- Widersprüche, Turbulenzen, Opportunitäten
- WTO Agenda für Hongkong
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Widersprüche, Turbulenzen, Opportunitäten
Unübersichtliche Gemengelage vor WTO-Konferenz in Hongkong
Ein weiteres Gipfelspektakel steht ins Haus: Vom 13. bis zum 18. Dezember wird in Hongkong die sechste Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) über die Bühne gehen. Knackpunkt der aktuellen Verhandlungen ist einmal mehr der Agrarsektor. Die reichen Industrieländer lassen derzeit nichts unversucht, ein abermaliges Scheitern der Ministerkonferenz wie zuletzt 2003 in Cancun/Mexico zu verhindern. Sie treibt die Sorge um, dass dies zukünftige Verhandlungsrunden noch langwieriger und komplizierter machen könnte. Demgegenüber pochen die Regierungen des globalen Südens auf substanzielle Zugeständnisse in der Agrarfrage, andernfalls sei von ihnen keine ernsthafte Gesprächsbereitschaft in anderen Bereichen zu erwarten, etwa im Handel mit Dienstleistungen (GATS) und nicht-agrarischen Produkten (NAMA).
Allein: Wichtige und große Länder des globalen Südens wie Brasilien oder Indien entwickeln sich immer stärker zu Wackelkandidaten. Es steht zu befürchten, dass die seitens des globalen Nordens nicht nur im WTO-Prozess vielfach erprobte Teile-und-Herrsche-Strategie aufgehen könnte, mit katastrophalen Konsequenzen (unter anderem) für viele der weltweit über 1,3 Milliarden in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen. In diesem Sinne gilt es um so mehr, all den Regierungen, NGOs und sozialen Bewegungen den Rücken zu stärken, die das Liberalisierungsungeheuer WTO prinzipiell in die Knie zwingen möchten - Stichwort: "Hongkong platzen lassen!"
Es lohnt, zum besseren Verständnis des aktuellen Verhandlungsstands, ein wenig in der noch jungen WTO-Geschichte zurückzugehen, sinnvollerweise bis zur vierten Ministerkonferenz 2001 in Doha/Katar. Dort schickten sich die Länder des globalen Südens erstmalig an, im WTO-Rahmen als halbwegs organisierte und untereinander abgestimmte Interessen-Gruppe(n) zu agieren - nachdem bereits ihr entschiedenes Nein zu einer abermaligen Freihandels- bzw. Liberalisierungsrunde 1999 in Seattle/USA zentral zum Scheitern der dritten Ministerkonferenz mit beigetragen hatte.
Die Formierung des globalen Südens rund um Doha war zeitlich alles andere als Zufall, mehrere Entwicklungen kamen seinerzeit zusammen: Erstens kristallisierten sich für die Länder des globalen Südens mehr und mehr die desaströsen Konsequenzen der im Januar 1995 in Kraft getretenen WTO-Abkommen heraus. Es wurde deutlich - um nur vier der prominentesten Beispiele zu nennen, (1) dass die Agrarmärkte noch stärker als zuvor mit subventionierten Billigprodukten aus dem Norden überschwemmt wurden, (2) dass (Aids-)Medikamente und genbehandeltes Saatgut (Stichwort: Biopiraterie) mittlerweile unter Patentschutz standen und nur noch zu horrenden Preisen zu haben waren, (3) dass der Norden das Anti-Dumping-Abkommen vorrangig dafür missbrauchte, missliebige Konkurrenz aus dem Süden loszuwerden und (4) dass das mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Textilabkommen so gut wie keinen wirtschaftlichen Nutzen für die Länder des globalen Südens entfaltet hatte.
Zweitens hatte der globale Süden mittlerweile hinreichend Bekanntschaft mit den hochgradig intransparenten und undemokratischen Entscheidungsabläufen innerhalb des WTO-Apparates (einschließlich der WTO-internen Streitschlichtungsstelle) gemacht. Hierzu gehörte auch die Erfahrung, dass EU und USA im konkreten Verhandlungsalltag vor nichts, auch nicht vor Kanonenbootdiplomatie zurückschreckten, d.h. vor knallharten Erpressungsmanövern, gezielten Verunglimpfungen und anderen machtdurchtränkten Winkelzügen.
