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2006-01-13

13.1. 2006 Genua

Genua: Verjährungsnebel lichtet sich

Die Verfahren gegen Polizeiangehörige wegen dem G8 2001 in Genua haben nun doch Aussicht, wenigstens durch die erste Instanz zu kommen. Das war durch den langen Eiertanz um ein Gesetz, das auch die Verjährungsfristen im Strafrecht halbiert, bis vor Kurzem keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Nur in den Köpfen herrscht noch viel Durcheinander... Im Folgenden ein Versuch, etwas Klarheit zu schaffen.
Wie in einigen unabhängigen Medien schon berichtet wurde, riskieren die Polizisten, die wegen dem G8 in Genua unter Prozess stehen, wenigstens theoretisch nun doch eine Verurteilung. Zumindest dürfen die Verfahren erstmal stattfinden. Über Jahre hinweg hatte eine Reform des Strafrechts bisher gedroht, die Verjährungsfristen zu halbieren. Das ist nun auch geschehen, aber so, dass die Verfahren in Genua davon unberührt bleiben, weil sie bereits eröffnet sind. Für die Polizisten, die sich in den mittlerweile in die erste Instanz gelangten Verfahren vor Gericht verantworten müssen bedeutet das, dass sie nicht mehr unbedingt darauf hoffen können, einfach so davon zu kommen, wie vorher zu befürchten war. Neben einigen kleineren Verfahren zu einzelnen Episoden, laufen gegen Polizeibeamte wie bekannt zwei Größere. Darin soll über Teile dessen geurteilt werden, was im Juli 2001 in einer Schule und in einer Kaserne in Genua geschah. Es geht nun also doch zur Sache, es sei denn, die Klausel in dem Gesetz, durch die die Verfahren, die bereits in der Verhandlungsphase sind von den durch selbiges herbeigeführten Änderungen ausgenommen sind, wird als verfassungswidrig angefochten, was aber nicht sehr wahrscheinlich zu sein scheint.

Umständehalber spielen Verjährungsfristen aber weiterhin eine nicht unwesentliche Rolle. So sind die Chancen im Verfahren zum Sturm auf die Schule deutlich besser als im Verfahren zum Horror in einer Kaserne am Rande von Genua. Dabei spielt eine Rolle, dass die Verjährungsfristen im Fall Bolzaneto nur halb so lang wie die Verjährungsfristen im Fall Diaz sind. Im Fall Diaz stehen zahlreiche höchstrangige Beamte nebst einigen Zugführern und einem einfachen Polizisten wegen Vergehen vor Gericht, für die generell aufgrund der Schwere der Straftat eine Verjährungsfrist von 15 Jahren gilt. Im Fall Bolzaneto stehen einige Polizisten, zwei Carabinieri und Angehörige der Gefängnispolizei sowie der Sanitätsdienste im Justizvollzug wegen Vergehen unter Prozess, die zumindest nach dem Strafgesetzbuch weniger schwer wiegen und daher mit geringeren Verjährungsfristen versehen sind.

Auf diese Weise steht es 15 zu 7 1/2 - das heißt, im Fall Diaz läuft die Frist 15 Jahre nach Begehung der Straftat ab, während der Fristablauf im Fall Bolzaneto mit einer einzigen Ausnahme schon nach 7 1/2 Jahren eintritt. Zieht Mensch die zum Januar 2006 bereits abgelaufenen 4 1/2 Jahre ab, bleiben für Bolzaneto nur noch knapp drei Jahre ? wahrscheinlich viel zu kurz, um den Mindestdurchlauf zur Fortsetzung der Verfahren bis in die höchste Instanz zu schaffen. Dennoch wird der Weg nicht umsonst sein. Wenn alles gut geht, kommt es im Fall Bolzaneto noch gerade so zu einem Richterspruch in der jetzt laufenden ersten Instanz. Das würde wenigstens die Fortführung der Zivilklagen ermöglichen, die neben dem von der italienischen Staatsanwaltschaft geführten Strafverfahren laufen und derzeit in diesem integriert sind.

