Von Kai Biermann
Verteidigungsminister Jung wusste nichts von einigen Tornadoflügen über Heiligendamm. Parlamentarier fragen nun, ob die zivile Kontrolle der Bundeswehr noch funktioniert.
Amtshilfe, so sieht es das Grundgesetz vor, darf die Bundeswehr im Inneren nur dann leisten, wenn sie etwas kann, was die Polizei nicht kann, oder wenn diese überfordert ist. Legt man das streng aus, hatte der Einsatz von Bundeswehrtechnik und Soldaten beim G8-Gipfel in Heiligendamm nichts mit Amtshilfe zu tun. Das sieht jedenfalls die Mehrheit des Verteidigungsausschusses so, der sich am Mittwoch mit dem Einsatz befasste. Zumindest bei einigen der eingesetzten „Fähigkeiten“ der Bundeswehr würden sich „äußerst kritische Fragen stellen“, sagte der SPD-Abgeordnete Rainer Arnold.
Die Fragen werden seit Wochen gestellt. Daher hatte der Ausschuss Vertreter des Verteidigungsministeriums geladen, um plausibel zu machen, warum Bundeswehr-Tornados und Panzerspähwagen eingesetzt wurden, um Demonstranten zu beobachten.
Es geht vor allem um drei Punkte. Erstens um die Überwachungsflüge von Tornados eines Geschwaders aus Jagel in Schleswig-Holstein. Zwei solcher Einsätze mit je zwei Tornados hatte die für die Organisation des Gipfels zuständige Polizeieinheit „Kavala“ beim Verteidigungsministerium beantragt und genehmigt bekommen. Insgesamt sieben jedoch wurden geflogen – ohne Wissen des Ministeriums, wie ein Beamter vor dem Ausschuss einräumte. Der Leiter der „Kavala“, Knut Abramowski, habe sich mit dem Geschwaderführer „auf dem kurzen Dienstweg“ verständigt, dass weitere Flüge nötig seien, da aufgrund des schlechten Wetters die Bildqualität nicht ausgereicht habe.
Jung selbst, so wird gemutmaßt, habe diese Eigenmächtigkeit erst möglich gemacht. Immerhin stand in seiner Genehmigung der beiden Flüge: „Das Nähere regeln die Behörden untereinander.“
Das taten die offenbar ausgiebig. Die Polizei ließ die Bundeswehr nicht nur Bodenveränderungen fotografieren, wie im ursprünglichen Auftrag vereinbart und wie das Ministerium bisher immer behauptet hatte, sondern bei jedem Überflug auch gezielt die Camps der Demonstranten ablichten. Es dauerte fast zwei Wochen, bis diese Information überhaupt ins Verteidigungsministerium nach Berlin gelangte. Schließlich noch viel länger, bis das Ministerium darüber den Bundestag informierte.
In Heiligendamm seien „Ermessensspielräume sehr breit ausgelegt worden“, sagte SPD-Mann Arnold nach der Sitzung des Ausschusses. Es gehe dabei nicht nur um die Zahl der Flüge, sondern darum, dass der eigentliche Auftrag verändert worden sei. „Mittlere und untere Ebene“ hätten das Mandat falsch interpretiert, so Arnold. „Menschen haben Fehler gemacht.“ Wer genau, das werde noch geprüft.
Ausschuss-Mitglied Elke Hoff von der FDP machte dem Verteidigungsminister selbst schwere Vorwürfe: „Wenn es so ist, wie sich die Dinge derzeit darstellen, dann hat Jung sein Haus nicht im Griff.“ Die Menschen müssten sich darauf verlassen können, dass die zivile Kontrolle der Bundeswehr funktioniere. Auf die Frage, wer denn die Erlaubnis für die fünf zusätzlichen Flüge – die pro Stunde immerhin 42.000 Euro kosteten – erteilt habe, sagte Birgit Homburger (FDP): „Niemand.“ Das sei nicht hinnehmbar, so Homburger. „Das muss für die Zukunft abgestellt werden.“
Kritisiert wurde auch, dass das Ministerium versuche, die Verantwortung dem Land Mecklenburg-Vorpommern zuzuschieben. Schließlich, so die Argumentation, könne das Ministerium nicht in jedem Fall prüfen, was noch als Amtshilfe gelte; das müsse das beantragende Land tun. „Das ist etwas schwach“, sagte Paul Schäfer von der Linkspartei. Der Minister selbst müsse prüfen, was zulässig sei. „Und im Zweifel sagen, das machen wir nicht.“ Seine FDP-Kollegin Homburger sagte, ein solcher „Verschiebebahnhof der Verantwortlichkeiten“ sei nicht hinnehmbar.
