Wie die globale Linke wieder in die Offensive kommen und den Kapitalismus überwinden kann. Von Karl Heinz Roth
Zweifellos können wir davon ausgehen, dass für die globalen Unterklassen, die überwiegende Mehrheit der derzeit 6,4 Milliarden Menschen, der Kapitalismus seine sozialen Legitimationsgrundlagen verloren hat. Er hat vor aller Augen seine Zerstörungskraft bewiesen, indem er immer mehr Menschen in seine Verwertungsdynamik einsaugt, ohne ihnen als Gegenleistung dafür die Mittel in die Hand zu geben, die sie für die Reproduktion ihres Lebens benötigen; zugleich hat er aber auch auf allen Ebenen seiner Wertschöpfungskette hunderte von Millionen Menschen enteignet und erwerbslos gemacht.
Diese Erwerbslosen und ungesichert Exploitierten stellen heute die überwiegende Mehrheit der globalen Unterklassen. Der Anteil der erwerbslos Gewordenen schwankt zwischen zehn Prozent in der transatlantischen Metropole und 25 bis 35 Prozent in den Schwellen- und Transformationsländern sowie der Peripherie. Auf diesem Sockel der "Überzähligen" baut sich eine Pyramide prekärer Arbeitsverhältnisse auf, die inzwischen überall auf der Welt vorherrschend geworden sind.
Die überwiegende Mehrheit der globalen Unterklassen lebt heute "von der Hand in den Mund". Dieser Überlebenskampf zerfrisst ihren Alltag, aber er betäubt ihre Sorgen und Ängste vor Krankheit, Invalidität und Alter und vor der Perspektivlosigkeit ihrer Kinder nur teilweise. Die "große Furcht" greift um sich. Sie entlädt sich immer wieder in spontanen Widerstandsaktionen, verbindet sich aber auch zunehmend mit den Schutzangeboten der spirituellen Heils- und Erlösungslehren, in deren Tempeln die Entrechteten und "Überzähligen" ihre menschliche Würde wiedererlangen.
Diese sozialökonomischen Zurichtungen sind schon bitter genug. Unerträglich werden sie aber erst dadurch, dass die Vordenker, Bürokraten und Propagandisten des aktuellen Zyklus die Erwerbslosen und Prekären mit habituellen Normen konfrontieren, die in ihrer Summe als "offene Gesellschaft" bezeichnet werden, in der alle, die es nur wollen, ihre nicht mehr nachgefragte Arbeitskraft selbst "inwertsetzen" können.
Die Überlebenskämpfe der Subsistenzarbeiter und -arbeiterinnen der Slum Cities werden als erste Schritte zu unternehmerischer Selbständigkeit gefeiert, und die um ihre Lebensperspektiven betrogenen Erwerbslosen der Metropolen werden zur Gründung von "Ich-AGs" aufgefordert. Auf diese Weise wird die Tatsache verschleiert, dass das Kapital sich von der "Arbeitsgesellschaft" des voraufgegangenen Zyklus für immer verabschiedet hat, an ihren habituellen Normierungen aber unverändert festhält, indem es die neuen proletarischen Zustände dem Reich der "unternehmerischen Freiheit" zuschreibt.
Privilegien und Kritik
Aus allen diesen Zumutungen lässt sich aber noch lange nicht die Erwartung herleiten, dass die globalen Unterklassen über kurz oder lang gegen das Weltsystem revoltieren werden, um es ihren Bedürfnissen nach sozialer Gerechtigkeit und gesicherten Existenzgrundlagen zu unterwerfen und entsprechend umzugestalten. Der Kampf um das nackte alltägliche Überleben in den Slum Cities und Schattenwirtschaften der Peripherie, die zermalmenden Effekte des Booms in den Schwellenländern und die in den Metropolen um sich greifende "große Furcht" vor den Folgen der dahinschwindenden sozialen Existenzsicherungen verzehren die Energien der meisten. Hinzu kommen in vielen Fällen neuartige spirituelle Angebote zur Bewahrung der Menschenwürde sowie zur sozialen Selbsthilfe in abgeschotteten kleinen Gemeinschaften, aber auch die systematische Desinformation durch die audiovisuellen Medien, die die subalternen Klassen nicht zuletzt im Ergebnis wachsender Analphabetisierung in ganz andere Richtungen lenken.
