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2005-12-31

Jenseits des nationalen Sozialstaats: Weltbürgerliche Solidarität

medico-Thesen zu einem globalen Projekt sozialer Gerechtigkeit

Obwohl sich die neoliberale Globalisierung mittlerweile sowohl in einer Akzeptanz- wie einer Funktionskrise befindet, konnte die Hegemonie neoliberaler Ideologie bislang nicht nachhaltig erschüttert werden. Ein wesentlicher Grund dafür liegt darin, dass die Kritik an Form und Richtung des Globalisierungsprozesses weitgehend in defensiver Perspektive, d.h. aus der Position einer Verteidigung des klassischen Sozialstaats heraus formuliert wird. Die folgenden Thesen umreißen demgegenüber ein Projekt, dass den Neoliberalismus kritisiert, indem es nicht hinter den erreichten Stand der Globalisierung zurück, sondern über ihn hinaus will. Die Thesen sind notwendig unabgeschlossen und dienen nur erst der Verständigung.

Die an das Ende der west-östlichen Systemkonkurrenz gebundene Rede vom "Epochenbruch" hat im dritten Jahrzehnt neoliberaler Globalisierung eine sehr viel weitgehendere und tiefere Bedeutung angenommen als zum Ende der 80er Jahre.

Mittlerweile ist unübersehbar, dass der damals manifest gewordene Bruch eine grundlegende Umwälzung sämtlicher gesellschaftlicher Verhältnisse im globalen Maßstab markiert. Beseitigt wurde nicht allein die Systemkonkurrenz, sondern auch die Weltordnung, in der sie ausgetragen wurde. Diese Ordnung schien über Jahrzehnte hinweg von der tendenziell weltweiten Durchsetzung der großindustriellen Massenproduktion und eines durch diese ermöglichten Massenkonsums geprägt zu sein, gleichgültig übrigens, ob sie in liberalkapitalistischer, staatssozialistischer oder anderer Form organisiert werden sollte. Zugunsten der Verallgemeinerung sozialstaatlich abgesicherter Lohnarbeit und der auf sie gegründeten Vergesellschaftungsweisen sollte die globale Industrialisierung zur weit gehenden Beseitigung traditioneller Formen der Subsistenzproduktion vor allem im Bereich der Landwirtschaft und der Hausarbeit führen. Auf dem Wege "nachholender Entwicklung" sollte dabei zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden letztendlich derselbe soziale Ausgleich möglich werden, der innerhalb der entwickelten Industriestaaten durch ihre fortschrei-tende Ausgestaltung zum Sozialstaat erreicht worden war.

Heute ist klar, dass dieses Projekt im Fortgang der neoliberalen Globalisierung unwiderruflich gescheitert ist:

* Die von den entwickelten Industriestaaten bewusst betriebene De-Regulierung der Kapital- und Finanzströme und die mit ihr einhergehende Internationalisierung der Arbeitsteilung hat die Standort-Konkurrenz zwischen diesen Staaten soweit entfesselt, dass sie nicht länger Sozialstaaten bleiben konnten, sondern "nationale Wettbewerbsstaaten" (J. Hirsch) werden mussten. Deren Ziel aber ist die Schaffung und Garantie der jeweils bestmöglichen Verwertungsbedingungen für ein transnational freigesetztes Kapital - auch und gerade um den Preis des Um- bzw. Rück- und Abbaus sozialstaatlicher Funktionen.

* Die durch die neuen Informationstechnologien ermöglichte Internationalisierung der Arbeitsteilung hat zu einer strukturellen Massenerwerbslosigkeit geführt, mit der die materielle Grundlage bisheriger Sozialstaatlichkeit - die Verallgemeinerung der Lohnarbeit zur tendenziell weltumspannenden "Vollbeschäftigung" - hinfällig geworden ist.

* In den Staaten des globalen Südens bedingt die strukturelle Massenerwerbslosigkeit das vollständige Scheitern nahezu sämtlicher Modelle "nachholender Entwicklung". Diese Staaten konnten und können ihren Gesellschaften gar nicht erst die Möglichkeit einer Verallgemeinerung sozialstaatlich abgesicherter Lohnarbeit eröffnen. Die im Versuch der "nachholenden Entwicklung" gleichwohl erfolgte Zerstörung traditioneller Substistenz und die Konsequenzen des unwiderruflich vollzogenen Anschlusses an den Weltmarkt verschärfen die Krise in einer Verelendungsdynamik katastrophischen Ausmaßes.

