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2002-05-24

Angriff auf die Verfassung? Einsatz der Bundeswehr im Inland

Sendung vom 04. Oktober 2001, Autor: Anna Voth und Heide Mundzeck



Spätestens seit den Terroranschlägen ist Otto Schily der Star in Kanzler Schröders Kabinett: die Härte seines Innenministers bringt Punkte beim verängstigten Wahlvolk. Was schadet es da schon, dass Schily übers Ziel hinausschießt und Bundeswehreinheiten als Hilfspolizei einsetzen will.

Vor zwei Tagen hat die NATO die Bündnispartner um Unterstützung gebeten. Ob überhaupt und wie die Bundeswehr zum Einsatz kommt, das wissen wir nicht.

Der Bundesinnenminster aber, der hat schon gedankliche Aufmarschpläne für die Truppe gemacht! Er will deutsche Soldaten nun – in Deutschland einsetzen! Gegen den weltweit operierenden Terrorismus scheinen ihm Polizei und Bundesgrenzschutz nicht gewachsen.

Welche Strategie aber hat Otto Schily für die kämpfende Truppe? Heike Mundzeck und Anna Voth haben versucht, das herauszufinden. Und festgestellt: Wie gut, dass wir unsere Verfassung haben! Die schützt uns vor der Bundeswehr am falschen Ort und vor allem vor unserem Innenminister!

Eine Übung der Bundeswehr. Die Truppe trainiert, was eigentlich nicht zu ihren Aufgaben gehört - polizeiliche Maßnahmen. Eine Einheit: Demonstranten. Sie greifen mit Steinen eine andere Einheit an. Gummiknüppel, Schilde und Wasserwerfer - damit müssen die Soldaten die Demonstration auflösen.

Eigentlich Aufgabe der Polizei. Die Übung wird mit Amateur-Kameras aufgezeichnet, um sie später mit den Soldaten auszuwerten. KONTRASTE liegt dieses Material exklusiv vor.

Grund für die Schulung der Bundeswehrsoldaten: ihr Einsatz im Rahmen der NATO, z.B. in Bosnien und im Kosovo - also nur für den Auslandseinsatz.

Die neuen Fähigkeiten der Bundeswehr - auf die würde Innenminister Otto Schily gerne zurückgreifen. Schon lange plädiert er für eine engere Zusammenarbeit von Polizei und Bundeswehr im Landesinneren. Die Terroranschläge in den USA waren jetzt der Anlass, in die Offensive zu gehen.

Otto Schily, Bundesinnenminister, acht Tage nach den Attentaten:
"Es wird auch notwendig sein, dass es ein Ineinandergreifen gibt von militärischen und polizeilichen Operationen. Wenn man es mit einer Herausforderung wie dem Terrorismus zu tun hat, dann dürfen wir uns da nicht auf philosophische Haarspaltereien einlassen."

Philosophische Haarspaltereien? Der Jurist Schily müßte es besser wissen: eine generelle Verknüpfung von polizeilichen und militärischen Aufgaben steht im Widerspruch zur Verfassung.

Nur wenn es in Deutschland zu ähnlichen Anschlägen oder Angriffen kommen sollte wie in den USA, kann nach dem Grundgesetz die Bundeswehr eingesetzt werden, auch zur Unterstützung der Polizei.

Prof. Christian Pestalozza, Verfassungsrechtler:
"Ausdrücklich im Verteidigungsfall, daß heißt wenn ein bewaffneter Angriff von außen stattfindet oder droht. Im Spannungsfall, d.h. im Vorfeld eines möglichen Verteidigungsfalles und noch für den Fall, daß der Bestand des Bundes oder eines Landes oder mehrerer Länder bedroht ist oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung."

Was also meint Herr Schily: Haben wir schon jetzt eine so extreme Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, eine Gefahr für unsere demokratische Grundordnung?