Jung hat den Generalinspekteur der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan beauftragt, die Befehlswege und Meldeverfahren zu prüfen. Der sagte aber am Rande des Ausschusses lediglich, dass es noch Klärungsbedarf gebe.
Daneben spielte im Ausschuss auch eine Rolle, dass einer der Piloten die erlaubte Mindesthöhe erheblich unterschritten hatte. Statt minimal 150 Meter war er für eine Minute und 22 Sekunden auf einer Höhe von 116 Metern geflogen. Die Unions-Mitglieder im Ausschuss sahen darin kein großes Problem. Alle anderen jedoch verurteilten diese Eigenmächtigkeit und zeigten sich besorgt. Schließlich könnten solche Tiefflüge eine erhebliche Einschüchterung darstellen und bedrohlich wirken.
Zweitens ging es bei der kritischen Befragung um den Einsatz von neun Spähpanzerwagen vom Typ „Fennek“, die in und um Heiligendamm ebenfalls dazu dienten, Demonstranten zu überwachen. Die Fenneks seien „unmittelbar in die polizeiliche Aufklärungsarbeit eingebunden gewesen“, sagte Arnold. Sie hätten, ergänzte Paul Schäfer von der Linkspartei, dazu gedient, „das Lagebild der Polizei zu verdichten“. Das jedoch hat mit Amtshilfe nichts mehr zu tun, da die Bundeswehr damit ureigene Aufgaben der Polizisten übernimmt. Im Übrigen müsse die Frage erlaubt sein, hieß es, was diese Panzer denn besser könnten als die Polizei. Die Bundeswehr zumindest sagt, nur mit ihnen könnten größere Gebiete über einen längeren Zeitraum überwacht werden.
Der dritte Punkt, der kritisiert wurde, betraf eine Einheit Feldjäger. Die hatte ein Krankenhaus bewacht, in dem Ärzte und Sanitäter der Bundeswehr für Notfälle bereitstanden. Zwar habe die Armee dort das Hausrecht gehabt, so Arnold, die Bewachung aber sei eigentlich Aufgabe der Polizei gewesen.
Bei all diesen Vorfällen regte die Parlamentarier auf, wie schleppend die Öffentlichkeit und sie selbst informiert wurden. Immerhin habe die Planung für Heiligendamm anderthalb Jahre gedauert. Und beispielsweise die Tornadoeinsätze seien schon am 26. April genehmigt worden, so Homburger. „Im Innenausschuss im Mai aber war davon keine Rede. Da hieß es nur, man leiste logistische Unterstützung.“
Außerdem herrschte Einigkeit, dass durch die Art des Einsatzes ein schlechtes, weil bedrohliches Bild der Bundeswehr verbreitet worden sei. Schließlich sei es für einen Demonstranten nicht klar, dass ihm ein unbewaffnetes Aufklärungsfahrzeug gegenüberstehe; für ihn sei das vor allem ein „Waffensystem“, ein Panzer, so Winfried Nachtwei von den Grünen. Politisches Kalkül wollte er darin indes nicht sehen. Für ihn war es „ein sich gegenseitig hochschaukelnder Prozess, bei dem zu keiner Zeit berücksichtigt wurde, welche Botschaft damit bei den Bürgern rüberkommt“.
FDP, Grüne und Linkspartei und auch die SPD waren sich einig darin, dass in Heiligendamm eine Grenze überschritten wurde. Das Grundgesetz sei weit gedehnt worden, so Arnold. Er forderte als Konsequenz, die Regeln der Amtshilfe genauer zu definieren. Die Oppositionsabgeordneten interpretierten den Einsatz außerdem als Test, wie weit die Bundeswehr im Innern gehen könne. „Es entsteht der Eindruck, dass der Versuch unternommen wird, die Bundeswehr immer mehr im Inneren einzusetzen“, kritisierte Birgit Homburger.
Der entsteht umso mehr, als ein Beamter des Ministeriums am Rande der Sitzung sagte, er wisse gar nicht, warum die Bundeswehr immer für solche Einsätze herangezogen werde. Schließlich gebe es doch wohl in Deutschland genug Organisationen, die zum Beispiel Sanitäter stellen könnten. Und warum die Polizei in Mecklenburg anscheinend zu wenig Stacheldraht hatte und er unbedingt tonnenweise von der Bundeswehr geliefert werden musste, sei ihm auch nicht klar. Offensichtlich sei es bequemer, die Fähigkeiten der Soldaten zu nutzen, als sich über andere Lösungen Gedanken zu machen.
Die Vision von Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), die Bundeswehr wie eine Polizeitruppe im Land einzusetzen, könnte so bald Wirklichkeit werden. Auch aus schlichter Bequemlichkeit.