Bis zu einer gewissen Grenze sind wir selbst gegen derartige Ventilmechanismen gefeit - und zwar nicht zuletzt deshalb, weil wir das Privileg genießen, uns mit unseren globalisierten Informationsmöglichkeiten und den in unseren Studierstuben erworbenen analytischen Instrumentarien sehr weit über die Begrenzungen eines mehr oder weniger prekären Lebensvollzugs hinauszubewegen.
Resultiert aber aus diesen - wie bescheiden auch immer arrangierten - Privilegien nicht auch eine gesellschaftliche Verantwortung? Dürfen wir uns mit mehr oder weniger unverbindlichen Kontemplationen über die Weltläufte begnügen, oder haben wir nicht auch eine Mitverantwortung gegenüber dem anwachsenden "Elend der Welt"? Und sollen wir uns, falls wir dies bejahen, darauf beschränken, den subalternen Klassen eine Stimme zu geben, oder sollen wir noch einen Schritt weiter gehen und mit ihnen einen Dialog über mögliche Wege zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit aufnehmen?
Zu Beginn des vergangenen Jahrs habe ich mich nach einigem Zögern wieder einmal über das behagliche Ambiente des mehr oder weniger unverbindlichen linksintellektuellen Diskurses hinausgewagt. Ich habe im Ergebnis erster Hypothesen über die Effekte der neuesten Globalisierungsprozesse vorgeschlagen, weltweit verortete kommunalsozialistische Initiativen zu starten, sie über die Migranten und die Transport- und Kommunikationsarbeiter global zu vernetzen und im Fall einer erfolgreichen Implementierung dieses Prozesses auch alle jene Traktanden einer sozialistischen Alternative in Angriff zu nehmen, die nur noch aus einer globalen Perspektive zu lösen sind.
Für dieses Wagnis in die Richtung einer von den aktuellen Weltzuständen ausgehenden konkreten Utopie habe ich viel Zuspruch erfahren, aber auch massive Schelte bezogen. Sie kam vor allem aus dem eigenen politischen Umfeld. Aber auch die sozialstaatsfixierten Kritiker des globalisierten Neoliberalismus konnten und wollten mit derartigen Überlegungen nichts anfangen. Ich bekam somit aus zwei entgegengesetzten Richtungen die rote Karte gezeigt. Das veranlasste mich, meine Vorschläge nochmals zu überprüfen und darüber nachzudenken, ob ich den von mir offensichtlich aufgespürten "dritten Weg" weiterverfolgen oder wieder verlassen sollte.
Zunächst zur Kritik von sozialrevolutionärer Seite. In einer weithin beachteten Stellungnahme wurde ich darauf hingewiesen, dass ein metropolitaner Blick auf die Dinge leicht dazu verleite, sich innerhalb der radikalisierten Mehrwertkette eine privilegierte Nische zu sichern. Ich sollte vielmehr die Ohren spitzen und zur Kenntnis nehmen, welche Erfahrungsprozesse die überausgebeuteten Wanderarbeiter Chinas und die revoltierenden polnischen Bergleute und Eisenbahner machten und welche Gerechtigkeitserwartungen sie transportierten. Ich wurde - mit Walter Benjamin - belehrt, dass das "Subjekt der historischen Erkenntnis � die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst" ist. In diesem Sinn müsse man sich an der weltweiten Entfaltung der Kämpfe und den aus ihnen hervorgehenden Gerechtigkeitsvorstellungen orientieren. Das Subjekt der Gegenperspektive von unten seien vor allem die chinesischen Wanderarbeiter mit ihren vielfältigen wie radikalen Kampfformen. Sie hätten inzwischen ein "welthistorisches Gewicht" erlangt, das den Bauernarbeitern der russischen Revolution gleichkomme.
An dieser Kritik ist viel Wahres, auch wenn sie die Rahmenbedingungen einer transnational angelegten Analyse etwas vorschnell mit der Bannbulle des "Metropolenblicks" belegt hat. Aber sie löst mit ihrem Verweis auf die revoltierenden Anderen nur einen Teil der Probleme, die uns selbst umtreiben.
