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2005-12-31

Altvater: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen

Achtes Kapitel*

Glaubwürdige Alternativen im Innern der Gesellschaft: Solidarität und Nachhaltigkeit

Eine Gesellschaft kann nur in einem revolutionären Prozess die den Kapitalismus charakterisierenden sozialen Formen überwinden. Auch der Kapitalismus ist historisch entstanden, indem er (zumindest in Europa) aus den feudalen Formen herausgewachsen ist. In aller Regel stellen sich die vielen Aktionen von Menschen im historischen Prozess erst im Nachhinein als eine Revolution heraus. Sie handeln in sozialen Zusammenhängen und verändern dabei ihre gesellschaftlichen Verhältnisse, manchmal im Kleinen und auf lokaler Ebene, manchmal mit großer, weltgesellschaftlicher Wirkung, manchmal im Stillen und manchmal in heftigen sozialen Kämpfen. Sehr häufig wissen die Zeitgenossen gar nicht, dass sie mit ihrem Alltagsleben und mit ihren sozialen Experimenten einer revolutionären Veränderung der sozialen Formen von Produktion und Konsumtion den Weg ebnen. Eine soziale Revolution kommt also nicht auf Anordnung einer wissenden Partei- oder Bewegungselite zustande. Viele Menschen müssen sowohl in der Analyse als auch mit ihren Hoffnungen und Utopien und den sich daraus ergebenen politischen Zielsetzungen zu dem gelangen, was (mit Marx) als "general intellect", als gemeinsames Wissen sozialer und politischer Bewegungen bezeichnet worden ist. Es braucht viel Zeit für Debatten, um die Richtung von Aktionen zu bestimmen. Eine soziale Revolution ist kein Putsch, sondern ein über lange Zeitstrecken iterativer Prozess vieler sozialer Experimente.
Hermann Scheer lehnt den Begriff der Revolution explizit ab. Seine Argumente sind freilich nicht stichhaltig. Er reserviert erstens den Revolutionsbegriff für "einen Umsturz der herrschenden Verhältnisse in einem kurzen Zeitraum" (Scheer 2005: 237). Dabei ist es erstens nie sicher, dass nicht der Revolution die Konterrevolution folgt, also der Umsturz scheitert. Um nicht die Kurzfristigkeit und Abruptheit historischer Prozesse zum Maßstab der Begriffsbildung zu erheben, könnte zweitens die Umwälzung von Produktions- und Konsumverhältnissen beim Übergang zu erneuerbaren Energien als Revolution verstanden werden, als eine radikalere soziale Veränderung als die, die der "Sturm auf die Bastille" ausgelöst hatte. Im Vergleich der französischen Revolution mit der industriellen Revolution schreibt Friedrich Engels: "Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich. Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten damit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft..." (MEW 19: 197). Hier wird also auf die zwei Gesichter der Revolution verwiesen: auf den politischen Umsturz einerseits und auf die Veränderung der sozialen Formation andererseits.
Beides kann sich je nach den besonderen Umständen parallel, zeitlich nacheinander, synchron in verschiedenen Ländern (wie in England und Frankreich) entwickeln. Die Tempi sind verschieden.
Es ist schon bemerkt worden, dass Adam Smith, der während der fossil-industriellen Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert lebte und schrieb, diese selbst nicht erfasste und daher auch keinen Begriff davon hatte, in welch revolutionärem Ausmaß die Kohle als Energiequelle zum Antrieb von industriellen Maschinen dienen würde. Dies konnte ihm passieren, obwohl James Watt, der die Dampfmaschine perfektionierte, an der gleichen Universität wie er lehrte. Die Arbeitszerlegung und deren die Produktivität steigernde Wirkung sah Smith wohl. Dass sich hier im Kleinen das System der von Marx später so genannten "großen Industrie" ankündigte, blieb ihm verborgen. Schon oft in der Geschichte, und nicht nur während der industriellen Revolution, befinden sich die Menschen inmitten eines revolutionären Prozesses, ohne dies in der ganzen Tragweite erkennen zu können. Eine Revolution darf man sich also nicht als einen strategisch angeordneten und geplanten "Sturm auf das Winterpalais" vorstellen. Sie findet nur statt, wenn die Verhältnisse dafür reif sind.
Dies entspricht der oben zitierten Auffassung von Fernand Braudel, dass der Kapitalismus nur unter sehr heftigen Anstößen von außen in Verbindung mit überzeugenden Alternativen sozialer und politischer Akteure "im Innern" des Systems ans Ende kommen würde. Einer dieser äußeren Anstöße sind die Grenzen des fossilen Energieregimes, die der Kongruenz von Kapitalismus, Fossilismus und Rationalismus (die im vierten und siebenten Kapitel analysiert wurden), ein Ende bereiten. Es sind allerdings nicht nur äußere Anstöße denkbar, sondern auch solche, die sich aus den im Innern wirkenden Marktprozessen und den zugespitzten Widersprüchen ergeben. Die desaströsen Wirkungen der Finanzkrisen sind im sechsten Kapitel untersucht worden. Nun stellt sich die Frage, welche überzeugenden Alternativen im Innern heranreifen. Gibt es sie überhaupt?
Politische Alternativen werden nicht in akademischen oder politischen Zirkeln erfunden. Sie entstehen in und aus der politischen, sozialen, ökonomischen Praxis der Menschen in sozialen Bewegungen. Diese sind eine Ideenwerkstatt, ein politisch kreatives "intellectual messy center". Vielfältige Konzepte zur Zukunft der Arbeit, zur Arbeitszeitverkürzung, zur Umgestaltung des Sozialstaats, zu einem Bürgereinkommen, zu genossenschaftlicher Produktion und Konsumtion, zu alternativen Formen des Geldes und Kredits, zur Regulierung der globalen Finanzmärkte usw. werden entwickelt und in den politischen Prozess eingebracht. Praktische Anwendungen alternativer Energien, Pläne ihrer gesellschaftlichen Umsetzung, Programme der politischen Förderung werden auf die Tagesordnung gesetzt. Die Umsetzung von Alternativen ist immer strittig, und daher gibt es keine gesellschaftlichen Veränderungen ohne politische Konflikte. Die unvermeidlichen Konflikte um Konzepte und Interessen werden nur zum Teil mit den besseren Argumenten entschieden. Wer die ökonomische und politische Macht hat, ist auf gute und überzeugende Argumente nicht unbedingt angewiesen.
Kann man "die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen", wie John Holloway (2002), die Bewegung der Zapatistas interpretierend, suggeriert? Schön wäre es, doch wahrscheinlich ist es nicht. Da hilft auch die Unterscheidung von instrumenteller und kreativer Macht nicht weiter (ebd.: 40ff.). Die zapatistische Bewegung war vergleichsweise erfolgreich bei der Veränderung der Machtverhältnisse in Chiapas und dabei, sich nicht auf die Staatsmacht und die Regeln einer parlamentarischen Demokratie einzulassen. Doch irgendwann bedarf es auch der Gegenmacht, der Bildung von Koalitionen, um die Herren des Status quo, die mit Macht das System verteidigen, zurückzudrängen. Auch wenn der Kapitalismus am Ende sein sollte, bricht er, anders als der real existierende Sozialismus, nicht in einer historischen Implosion in sich zusammen. Erstens wirken die verbreiteten Bewusstseinsformen stabilisierend, die die in sozialen Beziehungen enthaltene Macht als externen Sachzwang deuten, gegen den einzelne (und sogar viele) hilflos sind. Die Macht hat also zwei Seiten. Sie wird aktiv ausgeübt und passiv ertragen. Die Dispositionen der Beherrschten für die Akzeptanz der Herrschaft sind entscheidend für die gouvernementalité (Foucault 1993) und daher für herrschaftliche Stabilität.
Zweitens bekommen die Sachzwänge des Marktes institutionelle und daher politische Gestalt. Gegen alternative Ansätze einer solidarischen und nachhaltigen Ökonomie wirken sämtliche Institutionen des globalisierten Kapitalismus mit Strukturanpassungsmaßnahmen, der Konditionalität bei der Vergabe von Krediten im Verein mit den Sachzwängen der liberalisierten Märkte. Gegen ein nachhaltiges Energieregime und die breite Einführung erneuerbarer Energien mobilisiert die fossile und nukleare Lobby alle Kräfte in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Diese kreativ auflaufen zu lassen, ist eine Möglichkeit, aber man wird auch Gegenmacht mobilisieren müssen, um die Programmatik von Solidarität und Nachhaltigkeit in die Wirklichkeit umzusetzen. Dabei spielen nicht nur soziale Bewegungen eine wichtige Rolle, sondern auch Parteien, Parlamente und Regierungen. Auch wenn die gesellschaftlichen Veränderungen banal sein mögen - ohne machtpolitische Auseinandersetzungen werden Alternativen von der kapitalistischen -Gesellschaft wie von einem aus der Chaostheorie bekannten "seltsamen Attraktor", also in nicht vorhersagbarer Weise absorbiert und transformistisch, d.h. Macht und Herrschaft stabilisierend integriert. Die Integration wird zumeist durch die Wächter des status quo, durch Polizei und manchmal auch durch das Militär erzwungen.
Wer die Welt verändern will, muss die Wirtschaft solidarisch gestalten und mit der Natur nachhaltig umgehen. Daher der vielleicht programmatische Titel dieses Kapitels: Solidarität und Nachhaltigkeit. Der Zusammenhang ist normativ gut zu begründen. Er spiegelt auch die Erfahrungen sozialer und politischer Bewegungen. Viele der Aktivitäten sozialer Bewegungen zielen in der Epoche der Globalisierung auf die Wiederaneignung des Territoriums. Die Privatisierung der Wasserversorgung soll rückgängig gemacht werden, denn Wasser ist Lebensmittel und keine Ware. Es geht auch um die Eroberung und Gestaltung von urbanen öffentlichen Räumen. Fabriken werden gegen deren Schließung durch die Eigner besetzt. Dies sind nur wenige Beispiele. Sind diese Kämpfe revolutionär, indem sie über den Kapitalismus hinausführen? Niemand weiß es. Aber möglich ist es.