Drittens hatte sich mittlerweile das weltweite Kräfteverhältnis leicht verschoben, der Neoliberalismus begann, seine in den 1990er Jahren nahezu unangefochtene Vormachtstellung einzubüßen. Hierzu hatten die diversen Finanzcrashs, insbesondere die Asienkrise 1997/98, genauso beigetragen wie der Umstand, dass mit China und Indien ausgerechnet zwei Länder in die Gruppe der ökonomischen Großmächte nachgerückt waren, die in ihrer Wirtschaftspolitik (bis heute) auf neoliberale Instrumente relativ weitgehend verzichten.
Die Länder des globalen Nordens versuchten es sodann mit Zuckerstückchen. Der Süden sollte umgarnt und zurück ins (vorgeblich) gemeinsame WTO-Boot geholt werden: Sie schlugen vor, in Doha eine so genannte Entwicklungsrunde einzuläuten. Einzig: Den schönen Worten sollten keine Taten folgen! Einmal mehr wurden die Vorschläge des Südens brachial vom Tisch gewischt; hierzu gehörte insbesondere das von zahlreichen Ländern artikulierte Interesse, nicht einfach mit der WTO-eigenen Liberalisierungsagenda fortzufahren, vor allem nicht im Dienstleistungsbereich (GATS), wozu ja auch die aus Sicht transnationaler Konzerne äußerst lukrativen Geschäftsfelder Wasser- und Energieversorgung, Telekommunikation, Transport und Finanzdienstleistungen gehören. Vielmehr sollten die bisherigen WTO-Abkommen hinsichtlich ihrer konkreten Auswirkungen (einschließlich Umsetzungsschwierigkeiten) einer sorgfältigen Evaluation unterzogen werden.
Taschenspielertricks des Nordens in der Agrarfrage
All dies behagte dem globalen Norden gar nicht. Sein Interesse bestand lediglich darin, möglichst schnell weitere Bereiche zu offiziellen Verhandlungsgegenständen auszuschreiben, insbesondere die äußerst umstrittenen Themenfelder (Direkt-)Investitionen und Dienstleistungen. Die Industrieländer legten es in Doha folglich darauf an, ausschließlich ihre eigenen Verhandlungsvorschläge in der abschließenden Ministererklärung zu platzieren - leider mit Erfolg. Als Zielvorgabe der bis heute unter dem Label Doha-Entwicklungsrunde firmierenden Verhandlungen wurde der 1. Januar 2005 bestimmt. Bis dahin sollten die in Doha beschlossenen Themen fertig verhandelt und in neue bzw. inhaltlich erweiterte WTO-Abkommen gegossen sein. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich - zumindest in der historischen Rückschau -, dass die Verhandlungen beim fünften Ministertreffen 2003 in Cancun/Mexico erst einmal scheiterten. Die Länder des globalen Südens waren schlicht nicht mehr gewillt, die miese Macht- und Tagesordnungspokerei des Nordens hinzunehmen, zumal dieser weder im Agrarbereich noch in irgendeinem anderen der strittigen Themen substanzielle Angebote zu unterbreiten wusste.
Die Industrieländer sollten hieraus ihre Konsequenzen ziehen. Sie schlugen vor, dass Ministerkonferenzen zukünftig vom Allgemeinen Rat, dem ständigen Gremium aller WTO-Mitglieder in Genf, ungleich intensiver vorzubereiten wären als bislang. Diese Entscheidung entpuppte sich leider als kluger Schachzug: Weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit schaffte es der Norden auf einer Sitzung des Allgemeinen Rats im Juli 2004, das Heft des Handelns wieder an sich zu reißen. Im Rahmen des so genannten Juli-Pakets musste er zwar auch einige Abstriche machen, im Hinblick auf die für das Ministertreffen in Hongkong entscheidenden Punkte gelang es ihm jedoch, erste für den globalen Süden hochgradig nachteilhafte Vorentscheidungen durchzuboxen.
