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2008-06-21

21.6.2008 Genua

- Armee patrouilliert in Italiens Straßen

- GENUA 2001: Schlussstrich für Diaz und Bolzaneto

- Der Fall Bolzaneto-Diaz: Gesetzesverordnung wirkt sich auf G8 aus

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Armee patrouilliert in Italiens Straßen

Berlusconis »Sicherheitspaket« setzt Trennung zwischen Polizei und Streitkräften außer Kraft Welches ist das größte Problem, das Italien zu lösen hat? Für die neue Regierung gibt es auf diese Frage nur eine Antwort: die Sicherheit – die Sicherheit der italienischen Bürger vor Roma-Mädchen, die Handtaschen klauen, die Sicherheit gegenüber der Mikrokriminalität in den Großstädten. Und um dieses Problem zu lösen, scheut man vor gar nichts zurück: Man will sogar Soldaten als Patrouillen in den Straßen einsetzen.

In Italien werden in wenigen Tagen 2500 Soldaten mit den notwendigen Kompetenzen ausgestattet werden, um Aufgaben der öffentlichen Ordnung wahrzunehmen. Sie dürfen Passanten anhalten, nach ihren Ausweisen fragen und sie sogar festnehmen, wenn sie es für notwendig halten. Was man sonst nur von Militärdiktaturen, autoritären Staaten und Nationen im Kriegszustand kennt, wird mitten in Europa Alltag. Damit wird eines der Grundprinzipien der demokratisch verfassten Länder – die rigorose Trennung zwischen Polizeikräften und Militär – mit einem Federstrich außer Kraft gesetzt.

Diese Maßnahme ist in einem »Sicherheitspaket« enthalten, das die Regierung mit äußerster Dringlichkeit und zum Teil per Dekret auf den Weg gebracht hat. Einige Teile sind bereits in Kraft, andere werden in wenigen Tagen wirksam sein, wenn sie vom Parlament verabschiedet wurden. Und an der Zustimmung besteht kein Zweifel. Auf der einen Seite, weil das sogenannte Volk der Freiheit von Silvio Berlusconi in beiden Kammern über eine derart komfortable Mehrheit verfügt, dass man jede Maßnahme von den Volksvertretungen absegnen lassen kann. Und zum anderen auch, weil es derzeit in Italien keine wirkliche Opposition zu geben scheint, die angesichts einer so unglaublichen Entscheidung die Bürger mobilisieren oder wenigstens in der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion ins Leben rufen könnte. Auf die Medien hat sie sowieso keinen nennenswerten Einfluss: Praktisch das gesamte Fernsehen (öffentlich wie privat) und ein Großteil der Printmedien werden direkt oder indirekt von Silvio Berlusconi kontrolliert.

Wenn überhaupt, dann wird darüber diskutiert, ob so eine Maßnahme – also das Militär im Inneren einzusetzen – »sinnvoll« sei. Sind 2500 Soldaten nicht viel zu wenig? Sind sie überhaupt für solche Aufgaben ausgebildet? Wie koordiniert man ihr Vorgehen mit der »normalen« Polizei? Einige Oppositionspolitiker sind auch über das Bild besorgt, das Italien im Ausland vermittelt: »So wird man sich ja wie in Kolumbien fühlen«, erklärte etwa der ehemalige Anti-Korruptionsrichter Antonio Di Pietro, heute Parlamentarier der Gruppe »Italien der Werte«, die mit der Demokratischen Partei verbündet ist. Nur Fausto Bertinotti, einst Vorsitzender der »Rifondazione comunista«, meinte schon in seiner ersten politischen Stellungnahme nach dem verheerenden Wahlergebnis vom April: »Wir bewegen uns auf ein ›leichtes‹ autoritäres Regime zu.«

Die Regierungsvertreter haben ihre eigene Logik: Erstens die italienischen Bürger fühlen sich unsicher – und dabei ist es egal, ob alle Statistiken sagen, dass die Kriminalität in Italien keineswegs stärker als in anderen europäischen Ländern ist. Zweitens die Polizei schafft es einfach nicht allein – und auch da ist es egal, dass Italien sowieso schon weit mehr Polizisten pro Einwohner hat als alle anderen. Und drittens die Soldaten sind notwendig, damit sich die Italiener sicherer fühlen können. Es sei – so der Exfaschist und heute Verteidigungsminister Ignazio La Russa – »ein Akt der Liebe und der Großzügigkeit der Soldaten gegenüber den Bürgern«. Sein Parteifreund und Fraktionsvorsitzender von Volk der Freiheit in der Kammer, Maurizio Gasparri, geht mit den Kritikern weniger blumig um: »Wer gegen die Soldaten in den Straßen ist, steht auf der Seite der Mafia.« Eine Frage sei zum Schluss noch hinzugefügt: Warum verschließt man in Europa die Augen vor dem, was derzeit in Italien geschieht? Was muss noch alles geschehen, damit der »Fall Italien« von internationalen Gremien zumindest angesprochen wird?