8.1 Handlungslogiken: Äquivalenz, Reziprozität, Redistribution und Solidarität

Soziale Bewegungen, die auf Alternativen zur kapitalistischen Marktgesellschaft zielen, müssen sich aus den Handlungslogiken emanzipieren, die vom Markt vorgegeben werden. Gibt es mehrere Handlungslogiken, dann ist dies bereits ein Hinweis darauf, dass der historische Pessimismus vom Ende der Geschichte, wenn sich die Prinzipien von Markt und Demokratie durchgesetzt haben, nicht gerechtfertigt ist. Tatsächlich erhellt bereits der Blick zurück in die Geschichte des Wirtschaftens, wie unterschiedlich in verschiedenen Kulturen und Geschichtsepochen Ökonomie und Gesellschaft koordiniert wurden, wie unterschiedlich die Denk- und Handlungsmuster sind, die sich in den immer wiederkehrenden, zur Routine gewordenen Handlungen herausbilden. Dies hat kaum jemand mehr zum Thema der Forschung gemacht als Karl Polanyi (1979).1 Erst im modernen Kapitalismus mit seinen globalen Institutionen und in Folge der globalen Vereinheitlichung wird die Diversität von Handlungslogiken auf ein dominantes Muster, nämlich dasjenige der Äquivalenz, reduziert, theoretisch begründet innerhalb der "pensée unique" des Neoliberalismus und praktisch durchgesetzt innerhalb des Systems der Marktbeziehungen.