Im Gegensatz zu dieser Kritik aus dem sozialrevolutionären Lager haben sich die post-keynesianischen Sozialstaatsreformer kaum aus der Reserve locken lassen. Sie sind achselzuckend weitergegangen, denn sie arbeiten seit über einem Jahrzehnt an einer programmatischen Alternative zum gegenwärtigen neoliberalen Regime und sind fest in den neuen Sozialbewegungen verankert. Ihre Initiative ist systematisch durchdacht und verrät einen ausgeprägten pragmatischen Sinn für das Machbare. Sie wollen an den etablierten Strukturen der National- bzw. Supranationalstaaten ansetzen, die Hebel zu einer neu aufgelegten "entscheidenden Reform" umlegen und jenen neuen Ufern zustreben, die sie in ihren jährlich erscheinenden Memoranden zur deutschen und zur EU-Politik definiert haben.
Ihnen können wir entnehmen, dass sie als erstes auf nationaler wie supranationaler Ebene defizitfinanzierte Investitionsprogramme auflegen, den öffentlichen Sektor wiederherstellen und alle wichtigen makroökonomischen Parameter auf den Vorrang der Vollbeschäftigung ausrichten werden. Zusätzlich werden die in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Weltsozialforen deutlich nach links gerückten Post-Keynesianer nicht nur die Steuer- und Kapitalflucht zügeln, sondern auch ein arbeits- und sozialpolitisches Schwerpunktprogramm in Gang bringen, das die antizyklische Wirtschaftspolitik von unten her in Gestalt von Mindestlöhnen, Mindestrenten und einem garantierten Grundeinkommen mit einem erheblichen Kaufkraftschub unterfüttern wird.
Unter diesen vor allem durch die Gewerkschaften und die Sozialbewegungen mitgetragenen Rahmenbedingungen sollen dann auch der Privatisierungsausverkauf der Kommunen gestoppt und die riesigen innereuropäischen Wertschöpfungs- und Einkommensgefälle schrittweise aufgehoben werden. Auf der internationalen Ebene soll schließlich dem Dominanzanspruch der USA Einhalt geboten, die Entwicklungshilfe verstärkt und eine Initiative zur großzügigen Entschuldung des globalen Südens gestartet werden.
Dieses Programm ist zweifellos gründlich durchdacht und mit umfangreichen Analysen zur Abstimmung der staatsinterventionistischen Maßnahmen mit einer Revitalisierung der gewerkschaftlichen Lohnpolitik auf europäischer Ebene unterlegt. Ob es sich auch politisch-institutionell durchsetzen lässt, werden die nächsten Jahre zeigen. Aber selbst wenn dies scheitern sollte, bleibt die Tatsache unverkennbar bestehen, dass das sozialstaatlich-keynesianische Regulierungsprojekt sich nicht nur merklich erneuert hat und den neoklassischen Dogmatismus zunehmend in die Defensive drängt, sondern auch auf die politisch-programmatische Gestaltungsbühne zurückgekehrt ist. In Lateinamerika ist dieser Prozess inzwischen offensichtlich sogar noch weiter fortgeschritten als in Europa.
Kritik und Staat
Die "multipolaren" Risiken dieses Reformprogramms müssen erörtert werden. Im Folgenden werde ich mich allerdings auf einige kritische Ergänzungen beschränken, die ich für besonders wichtig halte. Ich glaube erstens nicht mehr, dass die Staaten bzw. Supranationalstaaten adäquate Adressaten und Akteure von Reformprogrammen sein können, die das kapitalistische Weltsystem für eine weitere, sozialstaatlich regulierte "lange Welle" fit machen. Wenn wir das Gesamtprogramm der Post-Keynesianer einmal als "exogenen Faktor" ansehen und gewichten, dann kommen wir schnell zum Ergebnis, dass dieser unter den aktuellen Verhältnissen nicht mehr stark genug sein wird, um das Steuer herumzureißen. Dafür fehlen ihm schlicht und einfach die globalen Angriffspunkte.
Stattdessen werden wir einen spannenden Wettlauf des lateinamerikanischen und des europäischen Kontinentalblocks mit den Gegenkräften des Weltsystems erleben, die mit einem dramatischen Währungsverfall und einer noch dramatischeren Kapitalflucht beginnen und die Post-Keynesianer entweder in die Knie oder zu immer stärker dirigistischen Aktivitäten zwingen werden. Das große Manko der Post-Keynesianer liegt in der Tatsache, dass sie bis heute kein "Welt-Memorandum" vorgelegt und uns darin mitgeteilt haben, wie sie ihr Modell glaubwürdig zu globalisieren gedenken.