Von Anna Maldini, Rom

Source: http://www.neues-deutschland.de/artikel/130454.armee-patrouilliert-in-italiens-strassen.html

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GENUA 2001: Schlussstrich für Diaz und Bolzaneto

Tartarini, Anwältin der Nebenklage: „Vorladungen und Versetzungen werden die Urteile sprengen“ „Für Diaz und Bolzaneto steht der Schlussstrich bevor“

Von Sara Menafra

Das „Gesetz zur Rettung des Ministerpräsidenten“ birgt die Gefahr, dass auch die G8-Verfahren blockiert werden. Das Komitee „Wahrheit und Gerechtigkeit für Genua“, die italienische Abteilung von Amnesty International und die Anwälte, die in diesen Jahren die Geschädigten in den Verfahren wegen Bolzaneto und der Nacht in der Diaz-Schule vertreten haben rufen es laut. Sieht man von der Fälschung im Amt und der Falschbeschuldigung ab, verjähren in den Verfahren erhobene Tatvorwürfe wie Körperverletzung, Nötigung, Amtsmissbrauch i, Januar 2009. In einem Wettlauf gegen die Zeit, hofften sie auf ein erstinstanzliches Urteil, das diesem Datum zuvorkommen würde: Im Juli für Bolzaneto und noch im Herbst für die Diaz-Schule. Jetzt nicht mehr. Wir befinden uns am Rande des Abgrunds der Tabula Rasa, erklärt die Anwältin Laura Tartarini.

Warum diese Regelung, die ein Zustandekommen der Urteile gefährdet? Ist es nicht einfach so, dass lediglich Gefahr besteht, ein weiteres Jahr warten zu müssen, da auch die Verjährung für die betreffende Zeit ausgesetzt ist?

Die Fristen sind schon jetzt extrem knapp. Als Allererstes gilt, dass das Risiko hoch ist, dass die sechs Monate, die bis zur Verjährung fehlen, von der Zustellung der Vorladungen „geschluckt“ werden. Ist das Aussetzungsjahr einmal abgelaufen, wird das Gericht sämtliche Angeklagten und alle Geschädigten neu vorladen müssen. Weil die Zahl der Opfer sehr hoch ist, und viele von ihnen aus anderen Ländern, wird es sehr lange dauern.

Um wie viele ausländische Opfer geht es?

Von den rund dreihundert Nebenklägern im Bolzaneto-Verfahren ist die Hälfte aus dem Ausland. Von den Hundertfünfzig aus der Diaz-Schule sind es achtzig Prozent.

Aber war das Bolzaneto Verfahren nicht schon abgeschlossen?

Wir sind an der Grenze. Das Urteil wird Ende Juli erwartet, und genau in jenen Tagen könnte das neue Gesetz in Kraft treten.

Wenn aber die Verjährung so kurz bevorsteht, wären die Verfahren doch ohnehin zum Stillstand gekommen.

Schon, wobei ein erstinstanzliches Urteil einen durch den Staat abzuleistenden materiellen und moralischen Schadensersatz ermöglicht hätte.

Nehmen wir an, das Gericht nutzt das Aussetzungsjahr, um sämtliche Vorladungen zuzustellen, damit es im Juli 2009 ohne Verzug weiter gehen kann.

In einem Jahr kann viel passieren. In Genua kommt es durchaus vor, dass sich die Zusammensetzung des Richterkollegiums ändert. Sollte ein Richter 2009 versetzt werden, müsste das gesamte Verfahren von Grund auf neu aufgerollt werden.

Eine grundsätzliche Einschätzung all dessen?