* Im Norden wie im Süden führt das zu einer rapide wachsenden Massenarmut, wenigstens aber zur Prekarisierung immer größerer Teile der Gesellschaft. Viele prekär Beschäftigte sind mittlerweile auf den Status sog. "working poor" herabgedrückt, deren Erwerbstätigkeit nicht mehr zur Bestreitung des Lebensunterhalts hinreicht. Weltweit sind deshalb Millionen Menschen gezwungen, sich ihre Möglichkeit des Überlebens in informellen Schattenökonomien zu suchen. Wiederum für Millionen kann selbst diese Möglichkeit nur noch durch Arbeitsmigration realisiert werden. Gleichzeitig wächst unterhalb der für die Informalität wie die Migration geltenden Lebensbedingungen die Zahl derjenigen, die gänzlich von der Hilfe anderer abhängig sind - Kriegs- und Gewaltopfer, Vertriebene, Flüchtlinge, Alte, Kranke und Kinder. Wo jede sozialstaatliche Absicherung und zuletzt noch die Solidarität traditionaler sozialer Netze fehlen, können diese Menschen nur noch auf die Unterstützungsleistungen karitativer oder humanitärer Organisationen zählen. Weil die Empfänger solcher Nothilfe keinen Rechtsanspruch auf Sicherung ihres Überlebens haben, sind sie noch dort fremder Willkür ausgeliefert, wo die Hilfe in bestmöglicher Form erbracht wird. - Die Schattenökonomien gehen fließend in gewaltdurchherrschte Ökonomien der Kriminalität und des sozialen Kriegs über. In immer mehr Gesellschaften wird die Bürgerkriegsökonomie zur Grundlage der gesellschaftlichen Reproduktion überhaupt. Hier ist eine Spirale in Gang gesetzt, die auf eine vollständige Zerstörung des Sozialen zielt: das Fehlen jeglicher Sicherheit verstärkt den Zwang zur aktiven Teilnahme an der Gewaltökonomie, treibt wiederum mehr Menschen in die vollständige Abhängigkeit von fremder Hilfe und lässt auch insofern die Migration zum letzten, selbst nicht mehr für alle zugänglichen Ausweg aus barbarischen Verhältnissen werden. Dass hier nicht von "Nebenerscheinungen" oder "Auswüchsen" einer ansonsten gelingenden Gesamtentwicklung, sondern von der maßgeblichen Tendenz des Globalisierungsprozesses die Rede ist, bestätigt jede Lektüre etwa der einschlägigen UNO-Dokumente.

Konfrontiert man sich unverstellt den Resultaten von drei Jahrzehnten neoliberaler Globalisierung, wird eine Schlussfolgerung unvermeidlich: die selbst in den entwickelten Industriegesellschaften zu keiner Zeit wirklich verallgemeinerte Lohnarbeit kann nicht länger als zentraler Zugang zu den materiellen und symbolischen Ressourcen des gesellschaftlichen Lebens und den Systemen seiner solidarischen Sicherung gedacht werden.

Zugleich muss eingeräumt werden, dass trotz des bloß propagandistischen Gehalts jeder Behauptung unumgänglicher "Sachzwänge" eine solidarische Sicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im nationalstaatlichen Rahmen weder zu verteidigen noch gar auszubauen ist - es sei denn, man bekenne sich unumwunden zur strukturellen Ausgrenzung der Mehrheit der Weltbevölkerung von den Ressourcen des Überlebens. Für diese Schlussfolgerungen spricht dabei nicht allein die faktische Unmöglichkeit eines auf Vollbeschäftigung gegründeten nationalen Sozialstaats. Für sie spricht auch die von den sozialen Bewegungen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts artikulierte Kritik an allen Formen dieses Staates, die selbst eine der Ursachen seines Scheiterns war und später von der neoliberalen Ideologie usurpiert wurde:

* Der de facto ja nur in den entwickelten Industriestaaten realisierte nationale Sozialstaat hatte und hat die asymmetrischen Herrschafts- und Machtverhältnisse der Weltwirtschaft zur systematischen Voraussetzung: das Versprechen der "nachholenden Entwicklung" konnte in Wahrheit nie gehalten werden. Der nationale Sozialstaat war insofern ein Privileg der Gesellschaften des Nordens, das mit dem Ausschluss und der Ausbeutung der Gesellschaften des Südens erkauft war.

