Die Debatten auf dem "Internationalen no-border-Grenzcamp" waren auf der Suche nach dem neuen Typus politischer Arbeit - aber vor allem Ausdruck von unvereinbaren Positionen
Der Grenzübergang zwischen der deutschen Kleinstadt Kehl und dem französischen Strasbourg ist denkbar unspektakulär. Die ehemalige Zollstation stellt nur noch eine technische Verkehrsbehinderung dar, die nichts symbolisiert, außer vielleicht den Prozess der europäischen Einheit. Auf den ersten Blick ein denkbar ungeeigneter Ort für ein Grenzcamp. In einem Vorort von Strasbourg aber befindet sich das Schengen Informations-System (SIS), eine Datenbank, die den Schengen-Staaten ermöglichen soll, Migrationsbewegungen besser zu kontrollieren. Mit ihm soll die Öffnung der Binnengrenzen kompensiert werden. Laut dem deutschen Innenministerium hat der Bundesgrenzschutz allein dank SIS-Angaben bisher 12.050 Migranten an den Grenzen abgewiesen.
Das SIS ist auch der Grund, weshalb das Internationale no-border-Grenzcamp dieses Jahr in Strasbourg stattfand.
Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Europa, vor allem jedoch aus Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien hatten für zehn Tage bis zum 28. Juli ihre Zelte am Rheinufer aufgeschlagen, um vielfältige Aktionen und Veranstaltungen gegen Grenzen und für die freie Mobilität von Menschen durchzuführen. Idee der Organisatoren, die selbst in verschiedenen europäischen Ländern arbeiten, war es, in Strasbourg zu einer Internationalisierung der Grenzcampbewegung beizutragen, Aktivisten miteinander ins Gespräch zu bringen und so internationale Vernetzungen voranzubringen.
"Das Camp ist vor allem ein soziales Laboratorium", meinte Matthias, ein Aktivist aus Freiburg. Tatsächlich war das Zelt-Event ein soziales und politisches Experiment, bei dem 2.000 Menschen aus unterschiedlichen politischen Spektren zusammenkamen, um in drei verschiedenen Sprachen (Englisch, Französisch, Deutsch) über die Themen Migration und Rassismus zu diskutieren. Mit vielfältigen Aktionsformen wie Demonstrationen mit Sambamusik, dem symbolischen "Anzapfen" des SIS-Computers und öffentlichen Filmvorführungen wurde die Kritik an der "Festung Europa" auf die Straße getragen. Die Bürger Strasbourgs zeigten sich für die phantasievollen Aktionen unerwartet aufgeschlossen. Immer wieder protestierten Passanten gegen das rüde Vorgehen der Polizei, ein Tourist wurde gar verhaftet und selten hat man in Deutschland eine Frau im Chanel-Kostüm gesehen, die auf Polizisten spuckt.
So gut wie mit der Außendarstellung klappte es nach innen nicht. Auf den überall auf dem Campgelände stattfindenden Versammlungen ging es zunächst sehr diffus und unverbindlich um Themen wie Demonstrationsorganisation oder Zeitpläne. Die Debatte um den Umgang mit der bürgerlichen Presse war ein Dauerbrenner: schlechte Erfahrungen mit reaktionärer Berichterstattung sowie ein bewusster Verzicht auf gute Medienwirkung führten zu einem weitgehenden Ausschluss von Fernsehkameras und Mikrofonen. Selbst Mitarbeiter linker Radioprojekte mussten ihre Arbeit rechtfertigen. Das Experiment wurde spätestens am Mittwoch bei einer Demonstration auf eine harte Probe gestellt als Sondereinheiten der französischen Polizei die Demonstration in der Innenstadt mit Tränengas und Gummigeschossen auflösten.
Von der Präfektur wurde im Anschluss an die Demonstration ein totales Kundgebungsverbot verhängt - es wurde mangels Ansprechpartner auf der Seite der Aktivisten an einen Baum genagelt. Durch das Verbot, etwa 20 Festnahmen und mehrere Verletzte erschien es notwendig, nun doch gemeinsam über die Frage der Medienarbeit und ein gemeinsames Auftreten zu entscheiden. Auf der einberufenen Vollversammlung drehten sich die Diskussionen allerdings wieder nicht um gemeinsame politische Inhalte, sondern um die Angst vor einer Stürmung der Zeltstadt durch die Polizei, die in einem Hotel direkt neben dem Parc du Rhin, in dem die Zelte standen, untergebracht war. Die Angst um die Sicherheit der Kinder sowie vor den Konsequenzen für diejenigen Campteilnehmer, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, standen gegen den unbedingten Willen mancher, sich auf keinen Fall der Staatsmacht zu beugen. Was einer Bewegung in einem solchen Moment besser nicht passiert, geschah: die Versammlung zerfiel in mehrere Fraktionen.