Ich sage nur, dass wir in diesen Verfahrensjahren schon so sehr viel durch gemacht haben. Von den Falschaussagen bis hin zur unterbliebenen Mitwirkung der Angeklagten und Zeugen. Wir dachten, wir wären durch, und nun bleibt der durch diese Regelung nichts als der Beigeschmack des Hohns. Eine Gesellschaft, in der jene, die sich den eigenen Vergehen mit einem zusätzlichem Maß an Verantwortung stellen müssten, weil sie den Staat repräsentieren, wie es bei den Sicherheitskräften der Fall ist, nie büßen müssen, ist eine hässliche Gesellschaft. Und auf der Anklagebank bleiben lediglich die einfachen Bürger.

Il Manifesto, 18.06.2008

Source: http://www.ilmanifesto.it/argomenti-settimana/articolo_810b957658ff31ce786bf1804f59fe6a.html

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Der Fall Bolzaneto-Diaz: Gesetzesverordnung wirkt sich auf G8 aus

Polizisten aus dem Schneider, der Prozess wird allein den no global gemacht

ROM – Gesetzesänderung mit kleinen Kollateralschäden. Wenn in Sachen G8, Stichwort Genua 2001, die Abänderung der Gesetzesverordnung durchkommt, wie sie jetzt ist, sind die Schuldigen alleine auf einer Seite. Adieu Bolzaneto, Adieu Diaz. Die Hüter der öffentlichen Ordnung würden mit schneeweißer Weste aus dem Desaster jener Tage herauskommen, während das einzige Verfahren, das bereits zum erstinstanzlichen Urteil gekommen ist, jenes bleibt, das 25 Demonstranten wegen Verwüstung und Plünderung verurteilt – aufgrund eines mutmaßten Tatbestands, der ein zwischen 8 und 15 Jahren festgelegtes Strafmaß vorsieht, was dazu führt, dass der durch die etliche Prozesse blockierende Gesetzesänderung aufgezwungene Boxenstopp dieses eine Verfahren außen vor lässt.

Für Bolzaneto und Diaz entspricht der Halt jedoch einer Endstation.

Sämtliche Straftaten, deren Begehung im ersten Fall 45 Polizisten oder Ärzten, im zweiten 29 leitenden Beamten oder Einsatzkräften vorgeworfen wird, wären 2009 verjährt. Abgesehen von der Tatsache, dass es die Grundlage für eine Entschädigung der Opfer dargestellt hätte, hätte ein erstinstanzliches Urteil, schon deshalb lediglich moralische Gewicht gehabt, weil es auf der ebene der strafrechtlichen Konsequenzen für die Angeklagten keinerlei Folgen nach sich gezogen hätte. Das „Einfrieren“ der beiden Verfahren würde aber einer Euthanasie gleich kommen, weil die Fristen zum Zeitpunkt der Fortsetzung extrem eng wären. Für die Erklärung der Verjährung der Straftaten würde die kleinste Verzögerung genügen, sei es ein Formfehler bei den bei Fortsetzung der Verfahren durchweg neu zuzustellenden Vorladungen, die Dichte der Terminpläne der Strafkammern, oder der Wechsel eines Mitglieds der urteilenden Richterkollegien. Mit einem Urteil im Fall Diaz wurde im November gerechnet. Im Fall Bolzaneto aber, ist der Hohn doppelt groß, denn hier heißt es, i, Wahrsten Sinne des Wortes: Ausgestochen auf der Zielgeraden. Das Urteil wegen den Folterungen in der Kaserne auf den Anhöhen im genuesischen Hinterland wurde am 16. Juli erwartet. Sollte es wirklich so kommen, würde sich das Szenario bewahrheiten, das stets von den nihilistischsten unter den Genua-Heimkehrern angemahnt wurde, die von Anfang an überzeugt waren, dass es niemals Gerechtigkeit geben würde, auch nicht vor dem Gesetz, i, Gegensatz zu dem Teil der no global, die weiter auf den Staat vertrauten. Luca Casarini hat gesagt, dass „Berlusconi die Parteienübergreifende Verdrängung von Genua in Gesetzesform gießt, die man bereits unter der Regierung Prodi hervorlugen sah“. „Ein grausamer Hohn nach sieben Jahren Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen“, erklärt das Komitee „Wahrheit und Gerechtigkeit für Genua“, während sich die italienische Abteilung von Amnesty International über den „unglücklichen Zufall“ ironisierend gibt. Alles in Allem, nicht viel. Isolierte Reaktionen, die keinerlei Gewicht haben. Sieben Jahre später, versinkt Genua (möglicherwise) in ohrenbetäubendes Schweigen.

Von Marco Imarisio

Quelle: Corriere della Sera, 18.06.2008 – Printausgabe