* Auf primär männliche Lohnarbeit gestützt war der nationale Sozialstaat auch innerhalb der entwickelten Industriestaaten auf das unhaltbare Versprechen "nachholender Entwicklung" - in diesem Fall des Einschlusses der Frauen in die "Vollbeschäftigung" - gegründet. De facto war er systematisch an die Beschränkung jedenfalls einer großen Zahl von Frauen auf unbezahlte Reproduktionstätigkeiten und damit auf deren Abhängigkeit vom männlichen "Ernährer" gebunden.

* Die Lohnarbeit selbst war zu keiner Zeit die allein denkbare oder gar allein wünschenswerte Form des "Lebensunterhalts" - weder für die Individuen noch für deren gesellschaftliches Leben. Der auf sie gegründete nationale Sozialstaat war deshalb stets ein autoritärer Staat; dieser Charakter drückte sich auch in den bürokratischen Formen solidarischer Sicherung aus, die er allein auszubilden in der Lage war.

* Auch ökologisch gesehen haben sich sowohl die großindustrielle Massenproduktion wie der durch sie ermöglichte Massenkonsum als desaströse Weise der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens erwiesen.

Von daher gilt es auch in der Perspektive einer wirklich nachhaltigen Entwicklung nach Alternativen jenseits von Lohnarbeit, Vollbeschäftigung und nationalem Sozialstaat zu suchen. Im Rahmen dieses Thesenpapiers kann es schon deshalb nicht darum gehen, solche Alternativen als konkret umsetzbares Modell zu präsentieren, weil ihre konzeptionelle Ausgestaltung wesentlich die Sache der gesellschaftlichen Kräfte sein muss, die zu ihrer politischen Durchsetzung in der Lage sein werden. Im folgenden werden deshalb nur die elementaren Voraussetzungen einer entsprechenden Transformation des Globalisierungsprozesses genannt. Dass eine solche Transformation aber keine bloße Utopie noch ein abstraktes Ideal ist, lässt sich an dem Paradox ablesen, das den Kern der Globalisierung bildet: eine Dynamik bis dahin kaum für möglich gehaltener Verelendung und Entrechtung freigesetzt zu haben, während zugleich eine bis dahin ebenso wenig vorstellbare Steigerung des materiellen und symbolischen Reichtums erreicht wurde. Die gerade deshalb realpolitisch mögliche Umkehr der Perspektive hängt von daher allein an dem politischen Willen, diesen Reichtum nicht länger als einen privaten, sondern als weltgesellschaftlichen Reichtum zu verwenden. In Erwägung folglich,

* dass die strukturelle Massenerwerbslosigkeit nur die Form ist, unter der die gesellschaftliche Arbeit im ausschließlichen Interesse bestmöglicher Kapitalverwertung verkürzt und umverteilt wird, kann eine Lösung der Krise nur durch die demokratische Kontrolle der globalen Arbeitsteilung erreicht werden. Verkürzung der Arbeitszeit und Umverteilung der Arbeit - technologisch offensichtlich längst und im globalen Maßstab möglich - erfolgen dann nach der Maßgabe eines demokratisch auszuhandelnden weltgesellschaftlichen Interesses.

* dass die solidarische Sicherung der Teilhabe an der materiellen und symbolischen Sicherung des gesellschaftlichen Lebens nicht länger auf der Grundlage individueller Lohnarbeit in Vollbeschäftigungsperspektive möglich ist, muss die gesellschaftliche Garantie des Überlebens als unbedingtes Bürgerrecht eines jeden und einer jeden, genauer: als konkreter Inhalt der Bürgerschaft selbst gedacht werden.