8.1.1 Äquivalenz

Die kapitalistische Ordnung gründet in erster Linie auf dem Austausch von Äquivalenten auf dem Markt. Es werden gleichwertige Waren auf dem Markt getauscht und auch das Geld stellt ein Äquivalent des Warenwerts der gekauften oder verkauften Ware dar. Ausbeutung und Aneignung eines Überschusses finden in aller Regel nicht durch Übervorteilung in der Zirkulationssphäre, also auf dem Markt statt, auch wenn dies alle Marktteilnehmer auf der "Schnäppchenjagd" versuchen. Es gibt den "ungleichen Tausch"; er hat in der kapitalistischen Geschichte eine große Rolle gespielt und ist auch heute eine verbreitete Tatsache. Doch besteht die Einzigartigkeit der kapitalistischen Produktionsweise darin, dass Äquivalente getauscht werden und dennoch die einen mit einem "surplus" auf ihre "avances", mit einem Mehrwert auf ihre Kapitalvorschüsse, mit mehr Geld (G) als zu Beginn aus dem Prozess herauskommen. Dies begründet Max Weber als "Kapitalrechnung". Das ist das von Marx so bezeichnete G' (das ist das große G + dem kleinen g) am Ende des Prozesses im Vergleich zum G zu Beginn. Auch die Arbeitskraft erhält in aller Regel das Äquivalent ihres Werts im Lohn gezahlt. Arbeit ist daher im Kapitalismus Lohnarbeit. Aber dieser Äquivalententausch geht dem Produktionsprozess voraus, in dem Arbeiterinnen und Arbeiter länger arbeiten, als sie zu ihrer Reproduktion arbeiten müssten. Auf dem Arbeitsmarkt hat er (oder sie) sich verpflichtet, eine bestimmte Zeit zu festgelegten Bedingungen zu arbeiten, und diese Zeit schließt die notwendige Zeit zur Reproduktion ebenso wie die Mehrarbeitszeit zur Erzeugung des Mehrwerts ein. Im Lohn freilich ist dieser Unterschied zwischen notwendiger und Mehrarbeitszeit verhüllt. Jede Minute scheint bezahlt zu sein. Dieser Schein stabilisiert das System. Denn jeder geht mit seinem "gerechten" Anteil nach Hause und hat eigentlich keinen Grund zur Klage. Fühlt er sich dennoch unzufrieden, ist dies Folge eigener Fehler. Wer auf dem Arbeitsmarkt keinen Arbeitsplatz findet, ist selber schuld. Der Marktprozess legitimiert sich selbst durch die Sachlichkeit und die darin enthaltene "Gerechtigkeit" der Marktresultate, die niemand berechtigt in Frage stellen kann.
Daher kann Marx sagen, dass die Verwandlung von Geld in Kapital (und daher die Überschuss- bzw. Mehrwertproduktion) ihre Voraussetzungen ebenso gut in der Zirkulationssphäre wie in der Produktionssphäre hat. Die Tauschpartner im Allgemeinen, also auch die besonderen auf dem Arbeitsmarkt, "kontrahieren als freie; rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses." (MEW 23: 190) Marx paraphrasiert hier das Mantra der klassischen politischen Ökonomie, das bis heute aus den Gebetsmühlen der Ökonomen leiert.
Kein Wunder, dass das Äquivalenzprinzip jeder Wettbewerbsordnung zugrunde gelegt wird. Es ist alles andere als ein Hinderungsgrund der Aneignung aus dem privaten Eigentum. Ungleichheit folgt unter kapitalistischen Bedingungen aus Gleichheit. Der Wettbewerb selbst wirkt als "stummer Zwang der ökonomischen Verhältnisse" (ebd.: 765). Die Individuen handeln nach den Regeln der ökonomischen Rationalität und nicht wegen gesellschaftlicher Kollektivbelange. Unter dem Äquivalenzprinzip handelt jedes Individuum für sich; es trifft sich daher mit der ökonomisch dominanten Tendenz der Privatisierung und Individualisierung, die auch politisch gestützt wird, etwa durch die Bildung von "Ich-AGs". Wir finden es in den Rechtfertigungen der neoliberalen Ordnung als Ausdruck von Gleichheit, Freiheit und letztlich auch von Gerechtigkeit wieder. Das Äquivalenzprinzip folgt einer schlichten Logik, deren Erkenntnis und Praktizierung freilich die gesellschaftliche Verankerung des europäischen Rationalismus voraussetzt. Ein komplexer historischer Prozess muss zum Abschluss gekommen sein und diese grandiose Vereinfachung hervorgebracht haben. Gesellschaftliche Komplexität wird also auf die "Iogique unique" des Äquivalenzprinzips reduziert.
Äquivalenz ist freilich immanent begrenzt. Manche Güter sind "oligarchisch", d.h. je breiter, allgemeiner (und daher demokratischer) der Zugriff, desto schlechter der Gebrauchswert (Harrod 1958). Wenn zu viele Menschen das Automobil nutzen, verwandelt es sich in ein Auto-Immobil; wenn zu viele Touristen einen "Traumstrand" aufsuchen, ist der Traum aus; wenn zu viele Besucher ins Museum strömen, wird der Kunstgenuss zum Stress. Die Äquivalenz kann sich also nur auf den Tauschwert und dessen Tausch beziehen, nicht auf den "Träger des Tauschwerts", den Gebrauchswert. Der Nutzen, der daraus gezogen werden kann, ist ungleich. Diese Verwandlung passiert nicht nur mit einzelnen Gütern und Diensten, sondern auch mit Güterbündeln, z.B. jenen, die den "American way of life" ausmachen. Dieses oligarchische Gut verlangt zu seiner Herstellung einen hohen Einsatz fossiler Energieträger. Da diese begrenzt sind, kann dieses Gut einigen Völkern, aber nicht allen Menschen auf Erden in gleicher Qualität zur Verfügung stehen. Die sozialen und kulturellen Dimensionen des westlichen Modells von Produktion und Konsumtion können nicht globalisiert werden. Globalisierung ist eine mächtige Tendenz, Globalität jedoch ist nicht erreichbar, und zwar vor allem wegen der ökologischen Grenzen des Planeten Erde. Das Äquivalenz- und das ihm homologe Knappheitsprinzip fordern Überfluss, also das Gegenteil von Mangel. Der aber stellt sich unvermeidlich an den "Grenzen des Umweltraums" ein (ausführlicher Altvater/Mahnkopf 2004).
Wie können oligarchische Güter verteilt werden? Man könnte (1) mit der paradoxen Wirkung des Äquivalenzprinzips die Ungleichheit in Kauf nehmen, um für privilegierte Nationen und für privilegierte Schichten den westlichen Lebensstandard in die Zukunft zu verlängern. Dass andere Nationen arm bleiben, ergibt sich aus der Funktionsweise globaler Finanzmärkte, die die Schuldner bestrafen. ; Allerdings verwandelt sich die dunkle Ahnung immer mehr in Gewissheit, dass letztlich ökonomische Mechanismen der Aufrechterhaltung der Ungleichheit nicht ausreichen und dass sie daher (2) durch politischen und möglicherweise militärischen Zwang ergänzt werden müssen. Die reichen Nationen sind dabei, sich au diesen Sachverhalt mit neuen Militärstrategien und "erweiterten" Konzepten von Sicherheit vorzubereiten. Eine Welt der Ungleichheit und der Übernutzung der Ressourcen durch die Privilegierten, so dass den weniger Privilegierten der Weg der versprochenen Modernisierung versperrt bleibt, kann auf Dauer keine friedliche Welt bleiben. Man könnte (3) aber die Verteilung solidarisch gestalten, also die oligarchischen Zustände demokratisieren. Freilich wäre dies nur bei Abkehr vom westlichen Modell des Wachstums und des Konsumierens, also bei einer Zähmung der kapitalistischen Prinzipien von Äquivalenz und Aneignung und durch Umsteuern auf ein anderes, solares Energieregime und in Richtung einer solidarischen Ökonomie möglich. Das Äquivalenzprinzip ist also gar nicht zu verallgemeinern.