Zweitens - und das halte ich für weitaus wichtiger - sind die Strukturen einer wie immer auch verfassten staatlichen Gouvernementalität keine Adressaten für sozialistische Politik mehr. Das Modell beider Flügel der traditionellen Arbeiterbewegung, erst die Staatsmacht zu erobern und dann mit den Instrumentarien der "subjektlosen Gewalt" (Heide Gerstenberger) zur Tat zu schreiten, hat historisch versagt. Es ist sowohl in seiner sozialdemokratischen wie in seiner kommunistischen Ausformung in der Gouvernementalität steckengeblieben.
Wir sollten uns nicht mehr der Mühe unterziehen, die von den Neoliberalen und Neokonservativen zu Repressionsapparaten deformierten Nationalstaaten als kompensatorisch-sozialpolitische Umverteilungsmaschinen zu revitalisieren, sondern über sie hinweg zur Tagesordnung übergehen. Die National- und Supranationalstaaten sind nicht mehr unsere Adressaten, sondern nur noch ein Problem. Insofern hat sich die Gegenmacht-Perspektive der Arbeiterbewegung um 180 Grad gedreht: Wie können wir die in den Nationalstaaten zusammengefassten Gewaltstrukturen neoliberal-neokonservativ konfigurierter Klassenherrschaft umgehen - oder aber leer laufen lassen?
Drittens und letztens müssen wir fragen, woher die Post-Keynesianer die Gewissheit nehmen, dass die subalternen Klassen heute noch an dauerhaften und sie alle erfassenden und subsumierenden kapitalistischen Arbeitsverhältnissen interessiert sind. Schon in der Vergangenheit haben sie die Knochenmühlen der Lebenszeit-Vollbeschäftigung nur deshalb in Kauf genommen, weil sie mit sozialen Existenzgarantien verbunden waren. Heute, in einer Zeit gewaltig weiterentwickelter Arbeitsproduktivität und fortschreitender Individualisierung, akzeptieren sie diesen link nicht mehr, und er ist auch sozialökonomisch nicht mehr nötig, weil die zur gesellschaftlichen Reproduktion erforderliche notwendige Arbeit auf ein Minimum gesunken ist.
Und dabei ist es bis heute geblieben, obwohl die subalternen Klassen seit nunmehr zwei Jahrzehnten der Peitsche von Massenerwerbslosigkeit und Prekarisierung ausgesetzt sind, durch die ihre neuen Bedürfnisse nach flexibler und selbstbestimmter Arbeit konterkariert werden. Zweifellos hat die den aktuellen Zyklus prägende Konzeption einer "strategischen Unterbeschäftigung" bei vielen zu kurzfristigen Anpassungsleistungen geführt. Aber die Konzessionen an die mit dem Bezug immer schmalerer Sozialeinkommen verbundenen Zumutungen waren nur taktischer Natur. Strategisch haben sie sich von der "Arbeitsgesellschaft" verabschiedet, und sie wissen sehr wohl, warum dieses habituelle Flaggschiff des vorangegangenen Zyklus unter den herrschenden Rahmenbedingungen nicht mehr durch eine radikale Arbeitszeitverkürzung unterfüttert werden kann, um alle "Überzähligen" in den Akkumulationsprozess zu reintegrieren.
Stattdessen fordern die globalen Unterklassen heute soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Existenzsicherung jenseits des Arbeitsdespotismus der industriekapitalistischen Entwicklungs- und Wachstumsperioden, aber auch jenseits der sozialstaatlichen Integrationsklammern der Nationen. Sicher werden sie bereit sein, die gesellschaftlich weiterhin notwendigen Arbeitsleistungen zu erbringen, wenn sie mit einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, der Einbeziehung aller früheren Erwerbslosen und der basisdemokratischen Verfügung über die Produktionsmittel verbunden sind.
Das bei allen anwachsende Budget von Nichtarbeitszeit wird darüber hinaus dringend für die frei assoziierten und basisdemokratisch verfassten Tätigkeiten im sozialistischen Transformationsprozess benötigt, die zugleich zur weiteren Entfaltung der sozialen Individualität beitragen. Zu ihnen gehört neben der Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit auch die Ausgestaltung der politischen Gleichheitsrechte, der direkten Demokratie, die das von den politischen Klassen bis zur Lächerlichkeit deformierte "repräsentative" Parteiensystem an den wirklichen Souverän zurücknimmt.
