle Welt hinaus. Fast sofort erfolgte die Klarstellung vonseiten der Demo-Organisatoren. Sie korrigierten die fehlerhafte Übersetzung und wandten sich gegen die üblen Unterstellungen. Dies wurde jedoch tagelang ignoriert. Erst etliche Tage später fanden sich die Klarstellungen – wenn überhaupt – auf den Hinterseiten der Zeitungen.
Zweite Randbemerkung: Deutschland Linksparteien – PDS und WASG – zeigten auf beiden Demonstrationen und bei den Diskussionen auf dem ‘Alternativgipfel’ starke Präsenz. Früher hatte die PDS bei ähnlichen Bewegungen nicht immer eine wichtige Rolle gespielt. Doch diesmal waren mehrere PDS-Bundestagsabgeordnete und viele Parteimitglieder/innen eng involviert; die Parteiführung machte ihre Position in verschiedenen TV-Talkshows deutlich. Dieses intensivierte Aktionslevel ist ein gutes Omen für die neue Partei, die am Wochenende als ‘Die Linke’ aus der Taufe gehoben wird. Die PDS, die vor allem in Ostdeutschland verankert ist und die überwiegend westdeutsche WASG werden sich zu einer Partei vereinigen. Derweil hängen die Karrierepolitiker der SPD in einer Koalitionsregierung mit Merkels CDU fest, verzweifelt bemüht, Boden wett zu machen. Sie wollen beweisen, dass auch sie – allem Anschein zum Trotz – aufseiten der Arbeitnehmerrechte sind. Es könnte demnach ein heißer Sommer werden.
Orginalartikel: The G-8 Summit and the Provocateurs, or Coming through the Rye
Übersetzt von: Andrea Noll
[http://zmag.de/artikel/Sie-kamen-durch-den-Roggen-Der-G8-Gipfel-und-die-Provokateure]
Source: Znet