* dass Massenerwerbslosigkeit weltweit Millionen Menschen in informelle Ökonomien gezwungen hat, muss eine Demokratisierung der Arbeitsteilung auch und gerade an diese Entwicklung anknüpfen. Denn neben den gewaltdurchherrschten Sektoren der Informalität gibt es zahllose familiale oder kommunitäre Netze gegenseitiger Hilfe, die zum Teil sogar transnational operieren und dergestalt Erfahrungen bereitstellen, die für eine "Globalisierung von unten" ebenso unverzichtbar sind wie die Erfahrungen, die in den Migrationsbewegungen gesammelt werden. Hinzuzurechnen ist hier der in den letzten Jahren im Norden wie im Süden rapide gewachsene Sektor der von parastaatlichen oder privaten Einrichtungen geleisteten sozialen Arbeit, der auch die humanitäre Hilfe einschließt. Nimmt man die primär auf gegenseitiger Hilfe basierenden Formen der informellen mit den gemeinwesenorientierten Formen der sozialen Arbeit zusammen, zeichnet sich das weite Feld einer solidarischen Ökonomie ab, deren Stärkung gegenüber der privatwirtschaftlichen wie der staatsverwalteten Ökonomie vorrangiges Ziel einer Demokratisierung der Arbeitsteilung sein muss. Die solidarische Sicherung des Überlebens würde so im Rahmen eines nicht-staatlichen Prozesses der gesellschaftlichen Selbstorganisation erreicht, der sich partizipativ, reziprok und subsidiär entfalten könnte, d.h. als Prozess direkter Demokratie.

* dass informelle wie soziale Arbeit gegenwärtig immer auch Teil und Resultat der Prekarisierung des gesellschaftlichen Lebens, der vor allem Frauen zugeteilten Mischformen von Arbeit und Fürsorge sowie der staatlich gedeckten Einführung von Formen der "workfare" (Zwangsarbeit) sind, ist eine reale Demokratisierung der Arbeitsteilung notwendig an die gesellschaftliche Garantie eines ohne Gegenleistung zuzuteilenden Grundeinkommens (Bürger- bzw. Existenzgeld, sozialer Lohn, universelle Zuwendung etc.) gebunden. Dieses soll jeder Bürgerin und jedem Bürger am Ort des jeweiligen Aufenthalts die Teilhabe an den materiellen und symbolischen Ressourcen des gesellschaftlichen Lebens sichern. Allerdings garantiert auch ein bedingungslos zugeteiltes Grundeinkommen noch nicht die Überwindung prekärer Lebensbedingungen, weil seine konkrete Höhe notwendig ein strategischer Einsatz gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sein wird. So kann ein Bürgergeld zur Alimentierung einer Elendsbevölkerung, aber auch im oben entwickelten Sinn eingesetzt werden.

* dass im Prozess der Globalisierung nationalstaatliche Lösungen der sozialen Frage entweder nicht mehr zu realisieren oder an das asymmetrische Nord- Süd-Verhältnis gebunden sind, kann die Rückbindung der solidarischen Sicherung des gesellschaftlichen Lebens an die Bürgerschaft nur in der Form einer Weltbürgerschaft durchgesetzt und garantiert werden. Horizont einer solchen Weltbürgerschaft ist nicht ein weder wünsch- noch realisierbarer "Weltstaat", sondern der Globalisierungsprozess als real existierender universeller Zusammenhang. Weltbürgerschaft muss konkret bedeuten, jeden Menschen am Ort seines jeweiligen Aufenthalts zum Träger der dort geltenden staatsbürgerlichen und insbesondere sozialen Rechte zu machen. Die Demokratisierung der Arbeitsteilung ist seit den ersten Kämpfen um die Verkürzung der Arbeitszeit im 19. Jahrhundert der Kern jeden Versuchs, die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger real durchzusetzen. Im dritten Jahrzehnt neoliberaler Globalisierung geht es darum, sie in globaler Dimension zu verwirklichen. Ihre elementaren Voraussetzungen müssen und werden real weder unmittelbar noch im Block eingefordert werden können. Ihre Aktualität liegt in jeder Forderung, die in realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen implizit auf sie tendiert, da beispielsweise, wo sich humanitäre Organisationen politisch darauf einigen, gemeinsam mit den Empfängern ihrer Dienste für einen universellen Rechtsanspruch auf Hilfe einzutreten. Gesellschaftliche Einrichtungen sind jederzeit Ausdruck und Verdichtung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und deshalb immer und notwendig Resultat aktueller Kompromisse. Über die Reichweite, Tiefe und Nachhaltigkeit der Demokratie entscheidet immer nur der ihre Durchsetzung organisierende demokratische Prozess.