Worum geht es in der Agrarfrage konkret? Im WTO-Agrarabkommen verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, erstens den Zugang zu ihren Märkten zu liberalisieren, zweitens die heimische Unterstützung der Landwirtschaft zu reduzieren und drittens die Exportsubventionen zu begrenzen. Zweck dieser Regelungen ist es, das massive Dumping einzudämmen, mit dem EU und USA seit den 1980er Jahren die Preise auf den Weltagrarmärkten in den Keller getrieben hatten - nicht zuletzt auf Kosten der Kleinbäuerinnen und -bauern im globalen Süden.
Soweit die Theorie, die Realität sieht anders aus: Durch wohlkalkulierte Taschenspielertricks gelang es den Ländern des globalen Nordens, ihre Exportsubventionen unter neuem Namen beizubehalten, mitunter sogar zu erhöhen. Die Dumping-Praxis konnte auf diese Weise ungezügelt fortgesetzt werden. Konkret: Die EU exportierte 2001 Weizen zu Preisen 46% unterhalb der Produktionskosten, bei Magermilch waren nur noch 50% der Kosten gedeckt, bei Zucker gerade mal 25%. Umgekehrt konnte der Süden keinen Vorteil aus den Marktöffnungen im Norden ziehen. Noch während der Verhandlungen zum WTO-Abkommen hatten nämlich EU, USA & Co. ihre Zölle derart in die Höhe schnellen lassen, dass anschließend die im Abkommen vorgeschriebene Zollsenkung um 36% den Marktzugang für Länder des globalen Südens nicht im geringsten erleichtert hat. Konsequenz hiervon ist, dass jedes Jahr weltweit viele Millionen KleinbäuerInnnen in die Pleite getrieben werden, schlicht deshalb, weil sie mit den subventionierten Produkten aus dem Norden nicht schritt halten können.
De-Industrialisierung des globalen Südens droht
Seit seinem Beitritt zur WTO sind z.B. in Kamerun 110.000 Arbeitsplätze in der kleinbäuerlichen Geflügelproduktion und weitere zehntausend Arbeitsplätze im gleichfalls kleinbäuerlichen Futtermittelsektor kaputtgegangen. Im gleichen Zeitraum hat die EU ihre Billig-Exporte von gefrorenem Geflügelfleisch nach Kamerun von 978 auf 22.000 Tonnen pro Jahr ausgedehnt - bei einem Gesamtbedarf von 30.000 Tonnen. Für die davon Betroffenen (samt Familien) bedeutet dies unter anderem den Verlust ihrer Ernährungssouveränität und somit Hunger und Unterernährung.
Ob und welcher Kompromiss im Agrarsektor gefunden wird, steht derzeit in den Sternen. Klar ist nur: Sollte es vor oder in Hongkong zu einer Einigung kommen, dürfte sich die ohnehin schon katastrophale Situation im globalen Süden einmal mehr zuspitzen. Denn während die Industrieländer eine Senkung der (Export-)Subventionen lediglich in Aussicht gestellt haben - die Rede ist von einem 15-jährigen (sic) Übergangszeitraum -, würde es bereits in naher Zukunft - so der aktuelle Verhandlungsstand - zu einer beträchtlichen Senkung der Zölle und somit zu verbesserten Marktzugängen weltweit kommen. Davon dürften indessen einzig die reichen Länder des Nordens sowie klassische Agrar-Exportländer wie Brasilien oder Argentinien profitieren. Mit anderen Worten: Viel hängt auch davon ab, ob sich der globale Süden trotz beträchtlicher Interessendifferenzen auf eine gemeinsame Linie verständigen kann oder ob soziale Bewegungen wie die internationale KleinbäuerInnenorganisation Via Campesina mit ihrer Kritik Recht behalten sollten, wonach die Regierungen Brasiliens und Indiens mittlerweile ebenfalls zu "Brokern für die Marktöffnungsagenda des Agrobusiness in Nord und Süd" mutiert seien.