8.1.2 Reziprozität

Vom Äquivalenzprinzip ist das Reziprozitätsprinzip zu unterscheiden. Hier werden weder in Quantität und Qualität noch in erkennbarem zeitlichem Zusammenhang Äquivalente getauscht. Aber das Tauschprinzip als solches bleibt: Aus einer Gabe folgt eine Verpflichtung. Wie Reziprozität reguliert wird, ist in unterschiedlichen Kulturen, zu verschiedenen Zeiten, in den Klassen einer Gesellschaft nicht selbstverständlich und gleichartig. Die Tauschenden lassen also im aktuellen Tausch ihr Gedächtnis wirken. Daher hat er für Klassen, Geschlechter, Ethnien nicht nur eine Bedeutung, sondern möglicherweise viele. Das Reziprozitätsprinzip umschließt viele Handlungslogiken, nicht nur die des Tausches. Es ist ein kulturell verankertes Muster, also nicht gänzlich aus der Gesellschaft entbettet und daher komplexer als das Äquivalenzprinzip. Achtung, Anerkennung, ethnische und andere Bindungen, Sühne, spontane Freude usw. bestimmen mit, was eine reziproke Leistung oder Gegenleistung ist.
Auch wenn es einen erheblichen Abstand zum Äquivalenzprinzip gibt, widerspricht Reziprozität ihm nicht. Die beiden Prinzipien können sich ergänzen, und dies ist in aller Regel der Fall. Denn auch wenn der Markt sich aus der Gesellschaft entbettet, regelt sich das ökonomische Leben zumeist nicht auf Äquivalenzbasis, sondern gemäß Reziprozität (Mahnkopf 1994). Das fängt trivial an, wenn die Rechnung eines gemeinsamen Essens im Restaurant pro Kopf umgelegt wird, obwohl die einen mehr, die anderen weniger, die einen teurer, die anderen billiger ,gespeist haben. Das geht weiter, wenn einige Schüler, mehr Hilfe benötigen als andere und sich die Lehrerin daher stärker um erstere als um letztere kümmert, 'obwohl doch alle einen gleichen Anspruch auf die Leistungen der Lehrerin haben. Und das hört nicht auf bei Zugaben von Unternehmen zu äquivalenten Tauschgeschäften mit Auftraggebern. Reziprozitätsbeziehungen sind weit von der Hayek'schen durch Tausch zustande kommenden "kosmischen" Ordnung entfernt. Nur deshalb aber ist es möglich, dass produktive Cluster von Unternehmen, die nicht nur mit reinen Tauschbeziehungen verknüpft sind, entstehen können.
Dabei werden die Grenzen zum großen Bereich der Korruption häufig überschritten. Dies ist dann der Fall, wenn "anvertraute Macht" genutzt wird, um private Vorteile zu erreichen, und zwar auf Kosten Dritter. Dies kann, wenn es um schlichte Äquivalenz geht, gar nicht passieren. Reziprozität freilich ist für korruptive Beziehungen offen. Es kommen dann sozusagen zwei sich überschneidende oder verdoppelnde Äquivalenzbeziehungen zustande. Die eine mit den Marktgrößen eines formellen Geschäfts, die andere in Gestalt des do ut des, einer Zahlung für eine Leistung, durch die das erste Marktgeschäft überhaupt ermöglicht worden ist. Dieses aber wird durch die reziproken Beziehungen beeinflusst. Denn die Kosten des do ut des werden in die marktmäßigen, formellen Transfers eingepreist und enthalten dann alle Elemente des ungleichen Tausches. Kommunale Aufträge für irgendwelche Infrastrukturleistungen, beispielsweise für eine Müllverbrennungsanlage, werden entsprechend teurer. Die Öffentlichkeit, also die Steuerzahler sind der dumme Dritte, der die Lasten der Korruption zu tragen hat.
Weil Reziprozität nicht im Gegensatz zur Äquivalenz steht, sind die verschiedensten Kombinationen denkbar. In modernen Gesellschaften, in denen Markt, Konkurrenz und Tausch dominieren, wird Reziprozität den Marktmechanismus und das Äquivalenzprinzip eher absichern als eine eigenständige Bedeutung im Vergleich zu ihnen erlangen. Auch wenn in der Hartz-Gesetzgebung in der BRD das Prinzip der Individualisierung gilt, wird doch auf das Reziprozitätsprinzip - zurückgegriffen, wenn etwa die Einkünfte des Lebenspartners auf das Arbeitslosengeld angerechnet werden. Auch in der "Standortpolitik" wird auf Reziprozität gesetzt. Denn "produktive Cluster" der lokalen Wettbewerbsfähigkeit in der globalen Konkurrenz kommen in aller Regel nicht allein durch Marktbeziehungen zustande, sondern durch reziproke soziale Beziehungen. In dem Netz reziproker Beziehungen ist das Personal privater Unternehmen, öffentlicher Administrationen, gesellschaftlicher Vereine "verbandelt". Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Paradoxie, dass Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit nicht allein durch ;' die Wirkung des aus der Gesellschaft entbetteten Marktes gesteigert werden, sondern der gesellschaftlichen Einbettung in Beziehungen der Reziprozität bedürfen. Dabei sind die Grenzen zur Korruption durchlässig. Beispiele gibt es überall. =, Colonia corrupta (Rügemer 2002), das System Leuna (Kleine-Brockhoff/Schirra 2001), das italienische Tangentopoli (Magatti 2003), Halliburton und die USRegierung im Irak, Volkswagen oder Infineon im Korruptionssommer 2005 in Deutschland. Die Liste ließe sich endlos verlängern.