Gemessen an den aktuellen Tendenzen der Europa-Technokraten, selbst diese deformierten politischen Rechte in eine Diktatur der Regierungs- und Staatschefs umzuwandeln ("Europäischer Rat") und das Europäische Parlament als zahnloses Akklamationsinstrument der Exekutive (EU-Kommission) zu verewigen, sind die Bemühungen der Post-Keynesianer um die Rückgewinnung der parlamentarisch-politischen Regulierungen sicher als kleineres Übel anzusehen.
Sie sollten uns aber nicht dazu veranlassen, die basisdemokratischen Gegenperspektiven zurückzustellen. Die Kapazitäten der gesellschaftlichen Reproduktion und der gesellschaftliche Reichtum sind inzwischen derart weit entwickelt, dass sich eine wie reformorientiert auch immer gemeinte Programmatik, die sich auf die Revitalisierung entfremdeter Arbeit und parteienstaatlich deformierter politischer Rechte beschränkt, als Anachronismus des gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses erweisen wird.
Trotz dieser kritischen Distanzierungen sind jedoch Einzelaspekte der post-keynesianischen Programmatik überaus wichtig. Jede über sie hinwegschreitende "große Transformation" vom global-sozialistischen Typ wird sich ihrer bedienen, beispielsweise zur Stabilisierung und Homogenisierung der sozialen Einkommen und zur globalen Umverteilung und sozial gerechten Allokation der Reichtümer. Inakzeptabel ist und bleibt dagegen die ganz offenkundige Instrumentalisierung der sozialen Bewegungen als Druckmittel für einen Kurswechsel innerhalb der prinzipiell fortbestehenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse.
Global Cities, Slum Cities
Mein eigener Vorschlag kann demgegenüber als dialektische Vermittlung der beiden hier diskutierten Extreme gesehen werden, die in einem sich über mehrere Generationen hinziehenden Transformationsprozess zum Tragen kommen könnte. Unverzichtbar sind und bleiben dabei erstens die subalternen Klassen als vielfältig vernetzte Akteure, die in ihren sozialen Kämpfen Lernprozesse durchlaufen und auf allen Ebenen - lokal, territorial und global - eigenständig entscheidungs- und handlungsfähig werden.
Zweitens sollten parallel dazu aber auch Strukturen des Transformationsprozesses geschaffen werden, in denen das Erkämpfte fixiert und reproduziert werden kann, um als Ausgangspunkt für die nächsten Schritte zu dienen. Diese Verschränkung von sozial emanzipatorischer Agency und neuer systembildender Struktur eröffnet wohlgemerkt eine Perspektive für Jahrzehnte und mehrere Generationen. Räumlich werden diese Prozesse dagegen durch die Interaktion zwischen lokalen, regionalen, kontinentalen und globalen Initiativen vermittelt werden.
Entscheidend ist und bleibt dabei die lokale Ebene. Die lokalen Initiativen werden zwischen den beiden Extrempolen Global Cities und Slum Cities agieren. Qualitativ sind ihre Zielsetzungen dabei identisch: soziale Gerechtigkeit, Existenzsicherung und Gleichheit. Auf dem Weg dorthin werden überall basisdemokratische Selbstorganisationen entstehen, in denen die entscheidenden Lernprozesse stattfinden, die die Menschen zu ihrem Aufbruch zu neuen solidarisch-sozialistischen Ufern befähigen.
Demgegenüber werden die Aktionsformen, die zu diesem Ziel hinführen, durch die jeweiligen Standortbedingungen geprägt sein. In den Slum Cities wird die kommunale Sozialisierungspraxis zunächst auf die Sicherstellung der elementaren Überlebensbedingungen konzentriert sein: Boden, Wasser, Elektrizität, sanitäre Grundeinrichtungen, Einrichtung von Schulen, Ambulatorien und Volkshäusern, Ausbau des informellen Sektors zur Sicherung der materiellen Reproduktionsbedingungen usw. In den Global Cities und deren Subzentren wird dagegen die Wiederaneignung und kommunale Sozialisierung der gerade ausverkauften Infrastrukturen und Sozialfonds im Vordergrund stehen: kommunale Versorgungsbetriebe, Nahverkehr, Gesundheitswesen, Wohnungswirtschaft, Stadtteil- und Jugendzentren, Bildung, Garantielöhne und soziales Grundeinkommen usw.
