ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 518 / 22.6.2007
Die Verknüpfung zwischen Event und Alltag bleibt eine offene Frage
Die Staatschefs sind abgereist, Mecklenburg-Vorpommern ist wieder ein Bundesland im Osten mit schrumpfenden Städten und hoher Erwerbslosenquote. Der Gipfel war ein großer, symbolischer Medienstunt, bei dem erwartungsgemäß nichts Substanzielles herausgekommen ist. Inhalte standen selten im Vordergrund. Der Gegengipfel wurde, obwohl er nicht nur im Saale stattfand, kaum wahrgenommen. Während der Staat die Gelegenheit genutzt, die Grenzen im Inneren erneut zu verschieben, steht die Linke vor der Frage nach der sozialen Grundlage, auf der Vernetzungen und Proteste auch weiterhin wirksam sein können.
Die Proteste gegen den G8-Gipfel erscheinen kurz danach als großes Puzzle. Die Eindrücke sind widersprüchlich. Leute, die am selben Ort waren, erzählen nicht dieselben Geschichten. Kann man das Puzzle zusammensetzen? In Norddeutschland haben die Proteste anders und früher angefangen als erwartet: Die Hausdurchsuchungen, die am 9. Mai in Hamburg, Bremen und Berlin stattfanden, waren der Beginn polizeilicher Provokationen. Schnell wurde klar, dass es um “präventive” Durchsuchungen ging, um eine Art handgreifliche Sammlung von Daten. Fast 3000 Menschen demonstrierten dagegen.
Dass die “Terrorgefahr” als Argument für die massive Einschränkung demokratischer Rechte dient, ist nichts Neues. Aber selten wurde es in der Bundesrepublik so offen verhandelt. In Hamburg ging es mit einer Demo weiter, die auf die weltweite Privatisierung und Ökonomisierung der Bildungssysteme hinweisen wollte. Vor der Demo lief ein “schwarzer Block”, der aus Hunderten von PolizistInnen bestand. Insgesamt überstieg deren Zahl die der DemonstrantInnen um ein Mehrfaches. Trotz des heftigen Drucks kam es nicht zu Auseinandersetzungen. Die kamen dann aber – wie bestellt – im Anschluss an die Proteste gegen den EU/Asien-Gipfel in Hamburg und während der Auftaktkundgebung in Rostock am 2. Juni. Im Anschluss kippte die “freundliche” und teilweise sogar anti-repressive Berichterstattung der Presse in eine Hetze gegen “die Autonomen” um. Es war zu befürchten, dass die Polizei dies als Blankoscheck für Repressionen nutzen würde. Dass trotzdem Zehntausende blieben oder anreisten, um sich an den Blockaden zu beteiligen, war vielleicht das schönste Teilstück des gesamten Puzzles.
Die Proteste gegen G8 sind ein großes Puzzle
Dennoch kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass die Proteste weit entfernt von unserem Alltag geblieben sind. Die Camps waren durchweg wunderbar organisiert. Teils funktionierte trotz der vielen Sprachen, die dort gesprochen wurden, sogar so etwas wie eine Camp-Demokratie. Aber es war bestenfalls eine Gegenwelt für eine kurze Zeit. Dass die Proteste vielfältig waren, ist insgesamt eine ihrer Qualitäten gewesen. Gleichzeitig hat insbesondere die Demo in Rostock gezeigt, dass Vielfalt nicht unbedingt eine Stärke ist. Es gab so gut wie kein gemeinsames Verhalten, weder in Bezug auf die Angriffe durch die gewaltbereiten Einheiten der Polizei noch gegenüber eines ungezielten und mitunter fast militaristischen Auftretens von GenossInnen.
Die anschließende Debatte über Gewalt, die von einem Teil der VeranstalterInnen der Demonstration ausging, war und ist mehr als hilflos: Was “die Autonomen” sind, kann dort im Grunde niemand genau sagen. Dass die TeilnehmerInnen der Demonstration sozial und altersmäßig im Schnitt um Lichtjahre von einigen der Funktionäre entfernt sind, die sich danach “im Namen der Bewegung” äußerten, vergrößert das Problem. Wie sich die Kritik an einer angeblich bestimmbaren Gruppe von Leuten mit der Tatsache verbindet, dass die Auseinandersetzungen im Kontext einer repressiven Politik des Staates stattfinden, kann niemand so richtig erklären. Teilweise gilt hier der Einfachheit halber das Prinzip der Sippenhaft. Wenn das Ziel linker Politik ist, eine stärkere Verbindlichkeit und größere soziale und politische Handlungsfähigkeit bei derartigen öffentlichen Aktionen zu erreichen, dann sind Thesen kontraproduktiv, die das Thema “Gewalt” auf ein Problem der individuellen Disposition einzelner Demo-TeilnehmerInnen reduzieren.
Gipfelstürmer und Streikende wissen wenig voneinander
Denn in Wirklichkeit handelt es sich um ein Problem der gesamten Linken. Aus der Vielfalt, die sich in Hamburg, Rostock und Heiligendamm gezeigt hat, ergeben sich nicht automatisch Konsequenzen für eine Alltagsorganisierung. In Rostock hat sich die Vielfalt unserer Bewegung als Auseinanderfallen und Desorganisation gezeigt, während der Blockaden erschien die “Diffusion” als günstige widerständige Form. In beiden Fällen darf bezweifelt werden, dass die TeilnehmerInnen gemeinsame Ziele verbinden, die über das “Gipfelstürmen” hinaus wirksam werden. Dass die Organisierung rund um G8 sehr viele Kräfte verschluckt hat, spricht auch im Nachhinein nicht unbedingt gegen die Kampagne. Aber es spricht dafür, darüber nachzudenken, wie sie mit anderen sozialen Kämpfen verbunden war.
Zur selben Zeit wie der Gipfel lief zum Beispiel der Streik bei der Telekom. Verbindungen zwischen “Gipfelstürmern” und Streikenden wurden bestenfalls am Rande der Rostocker Demo ausgedrückt. Vor Ort tendieren die Kenntnisse voneinander meist gegen Null. Netzwerke, die im Anschluss an die No-Global-Bewegung entstehen, können auf Dauer nur existieren, wenn sie sozial fundiert sind: Leute, die sich gegenseitig auch im Alltag helfen, über andere Formen des Zusammenlebens nachdenken, sich bei Ämtergängen und beim Protest gegen die Arbeitsagenturen helfen, Leute, die sich um eine Unterstützung für Flüchtlinge, für ein bedrohtes soziales Zentrum oder Wohnprojekt oder um die Streikenden eines in der Nachbarschaft gelegenen Betriebs kümmern. Was sich in Sozialforen und Gipfelprotesten äußern kann, kommt ohne solche Grundlagen nicht aus. Je weniger sie vorhanden sind, desto abstrakter werden die Debatten. Je mehr sie in Zukunft geschaffen werden, desto eher werden die erfolgreichen Blockaden in Erinnerung bleiben.
Peter Birke