Dass Schily in der jetzigen Situation den Einsatz der Bundeswehr im Inneren fordert, kann das zuständige Ministerium nicht nachvollziehen.

Walter Kolbow, Staatsekretär im Verteidigungsministerium:
"Wir sind weder im Verteidigungsfall, wir sind weder im Spannungsfall, noch haben wir einen inneren Notstand, so daß für den Einsatz der Bundeswehr gegenwärtig keine Notwenigkeit besteht."

Trotzdem. Schily bleibt dabei. Kurz nach seiner Bundestagsrede wiederholt er in der Bundespressekonferenz seine Auffassung. Er meint, dass in einer bestimmten Situation...

Otto Schily, Bundesinnenminister:
"...wo die Kräfte, die in den Polizeien zur Verfügung stehen, nicht mehr ausreichen. Das steht durchaus in Übereinstimmung mit der verfassungsrechtlichen Situation und da bin ich mir mit dem Bund - auf der Bundesebene - mit den Länderinnenministern einig, aber auch mit dem Bundesverteidigungsminister, dass in solcher Situation - die jetzt nicht besteht - die unter Umständen ergeben kann, dann auch der Einsatz der Bundeswehr für bestimmte Aufgaben auch im Innern des Landes notwendig sein könnte."

Welche Situation, welchen Krisenfall stellt sich der Bundesinnenminister vor? Schon lange vor den Terroranschlägen! Nicht erst seit dem 11. September hat Schily von einer Vernetzung zwischen Bundeswehr und Polizei gesprochen.

Da sind zum Beispiel die Demonstrationen zum 1. Mai in Berlin. Hier ist die Polizei regelmäßig überfordert. Ginge es nach Schily, würden vermutlich nicht mehr nur Polizisten die Demonstration auflösen oder Verhaftungen vornehmen.

Oder: bei Castortransporten. So wie in Gorleben Anfang dieses Jahres. Ginge es nach Schily, würden dann wohl nicht nur Polizisten den Zug vor Demonstranten abschirmen; mit Schild und Schlagstock Aktionen der Castorgegner verhindern. Dann würden Soldaten mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und am Ende womöglich sogar mit Panzern gegen Demonstranten vorgehen - und das im Landesinnneren.

Bei der Gewerkschaft der Polizei stoßen die Vorstellungen des Innenministers auf Unverständnis.

Conrad Freiberg, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei:
"Ich denke jetzt mal an die Objektschutzaufgaben, ich denke an Demonstrationen, an gewalttätige Demonstrationen, an Castoreinsätze, dies ist alles Aufgabe der Polizei. Da hat die Bundeswehr nichts zu tun. Und darf auch mal so sagen: die Bundeswehr ist dazu auch gar nicht in der Lage. Sie ist nicht ausgebildet und hat auch gar nicht die Kapazitäten. Die Bundeswehr kann sich nicht mal alleine schützen. Die meisten Kasernen werden durch private Sicherheitsleute geschützt. Von dort her sollte man alle diese Gedanken in die Mottenkiste reintun. Sie passen nicht in die heutige Zeit, sie passen auch nicht zu unserer Verfassung."

Schily ist nicht bereit zu sagen, unter welchen Voraussetzungen und bei welchen Ereignissen er die Bundeswehr im Landesinneren einsetzen will. Für ein Interview mit KONTRASTE steht der Innenminister nicht zur Verfügung. Statt dessen konnten wir am 2. Oktober in einer Berliner Boulevardzeitung lesen: Trotz einiger Einschränkungen bleibt er dabei.

Zitat Otto Schily:
"Allerdings werden wir in Zukunft polizeiliche und militärische Strategien... enger verzahnen müssen."

Vielleicht werden dann vor Kanzleramt und Reichstag statt Polizeifahrzeugen bald Panzer stehen.

[http://www.rbb-online.de/_/kontraste/beitrag_jsp/key=rbb_beitrag_1237926.html]