8.1.3 Redistribution

Das Prinzip der Redistribution begründet eine zumeist, aber nicht immer hierarchisch organisierte Verteilung von Ressourcen in einer Gesellschaft. Es lag der zentralen Planung im real existierenden Sozialismus zugrunde, auch wenn es dort viele formelle und vor allem informelle Marktbeziehungen gab. Redistribution verlangt eine einigermaßen überschaubare Gesellschaft mit nicht zu komplexen sozialen und ökonomischen Beziehungen. Sonst hat F.A. von Hayek Recht mit seiner Kritik an der sozialistischen Planwirtschaft, dass sie nicht in der Lage sei, das Informationsproblem zu lösen. Märkte, so seine These, seien Informationsbeschaffungs- und -verarbeitungssysteme und der Wettbewerb sei vor allem ein Entdeckungsverfahren. Das gilt in besonderer Weise auf globaler Ebene, auf der ein redistributives System schwer vorstellbar ist.
Ganz anderer Auffassung ist Alex Callinicos. Aus seiner Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus folgert er, dass sozialistische Planung, also ein System der Redistribution notwendig sei, und er fügt hinzu: "Unter sozialistischer Planung verstehe ich ein Wirtschaftssystem, in dem die Zuteilung und der Gebrauch von Ressourcen kollektiv, auf der Grundlage demokratischer Entscheidungsfindung ... bestimmt werden ..." (Callinicos 2004: 130). Im Satz darauf erklärt er aber dieses redistributive, sozialistisch geplante Wirtschaftssystem für "hypothetisch", das sich von vorkapitalistischen Klassengesellschaften abhebe, "in denen die Zuteilung ebenfalls kollektiv durch die von Polanyi aufgelisteten Mechanismen - Wechselseitigkeit, Umverteilung und Hauswirtschaft - reguliert wurde, in denen aber diese Mechanismen im Großen und Ganzen undemokratisch waren ..." (ebd.). Es stellt sich auch die Frage nach den Grenzen der Gesellschaft (hinsichtlich des Territoriums, der Dazugehörigen und der Ausgeschlossenen). Diese Frage wird von Callinicos in Zeiten der Globalisierung konsequent beantwortet: "Um effektiv zu sein, müsste eine sozialistische Planung im internationalen Maßstab stattfinden." (ebd.: 131) Die Planung soll nicht wie in der ehemaligen Sowjetunio nationalstaatlich oder in einer Art neuem Comecon organisiert werden, sondern in "Form eines politischen Prozesses ausgehandelter Koordination ..., wobei "Entscheidungen direkt oder indirekt von den Betroffenen selbst gefällt werden." (ebd.: 134) Das ist zu apodiktisch einfach: direkt oder indirekt von den Betroffenen? Und wie kann ein demokratischer Prozess gestaltet sein, der die Betroffenheit der Menschen in der argentinischen Pampa, im russischen Sibirien, im Irak oder im Ruhrgebiet und in Florida koordiniert und der sowohl den Interessen von Fondsmanagern auf globalen Märkten als auch denen der Straßenhändler von Bombay gerecht werden soll? Es bleibt dabei, das Prinzip der Redistribution mag für kleine und überschaubare, auf identischen Werten bauende Gesellschaften geeignet gewesen sein. Es kann nicht in einer globalisierten Welt funktionieren. Eine Planwirtschaft ist also keine Lösung, selbst wenn sie erstrebenswert wäre.