Die Einen forderten Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit und Organisation, während die Anderen darin nur abzulehnende Formen von Autorität und Vereinheitlichung sahen. Eine dritte Gruppe wiederum glaubte, die Dezentralität der Aktionen sei Ausdruck eines neuen Typus der politischen Arbeit, der mit dem Begriff der "freundschaftlichen Verbindung" zu fassen sei. Der Begriff wurde im Zusammenhang der Debatte um Empire, dem vielbeachteten Buch von Toni Negri und Michael Hardt, geprägt und soll Formen der politischen Kooperation beschreiben, die wie Netzwerke funktionieren, also eher dezentral organisiert sind und keine hierarchischen Strukturen kennen.
Versammlungen waren schon von weitem sichtbar. Wenn 50 Leute die Arme heben und dabei mit den Händen wedeln ist das eben kaum zu übersehen. Die Pink and Silver- Bewegung hatte ein System von Gesten eingeführt, das es den Aktivisten ermöglichen sollte, auch in großen Versammlungen zu kommunizieren, ohne lange Redelisten zu führen. So konnte man sein Veto einlegen, Zustimmung signalisieren, aber auch den Daumen nach unten zeigen oder mit zwei rechtwinkling aneinander gelegten Händen einen "technical point" anmelden.
So oder so war festzustellen, dass viele der auf dem Gelände vertretenen politischen Ansätze sich einfach widersprachen. Das musste auch die Migrantenorganisation Mouvement des Immigrants et des Banlieues (MIB), eine der Strasbourger Aktivistengruppen, feststellen, die versuchte, die Aktivitäten auf dem Camp mit den lokalen Kämpfen in Verbindung zu bringen. Dabei hatte es diese Gruppe nicht leicht: obwohl es sich doch um ein antirassistisches Grenzcamp handelte, äußerte eine Mitarbeiterin von MIB ihre Bedenken angesichts mancher Stereotypen auf Seiten einiger Politaktivisten. Als ein Mitglied des Mouvement eines der camp-eigenen Fahrräder für eine Fahrt zu einem der Küchenzelte nutzen wollte, hinderten drei deutsche Camper den jungen Migranten an dem vermeintlichen Diebstahl, indem sie ihn festhielten. Ausländisch Aussehende, die das Camp aufsuchten, wurden regelmäßig zum Stand der Migrantenorganisation geschickt. Nourdine von MIB Paris bemerkte, es sei schon seltsam, dass sie "für das Konsulat aller Migranten auf dem Camp" gehalten würden.
Die MIB zog während der Aktionstage mit einer Karawane durch die Außenviertel von Strasbourg, um mit MigrantInnen vor Ort über doppelte Bestrafung (Haft und anschließende Abschiebung) und Todesschüsse gegen migrantische Delinquenten zu diskutieren. Auf einer abendlichen Veranstaltung im großen Versammlungszelt berichteten Angehörige wie Sahal, dessen Sohn im Gefängnis umgekommen ist, über die Kampagne der MIB gegen "koloniale Justiz". Seit einigen Jahren werden in Frankreich immer häufiger junge Migranten, die zu kurzen Haftstrafen verurteilt wurden, wenige Tage vor der Entlassung tot in ihren Zellen aufgefunden. Die Behörden behaupten regelmäßig, es handele sich um Selbstmord.
Dieser sehr konkreten politischen Arbeit und der klaren Forderung nach gleichen Rechten wurde von Nicht-Migranten zum Teil mit Unverständnis begegnet. Die Forderung nach Rechten, so argumentierte ein Redner, sei gleichbedeutend mit einem Mehr an Staat und gegen den müsse man doch eigentlich kämpfen. Statt sich zu verbünden, zeichnete sich eine Konfliktlinie zwischen zwei Gruppen ab: Denjenigen mit einer eher theoretischen anti-staatlichen Haltung, wie sie sich auch in dem sehr allgemeinen Ruf nach "no border, no nation" manifestiert, und den MigrantInnen, die gegen konkreten institutionalisierten Rassismus kämpfen. Der Erfolg solcher Veranstaltungen wird daran zu messen sein, wie sehr es gelingt, Verbindungen herzustellen, die sich eher in praktischer Kooperation artikulieren als in abstrakten Parolen.
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