Für diese Prozesse der gesellschaftlichen Wiederaneignung und ihrer kommunal-sozialistischen Fixierung und Neugestaltung werden erhebliche Ressourcen benötigt. Zugleich soll aber, vermittelt durch die auf den neuen Kommunen aufbauenden territorialen Föderationen - Regionen (wie beispielsweise südliches Afrika, Ostasien, Südosteuropa usw.) und Kontinente -, so schnell wie möglich eine egalisierende Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer in Gang kommen.
Deshalb sollte die kommunale Sozialisierungspraxis auch auf der Vermögensebene zugreifen. Dies lässt sich am ehesten durch die Abschaffung des Erbrechts bewerkstelligen: Die Geld- und Sachwerte der Kapitalvermögensbesitzer sind nach deren Tod den neuen Kommunen zu übereignen. Dies kann auf humane und respektvolle Weise und unter Berücksichtigung der legitimen Existenzrechte der Nachkommen geschehen, sodass es möglich erscheint, die mit den Eigentumstransaktionen verbundenen Gefahren gewaltsamer Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Selbstverständlich haben die weltweit aufblühenden selbst organisierten Kommunen und die von diesen ausgehenden territorialen Föderationen nur dann eine Chance, wenn sie von Anfang an in einer intensiven internationalen Vernetzung entstehen. Ihre idealen Kommunikationspartner werden die Migrantinnen und Migranten sein, die dem Prozess der sozialen Emanzipation eine unverwechselbare transkulturelle Perspektive verleihen und die Grenzregime der National- und Supranationalstaaten aus den Angeln heben.
Hinzu kommen Migranten und Migrantinnen der besonderen Art: die Transport- und Kommunikationsarbeiter, die das Weltsystem inzwischen zu kontinental und transkontinental zirkulierenden Arbeitsnomaden geformt hat. Sie konstituieren den Kern der industriellen Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts. Durch ihre Assoziation entsteht eine komplementäre Perspektive weltweiter Sozialisierung, weil sie im entscheidenden High-Tech-Sektor des transnationalen Kapitals verankert sind.
Sobald sie ihn in allen seinen regionalen, kontinentalen und transkontinentalen Verzweigungen in Selbstverwaltung übernehmen, verwandelt sich tendenziell die gesamte materielle wie immaterielle Güterproduktion und -verteilung der Welt in einen integralen Bestandteil des sozialistischen Transformationsprozesses. Die von den unmittelbaren Produzenten vorangetriebene Sozialisierung und Anpassung der übrigen Wirtschaftssektoren an die Erfordernisse der großen Umgestaltung wird Zug um Zug folgen. Auf diese Weise wird die kapitalistische Dynamik entscheidend gebrochen.
Nun kann die sich sozial und politisch demokratisierende Gesellschaft endlich die Früchte der kapitalistischen Industrialisierung ernten, die die notwendige Arbeit radikal verringert und den Anteil der lebendigen Arbeit an der Gütererzeugung gewaltig reduziert hat. Dabei wird die Entfaltung der sozialistischen Arbeiterdemokratie mit einer enormen Verkürzung der Arbeitszeiten sowie der Reintegration der früheren Erwerbslosen und Prekären einhergehen. Auf diese Weise werden sich die unmittelbaren Produzenten die erforderliche soziale Kohärenz und die Zeit für die aktive Gestaltung des Transformationsprozesses verschaffen, die sie gemeinsam mit den kommunalsozialistischen Initiativen vorantreiben.
Die lokalen und internationalen Transformationsinitiativen werden sich jedoch nicht darauf beschränken können, sich arbeitsteilig zu konstituieren und die Gegenangriffe der Mächte des kapitalistischen Weltsystems in die Schranken zu weisen. Vielmehr sollten sie sich zu regionalen Föderationen zusammenschließen, die kontinentalen Blöcke (Asean, Nafta, Apec, OAS, EU usw.) in kontinentale Föderationen umwandeln und schließlich die Vereinten Nationen in eine sozialistische Weltföderation transformieren, in der die von den Regionen bzw. Kontinenten im Rotationsverfahren entsandten Vertreterinnen und Vertreter gleichberechtigt assoziiert sind.