8.1.4 Solidarität

Es bleibt das Prinzip der Solidarität und Fairness. Es ist den Prinzipien von Äquivalenz und Reziprozität entgegen gerichtet. Denn es geht vom Kollektiv und nicht von Individuen und ihren marktvermittelten Beziehungen aus und kann nur in organisierter Form zur Geltung kommen. Es widerspricht auch dem Prinzip der Redistribution, da seine Anwendung keine hierarchische Regulation von Ökonomie und Gesellschaft von oben verlangt, im Gegenteil. Solidarität entsteht nur mit breiter Beteiligung von unten. Gemeinsame Anstrengungen zur Lösung eines gemeinsamen Problems sind gefragt. Jeder leistet seinen solidarischen Beitrag nach seinen Möglichkeiten, d.h. unter Bedingungen der Fairness. Solidarität setzt daher ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit und innerer Verbundenheit in einer Gesellschaft voraus, die in einer Kultur, Ethnizität, Lokalität, Klasse oder einer die Klassen übergreifenden Lebenserfahrung begründet sein kann, um ein großes Problem, z.B. Arbeitslosigkeit, Armut oder Rechtlosigkeit gemeinsam zu bewältigen (vgl. Zoll 2000).
So entstehen in "organischer Solidarität", wie Emile Durkheim darlegt, "Kollektivbewusstsein" und soziale Kohäsion gegen die mit der zunehmenden Arbeitsteilung und Vereinzelung verbundene Tendenz der Anomie (Durkheim 1983, zweites und drittes Buch). Bei der Untersuchung von Solidarität kann man also den sozialen Kontext der Marktbeziehungen nicht außer Acht lassen. Der "Entbettung des Marktes aus der Gesellschaft", die eine Bedingung von Äquivalenz, in geringerem Maße auch für Reziprozität ist, wird in solidarischen und fairen Beziehungen entgegengewirkt. Moralisch ist, so Durkheim, all das, was eine Quelle von Solidarität gegen die "Triebe des Egoismus" und die Entfremdungstendenzen der "mechanischen" Arbeitsteilung werden kann. Darauf baut letztlich auch die "internationale Solidarität" der Arbeiterbewegung. Ihr Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen ist ein gemeinsamer Kampf über alle (auch nationalstaatlichen) Grenzen hinweg. Dass diese Solidarität freilich nicht sehr belastbar gewesen ist, hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts tragisch bewiesen.2
Bedürfnisse und die Art und Weise ihrer Befriedigung sind die Grundlage der Arbeitsteilung. Diese erfordert die wechselseitige Anerkennung von Individuen als gesellschaftliche Individuen. In diesem Sinne spricht Marx in den "Grundrissen" von dem "System der Bedürfnisse und dem System der Arbeit" (Marx 1953: 427). Wegen der gesellschaftlichen Wechselseitigkeit von Bedürfnissen müssen diese deutlich von Gier unterschieden werden. Gier ist auch Bedürfnis, aber Bedürfnis ohne Gegenseitigkeit, Bedürfnisbefriedigung auf Kosten der Gesellschaft, ohne selbst bereit zu sein, die Bedürfnisse von anderen durch eigene Arbeit befriedigen zu wollen. Für Marx ist das Privateigentum die materielle Basis der Gier, weil es Menschen in der Art und Weise vereinseitigt, dass etwas nur als Eigenes verstanden werden kann, wenn man es angeeignet hat. Dies ist asozial, und daher kommt Moral ins Spiel, ein Verständnis von der Gesellschaftlichkeit der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung durch gesellschaftliche Arbeit.
Daher verwendet E.P. Thompson den Begriff der "moralischen Ökonomie" für alle jene ökonomischen Aktivitäten, die der formellen Marktökonomie entgegen gesetzt wurden oder außerhalb der Marktökonomie durch gemeinschaftliches solidarisches Handeln das Überleben sichern sollen. Die moralische Ökonomie hat ihre eigenen Kriterien für das, was als legitim und sozial gerecht beurteilt wird, die sich nicht auf das Äquivalenzprinzip zurückführen lassen. Dazu schreibt E.P. Thompson: "Doch diese Proteste bewegen sich im Rahmen eines volkstümlichen Konsens darüber, was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei. Dieser Konsens wiederum beruhte auf einer in sich geschlossenen, traditionsbestimmten Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen und von den angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesens. Zusammengenommen bildete sie das, was man die `moralische Ökonomie' der Armen ... nennen könnte." (Thompson 1980: 69) Die Solidarität geht also von der Gemeinschaft aus, und diese ruht auf einem gemeinsamen Wertesystem und auf einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund, also auch auf einem gemeinsamen, kollektiven Gedächtnis. Dieses vermittelt ein gemeinsames Vorverständnis in politischen Auseinandersetzungen, ohne dass dieses z.B. mit Hilfe von Schulungskursen erst hergestellt werden müsste. Äquivalenz- und Reziprozitätsbeziehungen sind nicht ausgeschlossen, doch sie entbetten sich nicht mit dem Markt aus der Gesellschaft, sondern bleiben in der Gesellschaft "eingebettet". Die moralische Ökonomie ist eine praktische Abwehr gegen die "Entbettung" des Marktes aus der Gesellschaft, also gegen die ökonomischen Sachzwänge. Daraus entwickeln sich die Konflikte nit den Mächten des Marktes, des Weltmarktes zumal. Diese Konflikte haben immer eine politische Dimension. Denn in den meisten Fällen sind "community movements" gezwungen, sich gegen Regierungen zu richten und in ihren Kämpfen Gegenmacht aufzubauen, indem Territorien besetzt und verwaltet und gleichzeitig Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und manchmal auch mit Teilen des Staatsapparats geschmiedet werden.
Im globalen System sind durch die beschriebenen Mechanismen von Wachstum und finanzieller Globalisierung extrem ungleiche Lagen entstanden, in denen Menschen ihr Leben und Überleben zu organisieren haben. Fast jeder zweite Mensch hat weniger als die 2 US$ täglich zur Verfügung, die von der Weltbank als Armutsgrenze definiert werden (für Lateinamerika, in Afrika wird sie bei 1 US$ angesetzt). Gleichzeitig ist der Reichtum hoch konzentriert (UNDP 2003; Kovel 2002). Die extreme Ungleichheit in der globalisierten Welt, in der die Armen vom Reichtum wissen und die Reichen mit der Armut konfrontiert sind, wirft moralische Probleme auf, die von den Reichen der Welt gern ignoriert werden. Pogge hofft in idealistischer Manier auf ein "more powerful country", auf einen ,,...moral leader who will make us realize our responsibilities and represent them forcefully along with our interests" (Pogge 2005: 25). Das ist eine wenig realistische Hoffnung, denn sie lässt sich nicht durch sekundäre monetäre Umverteilung, durch (Entwicklungs)Hilfe an die Armen erfüllen. Es müssten vielmehr die Funktionsmodi des Weltmarkts geändert werden, die die Primärverteilung bestimmen und für die beklagte extreme Ungleichheit und daher auch Ungerechtigkeit in der Welt verantwortlich sind. Dies in Rechnung gestellt, sind die Initiativen von unten, etwa die Fair Trade-Bewegung oder die Ansätze einer genossenschaftlichen solidarischen Ökonomie, eine realistischere Lösung als das Warten auf die "moral leadership" eines "more powerful country".
Es gibt viele Beispiele der solidarischen Ökonomie in der Geschichte. Dazu gehören die Genossenschaften des 19. Jahrhunderts in England oder Kontinentaleuropa, die Genossenschaften in Brasilien und in anderen lateinamerikanischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die kollektiven Wirtschaften und die Tontine in Afrika oder auch die Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien, die seit den 1970er Jahren ihren Niedergang nach fast zwei Jahrzehnten einer Erfolgsgeschichte erlebte. Doch sind Äquivalenz- und Reziprozitätsprinzip dominant. Die Bindungskräfte des Marktes sind so groß, dass selbst diejenigen, die aus der formellen kapitalistischen Marktwirtschaft ausgeschlossen werden, von ihren Prinzipien "eingefangen" werden und den Denkmustern und Handlungslogiken von Äquivalenz und Reziprozität verhaftet bleiben. Die Ansätze einer alternativen solidarischen Ökonomie entwickeln sich gegen die dominanten (neoliberalen) Tendenzen der Unterwerfung der Gesellschaften unter die Gesetze des globalen Marktes. Wir müssen daher, bevor wir uns der solidarischen Ökonomie und ihren Entwicklungstendenzen zuwenden, mit der Dominanz von Äquivalenz und Konkurrenz auch in der gesellschaftlichen Krise mit weit verbreiteter existenzieller Unsicherheit der Menschen auseinandersetzen.