Sollte das Nadelöhr Agrarsektor erfolgreich passiert werden, dürfte es mit großer Wahrscheinlichkeit auch in anderen Bereichen zu einer Einigung kommen, insbesondere bei den nicht-agrarischen Produkten (Industriegüter, Rohstoffe sowie Produkte aus Forstwirtschaft und Fischerei). Die Konsequenzen dürften ähnlich katastrophal wie im Agrarbereich ausfallen, auch hier, weil weitgehende Zollsenkungen und somit stark ausgeweitete Marktzugänge ins Auge gefasst sind. Was das konkret bedeuten würde, ist bereits aus früheren, durch IWF und Weltbank erzwungenen Zollreduzierungen hinlänglich bekannt; auf jeden Fall scheint die Rede von der aktuell im großen Maßstab drohenden De-Industrialisierung des globalen Südens (nebst intensivierter Importabhängigkeit) leider nicht übertrieben.
Last but not least: WTO-Abkommen und ähnlich ausgerichtete (regionale oder bilaterale) Vertragswerke haben in ihrer Eigenschaft als regulative Instrumente des globalen Kapitalismus mehr oder weniger katastrophale Konsequenzen für unzählige Menschen. Dementsprechend entschlossen ist vor allem im globalen Süden der Widerstand, auch jüngst wieder anlässlich der Gespräche auf dem Amerika-Gipfel über die Einrichtung einer amerikaweiten Freihandelszone. Inwieweit sich diese global verstreuten Proteste im Zuge des WTO-Ministertreffens in Hongkong bündeln lassen und so der Hong Kong People's Alliance in ihren geplanten Protesten wirksam den Rücken stärken können, ist nur schwer einzuschätzen. Deprimierend ist jedoch, dass hier zu Lande der Protest gegen die WTO gerade mal bei attac und einschlägig interessierten NGOs eine nennenswerte Rolle spielt. Das muss sich ändern, vielleicht ja im Rahmen des derzeit gerade an den Start gehenden Widerstands gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm.
Gregor Samsa
[ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 500 / 18.11.2005]
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WTO Agenda für Hongkong
Heute hat die WTO ihre vorläufige Konferenzagenda für die 6. WTO-Konferenz in Hongkong veröffentlicht.
Heute hat die WTO ihre vorläufige Konferenzagenda für die 6. WTO-Konferenz in Hongkong veröffentlicht. "However, we also recognise that substantial work still remains to be done."So lautet der häufigste Satz im Provisional Draft für die WTO-Ministerkonferenz. Er ist Spiegelbild der gegenwärtigen Situation in der WTO - ein Stillstand bei dem sich die USA und die EU gegenseitig blockieren. Ob sich dieser Stillstand auch als Atempause für die Länder des Südens - und dabei weniger die auf Marktzugang pochende Gruppe der G20, als für die AKP-Staaten - werten lässt, bleibt noch abzuwarten.
Im wesentlichen stellt die Agenda eine Bestätigung des in Doha festgezurrten Verhandlungsmandats, ergänzt durch das sogenannte "July Package", ein 2004 erzieltes Rahmenwerk, dar. Ernüchternd liest sich insbesondere der persönliche Bericht des Chairmans für den Agrarsektor. Die Kontroverse um den Marktzugang, aber auch der stetig weiter eskalierende Streit zwischen EU und USA um den Senkungssatz der Agrarsubventionen sind nur zwei Konfliktpunkte. Punkte, die mindestens genauso wichtig sind . so das Thema Nahrungsmittelhilfe, Sonderkonditionen und Ausnahmeregelungen für "least developed countries", oder die Auseinandersetzungen um bilaterale Freihandelsabkommen drohen darüber in den Hintergrund zu geraten.
Soweit ein paar erste Einschätzungen.
Momentan erscheint es mir am aussichtsreichsten, wenn ein Abschluss der Doha-Runde in 2006 nicht zustandekommt. Mitte 2007 endet nämlich Bush's Mandat, ohne Mitspracherecht des US-Kongress Außenhandelsverhandlungen zu führen, und eine Verlängerung dieses Mandats (der Trade Promotion Authority) erscheint fraglich.
Die komplette Agenda gibt's unter http://www.wto.org/english/thewto_e/minist_e/min05_e/draft_min05_text_e.doc
[indymedia.de, von St. Paula - 26.11.2005 17:44]