Die Fortführung der Zivilklagen bedeutet immerhin, dass Entschädigungen erstritten werden können. Das ist nicht unwichtig, weil einige der damaligen Opfer ein Leben lang bleibende Schäden mit sich herum tragen müssen. Ob Zahnersatz, Behandlungen von chronischen Problemen in Folge der damals erlittenen Verletzungen oder Hilfe für eine nicht mehr wie früher mögliche Existenzsicherung: sollte die Strafverfolgung im Fall Bolzaneto strafrechtlich tatsächlich folgenlos bzw. mit einem Urteil zu einem Ende kommen, das für die Täter wegen Ablauf der Verjährungsfristen jenseits der Verurteilung selbst ohne konkrete Folgen bliebe, wäre immerhin - auf Grundlage der Erkenntnisse aus dem Strafverfahren - eine Fortsetzung der Zivilverfahren möglich, bei der eine Verurteilung der Täter bzw. der Ministerien, in deren Diensten diese standen zum Schadenserstaz möglich wäre. Zwei Anwältinnen, die in den Tagen von Genua auf der Straße Polizeigewalt augesetzt waren und ein Zivilverfahren eingeleitet hatten, waren in diesem Sinne beispielsweise bereits erfolgreich.

Im Fall Diaz könnte hingegen binnen 15 Jahren - also innerhalb der doppelten Zeit - durchaus die dritte Instanz erreicht werden, wodurch die so genannten strafrechtlichen Konsequenzen eine schon viel realistischere Chance haben. Jenseits von etwaigen Haft- und Geldstrafen geht es dabei nicht zuletzt darum, dass die Täter im Fall Diaz bei Verurteilung auch unwiderruflich aus dem Polizeidienst scheiden müssten. Unter denen, die es potenziell treffen könnte, befinden sich etliche Beamte, die in höchsten Ämtern sind, wie etwa Gianni Luperi und Francesco Gratteri. Der eine ist Vizechef der Antiterrorpolizei, der andere bedeckt ein ähnlich hohes Amt in der Abteilung "special ops". Hintergrund der kürzeren Verjährungsfristen im Fall Bolzaneto ist, wie gesagt, eine unterschiedliche ?Schwere? der Straftaten, obwohl die Untaten der Polizei in Bolzaneto denen, die in der Diaz-Schule von Polizisten verübt wurden in Nichts nachstehen. Sie kommt deshalb zustande, weil Italien keinen Folter-Paragraphen kennt, der Misshandlungen und Terror, wie sie in Bolzaneto stattgefunden haben, angemessen ahndet, obwohl Italien auf der betreffenden Ebene sämtliche entsprechende internationalen Konventionen unterschrieben hat. In Sachen Terror und Gewalt geht es in Bolzaneto rechtlich also ?nur? um gefährliche Körperverletzung und so etwas wie Nötigung, die eben so eingestuft sind, dass die Verjährungsfrist nur kurz ist.

Soviel zur jetzigen Situation, mit der kaum ein Mensch noch zu rechnen wagte. Während im Fall Bolzaneto inzwischen schon seit Wochen die Zeugenvernehmungen stattfinden, gehen diese im Fall Bolzaneto erst in diesen Tagen an den Start. Mit Hilfe der Zeugenaussagen werden sich die Richter in den nächsten Monaten bzw. Jahren - zumindest teilweise - ein Bild dessen machen, was sich damals in Genua abgespielt hat. Sofern sich schon eine erste Einschätzung abgeben lässt, könnte es sein, dass sich etwas wiederholt, das den seinerzeit über Jahre ermittelnden Staatsanwälten widerfahren ist. Diese mussten eines Tages feststellen, dass die Aussagen der beschuldigten Polizisten oder von solchen, die als Zeugen gehört wurden, nur so vor Widersprüchen strotzten, während die Aussagen der Opfer der Untaten in Schule und Kaserne, die aus allen Erdteilen kamen, in verschiedenen Staaten und Städten lebten und sich weitestgehend nicht untereinander kannten, aufs eindrucksvollste immer wieder genau gleiche Abläufe schilderten. Mit Sicherheit wird sich zutragen, dass die Verteidigung der Ordnungshüter, die vor Gericht stehen versuchen, die Aussagen der Zeugen in Frage zu stellen. Die Kraft dessen, was die Zeugen wissen, weil der Horror von dem die Rede sein wird vielmehr ganz wahrhaftig jedem einzelnen von ihnen wirklich passiert ist, dürfte aber weit stärker sein, egal wie sehr diese Verteidigung versucht, noch irgendetwas zu retten. Das ist auch gut so, weil nicht viel für ein besseres Klima rund um Genua in der italienischen Landschaft spricht.