8.2 Der "Neoliberalismus von unten"

Dabei lassen sich Informalisierung und Prekarisierung der Arbeit als graduell abgestufte Ausdrucksformen der "Globalisierung von Unsicherheit" (vgl. Altvater/Mahnkopf 2002) entschlüsseln. Gegen diese Erscheinung hat es zunächst sehr laut vernehmliche "voices" von Seiten der Gewerkschaften, aber auch von spontanen sozialen Bewegungen und aus politischen Parteien gegeben: Proteste, Demonstrationen, Betriebsbesetzungen. Aber die "voices" verhallten häufig ungehört. Stattdessen haben die Menschen in den Industrieländern ähnlich reagiert wie in den Entwicklungsländern: mit der "Exit-Option". Sie bewegen sich aus der formellen Arbeitslosigkeit in prekäre Jobs in der Schattenwirtschaft, meistens nicht freiwillig, sondern der Not gehorchend. Inzwischen ist die Prekarisierung der Arbeit sogar ein politisches Ziel, das in Deutschland mit der Agenda 2010 und den HartzGesetzen aktiv verfolgt wird: Absenkung der sozialen Transferleistungen, der individuellen Löhne, die Erschwerung des gewerkschaftlichen Schutzes durch Änderungen des Kündigungsrechts, der Mitbestimmungs- und Zumutbarkeitsregeln etc. Das deklarierte Ziel ist die Absenkung der Arbeitskosten; Arbeit soll in der globalen Konkurrenz so billig wie ein Schnäppchenangebot beim Discounter um die Ecke werden, um auf der anderen Seite Renditen steigen zulassen.
Die "Arbeitsmarktreformen" in Deutschland (Agenda 2010 und Hartz I-1V) und anderswo zwingen allen Betroffenen die individualistische Logik des Äquivalenzprinzips auf. Jeder sucht individuell Arbeit, und die Firmen bieten ebenso individuell auf dem Markt Arbeitsplätze an. Das funktioniert nur, wenn ein ausreichendes Angebot zur Verfügung gestellt wird und wenn das Informations- und Vermittlungssystem effizient funktioniert. Letzteres kann man noch relativ leicht verbessern. Ersteres ist schwierig, auch wenn nicht nur an Unternehmergeist appelliert, sondern gleich "Ich-AGs" gegründet und gefördert werden. Viele, wenn nicht die meisten der "Ich-AGs" sind schnell gescheitert, wie andere Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt auch, die dem individualistischen Prinzip folgen und nicht auf Solidarität setzen. Ohne Erfahrungen und ohne ausreichendes Kapital ist individuelle Selbständigkeit mit hoher sozialer und menschlicher Unsicherheit verbunden und daher sehr risikoreich. Das Risiko wird durch die Arbeitsmarktagenturen nicht gemindert. Dies könnte nur durch die Bereitstellung der sozialen Sicherheit als öffentliches Gut geschehen. Doch dieses ist ja gerade durch die neoliberalen "Arbeitsmarktreformen" zum Teil privatisiert worden. So ist eine "Zwischenwelt" entstanden, mit Hoffnungen auf einen förmlichen Arbeitsplatz, allen Merkmalen der Privatisierung von Risiken, die weder durch eine private Versicherung noch mit dem öffentlichen Gut der sozialstaatlichen Sicherung gemindert werden. Der soziale und politische Zwang, sich auf einem Arbeitsmarkt vermarkten zu müssen, dessen Absorptionskraft fir das Arbeitsangebot gering ist, ist die hässliche Kehrseite der neoliberalen Freiheiten der Finanzspekulanten auf Finanzmärkten und der kaufkräftigen Konsumenten auf Gütermärkten.
Informeller Arbeit fehlen die Eigenschaften formeller Normalarbeitsverhältnisse. Das sind vor allem ordentliche und gerichtlich einklagbare Verträge, Kündigungsschutz, Sozialversicherung, gewerkschaftliche Vertretung, Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte, Löhne und Arbeitszeiten, die ein würdiges Leben ermöglichen. Zwar müssen Daten über informelle Arbeit, die informelle Wirtschaft oder die Schattenwirtschaft - die Begriffe bezeichnen nur zum Teil identische Sachverhalte - mit Vorsicht interpretiert werden. Doch gleichgültig wie gemessen und geschätzt wird: die Bedeutung der Informalität, also die Zahl derjenigen, die aus der formellen Wirtschaft exkludiert worden sind, nimmt zu. Dies gilt vor allem für die Länder der so genannten Dritten Welt und seit dem Kollaps des real existierenden Sozialismus auch in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas. In vielen Weltregionen, in Lateinamerika, Afrika und Asien zumal, sind mehr Menschen informell als formell beschäftigt. Auch in den entwickelten Industrieländern Nordamerikas und Europas verliert seit den 1970er Jahren das arbeits- und sozialrechtlich regulierte "Normalarbeitsverhältnis" seine empirische Dominanz und die normative Funktion als Leitbild (so neuerdings auch die Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juli 2005). Sozioökonomische Sicherheit wie sie von der ILO (2000; 2001) definiert wird, scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den meisten Ländern der Welt zum Privileg einer sozialen Minderheit geworden zu sein.3
Warum wächst unter den Bedingungen der Globalisierung der informelle Sektor auf Kosten der formellen Arbeitsbeziehungen, insbesondere in den städtischen Agglomerationsgebieten? Grundsätzlich sorgt die Dynamik des Freihandels dafür, dass die durch intensivierte Arbeitsteilung und vertiefte Spezialisierung erzielte höhere Produktivität zur Freisetzung von Arbeitskräften führt. Einerseits gibt es mehr, bessere und billigere Güter für die kaufkräftigen Konsumenten in den "alten" und "neuen" Verbraucherländern mit mehr als 7.000 US$ jährlichem ProKopf-Einkommen (vgl. Wuppertal Institut 2005: 82ff.). Das sind immerhin etwa 1,7 Mrd. Menschen weltweit, denen es in der globalen Marktwirtschaft besser geht. Das sind die Globalisierungsgewinner. Andererseits nimmt mit dem verringerten Arbeitsaufwand je Produktionseinheit die redundant population zu, weil diese nicht durch kompensatorisches Wachstum in den Wirtschaftskreislauf zurückgeschleust werden kann. Arbeitslosigkeit ist die eine Folge. Es vergrößern sich darüber hinaus auch jene Bereiche der Ökonomie, in denen die Standards des Weltmarktes nicht erfüllt werden. Dies hat zur Folge, dass die Vergesellschaftung durch Arbeit und Geld ganz oder zumindest teilweise außerhalb der formellen Strukturen erfolgt. So gesehen ist Informalisierung das Resultat eines Scheiterns an von Menschen geschaffenen Sachzwängen der Globalisierung, denen informell ausgewichen wird. Dabei handelt es sich zumeist um die Globalisierungsverlierer.