Unter ihrer Regie und Entscheidungskompetenz werden dann flexible Planungsinstrumente zur Bearbeitung all jener Probleme ins Leben gerufen werden, die nur noch auf globaler Ebene gelöst werden können: eine weltweit greifende Agrarreform zur nachhaltigen Stabilisierung der kleinbäuerlichen Wirtschaften des Südens und zur dauerhaften Überwindung des Hungers, die Urbanisierung der Slum Cities und die Integration ihrer Schattenökonomien, die Aufhebung aller Migrationsschranken, der Einsatz der Finanz- und Geldpolitik zur endgültigen Überwindung des Nord-Süd- und des West-Ost-Gefälles, die Egalisierung des Zugangs zu den Energieressourcen, der Stopp der Umweltzerstörung und weit reichende Maßnahmen zur Abwendung der Klimakatastrophe, aber auch die Zerstörung aller Massenvernichtungswaffen und eine damit einhergehende weltweite Rüstungskonversion sowie die Auflösung aller staatlichen Gewaltapparate.
Dagegen sollten die außerhalb der UN bestehenden Bretton-Woods-Institute (IMF, Weltbank, WTO) aufgelöst werden, weil sie wegen ihrer Koordinierungs- und Kontrollfunktion gegenüber den Nationalökonomien dysfunktional geworden sein werden, aber auch deshalb, weil ihre Kader in der Ära des Kalten Kriegs und der neoliberalen Deregulierungen allzu willig den Vorgaben der Welteliten nachgekommen sind und sie in vielen Fällen sogar noch radikalisiert haben.
Zweifellos handelt es sich bei diesem Vorschlag über weite Strecken um eine Vorwegnahme von Massenerfahrungen. Die subalternen Klassen sind in bitteren alltäglichen Überlebensanstrengungen befangen. Soweit sie dem dadurch auf ihnen lastenden Druck nicht nachgeben und die erfahrene Gewalt nach innen und unten "weiterreichen", projizieren sie ihre Bedürfnisse nach menschlicher Würde und sozialer Gerechtigkeit derzeit ganz überwiegend auf spirituelle Heilserwartungen.
Darüber hinaus gibt es aber auch wichtige konkrete Anknüpfungspunkte auf kommunaler Ebene und in den inzwischen weltweit aktiv gewordenen Sozialbewegungen. Mein eigener Vorschlag versteht sich in diesen Kontexten als ein bescheidener Versuch, die Erfahrungen des globalen sozialen Widerstands mit einer Analyse der aktuellen globalen Entwicklungstendenzen zu kombinieren und daraus eine Gegenperspektive zu entwickeln, die aus den strategischen Fehlern der vergangenen sozialistischen Transformationsvorstellungen gelernt hat.
Er wird selbstverständlich durch die Massenerfahrungen der nächsten Jahre korrigiert, vielleicht aber auch gänzlich verworfen und durch bessere Transformationsmodelle ersetzt werden. Insofern bleibt er immer der Einsicht verpflichtet, dass die "soziale Frage" nur von denen gelöst werden kann, deren Existenzrechte beseitigt wurden oder bedroht sind. Sie werden im Ergebnis ihrer Lernprozesse den aus den derzeitigen Erfahrungen des sozialen Widerstands und aus dem Wissenspotenzial der internationalen Neuen Linken zusammengetragenen konzeptionellen Vorgriff korrigieren, verwerfen oder bestätigen.
Er wird sich aber auf jeden Fall dann überlebt haben, wenn weltweit eine neue Schicht von Arbeiter-Intellektuellen entstanden ist, die die Kluft zwischen den alltäglichen Überlebensanstrengungen und den spirituell eingefriedeten Hoffnungen auf soziale und politische Gerechtigkeit und Gleichheit überwunden hat und den sozialistischen Umbruch im Habitus der kommenden Generationen verankert.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Karl Heinz Roth: Der Zustand der Welt. Gegen-Perspektiven. VSA-Verlag, Hamburg 2005. 96 S., 8.80 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.
Karl Heinz Roth ist Historiker, Autor, Mitarbeiter der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und Mitherausgeber der Zeitschrift Sozial.Geschichte. Er lebt in Bremen.