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2006-03-29

29.3.2006 Genua

- Prozessbeobachter aus Politik und Gesellschaft besuchen G8-Verhandlungen

- Ein unglaubliches Puzzlespiel

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Prozessbeobachter aus Politik und Gesellschaft besuchen G8-Verhandlungen

Presseerklärung
28. März 2006

In Genua (Italien) finden gegenwärtig zwei in seiner Art und Umfang einzigartige Gerichtsprozesse gegen teilweise höchstrangige Beamten der italienischen Polizei statt. Deutsche Prozessbeobachter aus Politik und Zivilgesellschaft nehmen an den Verhandlungen teil. In der vergangen Woche besuchte der Berliner Politikwissenschaftler Prof. Wolf Dieter Narr vom Komitee für Grundrechte und Demokratie die Verhandlungen. Mit Blick auf das Vorgehen von Polizei, Politik wie auch der Justiz sprach er von "einem einzigen Skandal".

Gegenstand der Verhandlungen sind die erschütternden Ereignisse während des G8-Gipfels 2001, als Polizeieinheiten die Schule "A. Diaz" mit äußerster Brutalität überfielen, welche von Demonstranten als Unterkunft genutzt wurde.* Die 93 teilweise schwerverletzten Opfer der Polizeirazzia wurden noch tagelang illegal in einer Polizeikaserne und verschiedenen Gefängnissen, bzw. in den Krankenhäusern festgehalten.
Seit November 2005 macht sich das Gericht in den laufenden Zeugenaussagen der mehr als 40 geschädigten deutschen Demonstranten ein Bild von den skandalösen Ereignisse in der Diaz-Schule. Doch vor Gericht steht nur eine kleine Anzahl von 29 Polizeibeamten, da die Mehrzahl der Polizisten während ihrer Taten vermummt waren und die Polizei die Kooperation zur Aufklärung der Verbrechen behindert.
In dem zweiten Verfahren geht es um die Ereignisse in der Polizeikaserne "Bolzaneto", wo während der G8-Tage rund 270 Demonstranten Opfer von Polizeibrutalität und Willkür wurden. Mehr als vier Jahre vergingen damit bis zur Eröffnung der Prozesse. Im Falle der Verfolgung der Straftaten im Bolzaneto-Verfahren droht eine Verjährung der Anklagen gegen die 45 Polizisten und Mediziner, noch bevor das Verfahren abgeschlossen werden kann.

* Anlässlich der deutschen Zeugenaussagen reisen mehrere unabhängige Prozessbeobachter ab Ende März nach Genua. Dies geschieht vor dem Hintergrund der halbherzig erscheinenden Bearbeitung der Ermittlungen und Verfahren in Italien
* dem Interesse eine Diskussion über Polizeipraktiken und Bürgerrechte anzustoßen
* der nötigen mentalen und politischen Unterstützung der Opfer

In der nächsten Phase der Beobachtung fahren Michael Leutert (MdB Linke, vom 3. bis 6. April) und Paul Schäfer (MdB Linke, vom 11. bis 13. April) nach Genua. Wir bieten der Presse exklusive Möglichkeiten für Interviews und Gespräche mit Betroffenen und den Prozessbeobachter in Deutschland und Italien an.

Genaue Informationen zu den Prozessbeobachtern und ihren Reisen können bei uns gern jederzeit angefordert werden. Kontakt: info [at] supportolegale.de

* Hans Christian Ströbele (Grüne) hatte die Ereignisse damals als "chilenische Verhältnisse" bezeichnet.

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Ein unglaubliches Puzzlespiel

Nachwehen von Genua 2001: Mirco Schleiting fuhr an den Ort des Grauens, um vor der italienischen Staatsanwaltschaft als Zeuge auszusagen. Opfer waren erst die Angeklagten
"Das sind Bilder, die sich im Kopf einbrennen." Mirco Schleiting (29) wird nie vergessen, was er beim G8-Gipfel in Genua 2001 erleiden musste. Er gehörte zu den 93 Menschen, die in der Nacht vom 21. auf den 22 Juli in der Diaz-Schule, wo die Globalisierungsgegner übernachteten, von italienischen vermummten Polizisten brutal zusammengeschlagen, festgenommen und misshandelt wurden. Jetzt war er einer der 46 deutschen Zeugen, die von der italienischen Staatsanwaltschaft eingeladen, in Genua zu den Taten befragt wurden und werden. Der Grund: Am 6. April 2005 wurde endlich der Hauptprozess gegen die an den Übergriffen Beteiligten begonnen. Nicht die Peiniger der Demonstranten werden zur Verantwortung gezogen, sondern deren Vorgesetzte, die den brutalen Einsatz befahlen. Falschaussage und Verleumdung, Körperverletzung in besonders schwerem Fall, willkürliche Durchsuchung, Hausfriedensbruch, Unterschlagung und Gewaltanwendung im Amt, Diebstahl, Sachbeschädigung - die Liste der Tatvorwürfe ist umfangreich.