Gerüchte, dass Genua nach Jahren des Schweigens, während denen bestenfalls wiederholte Versuche erfolgten, die damaligen Protestierenden zu kriminalisieren, wieder Thema werden könnte, weil Wahlkampf ist und die Linksdemokraten bei einer etwaigen Machtübernahme sogar eine Untersuchungskommission einrichten wollen, dürfen getrost nicht allzu ernst genommen werden, weil sie eher unrealistisch sind. Eine erhoffte Wende in der Art und Weise, wie Genua in der gesellschaftlichen Debatte, in Politik und Medien dargestellt wird, ist eigentlich wirklich nicht zu erwarten. Das, was eher zutrifft ist, dass es Menschen (wie die Eltern von Carlo Giuliani) und Kreise gibt, welche seit Längerem die Einrichtung von einer unabhängigen Untersuchungskommission fordern, die nicht zuletzt der Ermittlung der politisch Verantwortlichen in Regierung und Polizei dienen soll. Im Besonderen haben auch Angehörige des ?zivilgesellschaftlichen? Flügels dessen, was bleibt an Zusammenhängen, die sich noch für Genua engagieren, seit ewig quasi an den eigenen Pappenheimern in der linksliberalen Landschaft gearbeitet, um ihnen Versprechen abzutrotzen, dass sie, wenn Mittelinks an die Macht kommt, so etwas in die Richtung unterstützen werden. Das aus ihrer Sicht sicher gut gemeinte und auch schlüssige Vorhaben dürfte, bei allen errungenen Versprechen, allerdings weit davon entfernt sein, Realität zu werden.

Es ist, wie es ist: Ein Paar Leute, die bei Regierungswechsel als Persönlichkeiten im Parteienbündnis, das am 9. April gegen Berlusconi antritt eine gewisse Rolle spielen, haben im Laufe der Zeit etwas versprochen, das sie bei den eigenen Leuten aber, wenn die Zeit gekommen sein wird, eigentlich nur mit Mühe durchsetzen können werden. Möglicherweise müssen jene, die so sehr darauf gesetzt hatten, nicht einmahl den Wahlausgang abwarten, um zu sehen, ob auf Worte Taten folgen. Wie bekannt, hatte es geheißen, sie hätten es immerhin geschafft, die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission in die Wahlprogramme von Prodi und Bertinotti zu hieven. Das hat sich offenbar für 's erste zerschlagen. Als am 10. Januar der aktuelle Entwurf des Wahlprogramms des Bündnisses um Prodi und Bertinotti bekannt wurde, gab es sofort lautstarken Protest. Eine parteiübergreifende Kommission sollte auf der Grundlage eines im vergangenen Herbst von Udeur bis Rifondazione Comunista einheitlich abgesegneten Einheitsdokuments ein vollendetes Bündnisprogramm für die Wahlen schmieden, in welches die in jenem Einheitsdokument enthaltenen Programmpunkte, die zuvor in 14 thematisch sortierten runden Tischen parteiübergreifend erarbeitet worden waren, integriert werden sollten.

Hierzu konstatierte die Zeitung ?Liberazione? am 11. Januar: ?Das Dokument, bzw. der ?Entwurf?, ist durch die Bank so: Hier lässt es aus, dort streicht es, dort verdreht es?. Das gilt auch für Genua. Von Genua ist im besagten Entwurf offenbar nichts mehr zu finden. Rifondazione Comunista und die Grünen haben sofort sehr scharf protestiert ? natürlich grundsätzlich, d.h. nicht speziell wegen dem verschwundenen Programmpunkt zur Untersuchungskommission in Sachen Genua, weil es bei dem, was nicht mehr im Programmentwurf auftaucht, um weit mehr als nur darum geht. Der Protest dürfte aber nicht viel helfen: als im vergangenen Herbst Vorwahlen zum Bündnis gegen Berlusconi stattfanden, stellten sich wieder Erwarten gut vier Millionen Menschen an, um kund zu tun, dass sie beabsichtigen, ein Linksbündnis zu wählen, damit Berlusconi endlich verschwindet. Es waren so viele, dass es nicht einmal genug Stimmzettel gab. Bertinotti blieb damals allerdings mit 14,7 gegen 74,1% weit hinter Prodi zurück. Der wohnte zwar selbst der Tagung bei, auf der vereinbart wurde, dass eine Kommission die Ergebnisse der runden Tische in das Bündnisprogramm integrieren sollte. De facto hat aber sein enger Gefolgsmann Papini dann für eine extreme inhaltliche Verschiebung zur Mitte gesorgt, durch die nun aus dem Programm allerhand verschwunden ist oder "angepasst" wurde. Das werden Bertinotti und Grüne vermutlich kaum noch gerade biegen können.