Die Opfer waren zunächst selbst angeklagt worden, wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zum Zwecke der Verwüstung und Plünderung. Mirco Schleitning: "Abstruse Beschuldigungen, es war der Versuch, uns zu kriminalisieren."

Jetzt geht es in Genua darum, durch die Zeugenaussagen trotz der Vermummung Einsatzgruppen bestimmten Taten zuzuordnen. Mirko Schleiting: "Ein unglaubliches Puzzlespiel. Ich weiß noch, wie ein Helm aussah oder die Hose, die derjenige trug, der auf mich einschlug." Überhaupt müsse man bei diesem Prozess die Besonderheit berücksichtigen, dass die Polizei, die ja normalerweise dem Staatsanwalt zuarbeite, jetzt aber versuche, Beweise zu unterschlagen. Ob er sich nicht wünsche, die Sache endlich vergessen zu können? "Ja, darüber denkt man schon nach. Aber man kann etwas bewirken - für 25 Angeklagte stehen die Terror-Vorwürfe noch im Raum, und darauf stehen bis zu 15 Jahre Gefängnis."

50 Anwälte sind mit der Klärung der Straftaten beschäftigt, eine Gruppe Ehrenamtlicher hat 250 Stunden Videomaterial sowie tausende von Beweisfotos gesammelt. Mit dem Prozessende wird erst in zwei Jahren gerechnet."Für 25 Angeklagte stehen die Terror-Vorwüfe noch im Raum"

[WAZ Oberhausen, 27.03.2006]

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Ein unglaubliches Puzzle-Spiel

PROZESS / Mirco Schleiting stand in Genua als Zeuge vor Gericht: Wer war verantwortlich für den Sturm der Diaz-Schule? An alles kann Mirco Schleiting sich nicht erinnern. Immerhin habe ihm einer der Polizisten gegen den Kopf getreten, und das alles sei ja auch schon lange her, sagt der 29-Jährige. Aber Schleiting weiß genug, um für die Genueser Staatsanwaltschaft als Zeuge wichtig zu sein: Vergangenene Woche reiste der Oberhausener nach Italien, um im Prozess gegen die Polizisten auszusagen, die verdächtigt werden, für den Sturm der Diaz-Schule während des Weltwirtschaftsgipfels 2001 verantwortlich zu sein. "Es ist wichtig, dass das juristisch geklärt wird"

Schleiting und andere Oberhausener waren nach Genua gefahren, um während des G8-Gipfels zu protestieren (die NRZ berichtete). Die Gruppe hatte mit anderen Demonstranten vom 21. auf den 22. Juli in der Diaz-Schule übernachten wollen - als italienische Polizisten die Globalisierungskritiker überfielen und mehr als 100 Männer und Frauen zusammengeschlugen. Schleiting kam mit Platzwunden, einer Rippenprellung und Blutergüssen davon. Dass er nicht noch schlimmer verletzt wurde habe wohl daran gelegen, dass er "toter Mann" gemacht habe.

25 Polizisten stehen jetzt in Genua vor Gericht, doch weil sich nicht rekonstruieren lässt, wer bei dem Sturm dabei war, sind es hauptsächlich leitende Beamte. Sie müssen sich wegen Körperverletzung in besonders schwerem Fall, Falschaussage, Verleumdung, willkürlicher Durchsuchung und anderer Delikte verantworten.

"Es ist ein unglaubliches Puzzle-Spiel", sagt Schleiting; allein 126 Menschen, die in jener Nacht Schaden erlitten, werden aussagen, dazu Zeugen wie Journalisten oder Sanitäter. 250 Stunden Video-Material, zehntausende Fotos und der mitgeschnittene Polizeifunk werden ausgewertet.

Schleiting erzählte vor Gericht, an was er sich erinnert: Die blauen Uniformhosen mit der gepolsterten Knie-Partie, die er erkennen konnte, obwohl er auf dem Boden kauerte und die Hände schützend über den Kopf hielt. Die Uniform lässt auf bestimmte Spezialtrupps der italienischen Polizei schließen. "Das ist das, was die Staatsanwaltschaft wissen will", sagt Schleiting, "welche Einheit wann wo war."

Diese Nacht und alles, was danach kam, die Misshandlungen und Erniedrigungen im Gefängnis, hinter sich zu lassen, ist für Mirco Schleiting schon ein verlockender Gedanke. Da helfen solche Termine wie der letzte Woche vor Gericht nicht. Aber: "Es ist wichtig, dass das, was damals passiert ist, auch mal juristisch geklärt wird."

[NRZ Oberhausen, 27.03.2006]