?Liberazione? betont, bei aller Kritik des Entwurfs, es handle sich dabei ersteinmal bloß um einen solchen und dass sich also noch etwas ändern könnte. In Sachen Genua und nicht nur dürfte es aber nicht einmal dann besser aussehen, wenn das eine oder andere im endgültigen Wahlprogramm doch noch eine fairere Berücksichtigung finden würde. Die Frage ist ja immer, wieviel eine Partei sich an ihr Wahlprogramm hält, wenn 's einmal geschafft ist: Niemand, der politisch aufgeweckt und sonst halbwegs bei Trost ist, rechnet in Italien bei einer etwaigen Machtübernahme des Bündnisses um Prodi nach den Wahlen am 9. April wirklich mit einer merklich milderen, gar kritischeren Politik. Dazu sind die Erfahrungen aus der Vergangenheit einfach zu schlecht... und auch der Umgang der Politiker von Prodi-Trupp bis DS in Bezug auf den brandaktuellen, wirklich megastarken, landesweit superbejahten Widerstand gegen eine Hochgeschwindigkeitsbahn in einem Alpental bei Turin (Val di Susa), kann keine anders lautende Hoffnung erwecken.

Wie die Mittelinks-Vorsteher von Prodi bis Fassino (Ein DS, also ein Linksdemokrat, der sogar aus besagtem Tal stammt) mit der zuletzt im Susatal wiederholt aufgetretenen Polizeigewalt und der drastischen militärischen und polizeilichen Besetzung des Territoriums in Zusammenhang mit jenem Aufsehen erregenden Widerstand im Turiner Hinterland umgehen, zeigt zum Beispiel unmissverständlich, dass die Linksliberalen und erst recht die Bündnispartner vom linken Flügel der Mitte weiterhin für nen reichlich strammen innenpolitischen Kurs stehen. Das ist aber, genauer gesehen, nichts Besonderes. Auch Rot-Grün hat innenpolitisch ja nicht gerade liberaler als Schwarz gehandelt. Nichts spricht dafür, dass es in Italien anders laufen sollte.

Dagegen, dass Genua als Wahlkampf-Thema dafür sorgen könnte, dass die laufenden Verfahren wieder ? und möglichst ?anders? als bisher - Gegenstand einer echten gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden, spricht aber auch noch etwas anderes, das unter kritischen und erst recht linken Beobachtern der aktuellen Entwicklungen eigentlich nicht ohne Berücksichtigung bleiben sollte: Die damaligen G8 Sicherheitsstrukturen von internationalem Lagezentrum bis Rote Zone samt Vorarbeiten von Schwarze Listen Transfers bis Black Bloc Propaganda kamen nämlich UNTER DEN LINKSDEMOKRATEN zustande - und das klein-Genua einschließlich eines klein-Bolzaneto in Neapel am 11. März 2001 fand sogar komplett, also nicht nur als Konzept, sondern auch unmittelbar als Einsatz, unter einer linksdemokratischen Regierung statt.

Berlusconi kam seinerzeit erst kurz vor dem G8 auf seinen Sessel. Dies ganz objektiv, auch wenn er und seine Partner deshalb nicht bessere Menschen sind und in den wenigen Wochen unter Berlusconi vor Genua durchaus noch manches passierte. Gerade jenes klein-Genua in Neapel und Genua selbst könnten jedenfalls für einige Komponenten des jetzigen Wahlbündnisses gegen den Chef von Forza Italia durchaus einen möglichen Grund darstellen, um - Wahlkampf und Druck von Rifondazione Comunista, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen hin oder her - nicht wirklich auf Genua setzen zu wollen, weil wohl oder übel zuviele der eigenen Leute angesichts dieser Tatsachen ja irgendwie darin verstrickt sein müssen.

[indymedia.de, von nichtsowichtig - 14.01.2006 00:42]