Der informelle Sektor erfüllt die Funktion einer Art "Schwamm" für all jene Arbeitskräfte, die in der Folge des globalen Standortwettbewerbs "überflüssig eworden sind. Erstens dient der informelle Sektor der Subsistenzsicherung der urbanen Haushalte. Dies ist gleichbedeutend mit einer "Feminisierung der Überlebenssicherung". Denn die Verantwortung für die Subsistenz der Familien obliegt zumeist den Frauen. Zweitens trägt der informelle Sektor zu einer faktischen Lösung der Arbeitsmarktkrise bei. Denn er weist - trotz erheblicher Diskriminierungen durch den Staat - eine große Beschäftigungswirkung auf. Der Marktzutritt ist hier relativ leicht, der Kapitaleinsatz niedrig, die verwendete Technik einfach, die Arbeitsintensität ist daher hoch und die Löhne sind niedrig. Die hohe Beschäftigungswirkung des informellen Sektors gründet drittens darauf, dass kleine (lokale) Unternehmen, die bei Beachtung von sozialen und ökologischen Standards nicht wettbewerbsfähig wären und eigentlich vom Markt verschwinden müssten, ihre mangelnde Wettbewerbsfähigkeit durch die Überausbeutung der Arbeitskräfte, sei es bei den Löhnen oder bei den Schutzvorkehrungen und Arbeitszeiten, kompensieren. Derselbe Mechanismus, der in dem Fall der kleinen Unternehmen zur Missachtung von Normen und Standards zwingt, erweist sich im Fall großer transnationaler Unternehmen, mit denen die Mikrounternehmen des informellen Sektors in globalen Produktions- und Zulieferketten eng verwoben sind, als ein Mittel der Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit. Daher ist der informelle Sektor viertens für transnationale Unternehmen mit ihren ausländischen Niederlassungen ein nahezu unerschöpfliches Reservoir billiger Arbeitskräfte. Der Rückgriff auf Subunternehmer ermöglicht den transnationalen Konzernen eine Senkung der Kosten und eine Steigerung der Flexibilität, weil viele Risiken auf die abhängigen Zulieferer abgewälzt werden können. Zugleich ist das subcontracting ein geeignetes Mittel, um sich rechtlicher Verpflichtungen und der Verantwortung für Arbeitskräfte zu entledigen, die zwar ökonomisch von den transnationalen Unternehmen abhängig, rechtlich aber unabhängig sind.
Der informelle Sektor ist also eine Art Schockabsorber der Globalisierung4 und in dieser Funktion in das neoliberale Projekt der Herrschaft von oben eingebunden. Doch ist Informalisierung auch das Resultat der Praxis der Menschen, die von den Folgen der Globalisierung betroffen sind. Mangels überzeugender und praktikabler Alternativen folgen sie einer Strategie des "Neoliberalismus von unten" (Wilpert 2003). Sie entwickeln jene "Techniken des Selbst", der Anpassung an von außen vorgegebene Bedingungen, also eine subalterne Mentalität, die das Regieren im Sinne von Foucaults Konzept der "gouvernementalite" erleichtert (Foucault 1993; vgl. auch Opitz 2004). Die Kombination von Überwachen, Strafen und Selbstdisziplinierung ist für die Einbindung der Prekarisierten und Informellen in das neoliberale Marktprojekt eine solide Grundlage. Denn die Menschen müssen ihr Leben und Überleben sichern, indem sie die kleinsten Marktchancen ergreifen und so der gleichen Handlungslogik folgen wie im großen Stil die Manager großer transnationaler Unternehmen und die politisch Herrschenden. Die Kongruenz der Handlungsmuster ist ein wesentlicher Faktor der Integration von sozial gespaltenen Gesellschaften. Die Exklusion der marginalisierten, informell und zu prekären Bedingungen beschäftigten Bevölkerung scheint aufgehoben.
Schon Rudolf Bahro (1976) hat darauf hingewiesen, dass emanzipatorische Bedürfnisse und daher gesellschaftsveränderndes Handeln sich nur entwickeln können, wenn eine Mindestsicherung des Lebens gewährleistet ist. Wer für das Überleben kämpft, kann sich nicht gleichzeitig für die emanzipatorische Verwirklichung einer anderen Gesellschaft engagieren. Er bleibt im Marktsystem und seinen Gesetzmäßigkeiten eingeschlossen.
Aus diesem Grund sind Bücher wie das von Hernando de Soto (2000) über die "Mysteries of Capitalism" (Titel der deutschen Ausgabe 2002: "Freiheit für das Kapital!") so erfolgreich, nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit. Einfache und auf den ersten Blick überzeugende Lösungen werden vorgeschlagen, um die Informellen und Exkludierten wieder als vollwertige Mitglieder der Eigentümergesellschaft zu reintegrieren. Zu diesem Zweck sollen private Eigentumsrechte vergeben werden, Wettbewerb und Leistungsprinzip sollen gelten. Nun befinden sich die Informellen als kleine Kapitalisten in einer Welt, in der die Logik der Aneignung herrscht. Der kleine Kapitalstock, über den sie verfügen, kann als Sicherheit für Kredite dienen, mit denen sie Investitionen finanzieren können. Die Informellen, ja eigentlich alle Menschen, sind geborene Unternehmertypen, sie müssen nur über die Rechte verfügen, um den Unternehmergeist austoben zu können.
Diese zur Propaganda umgeformte Auffassung ist gefährlich simpel. Menschen sind nämlich keine geborenen Unternehmertypen, und außerdem ist es unmöglich, dass alle Menschen als Kapitalisten geboren werden. Kapitalisten sind ja zur Profitproduktion auf verfügbare Lohnarbeit angewiesen. Also müsste es auch geborene Lohnabhängige und einen "Geist der Lohnarbeit" geben. Davon spricht aber niemand, weil dies von peinlicher Absurdität wäre. Hinzu kommt, dass in modernen Gesellschaften in aller Regel die Eigentumstitel an Land bereits vergeben sind, also Eigentumsrechte kollidieren. Selbst das von de Soto positiv präsentierte Beispiel des US-amerikanischen "wilden Westens" liegt schief. Denn die Eigentumstitel der squatters, die so beispielhaft unbürokratisch vergeben worden sein sollen, bedeuteten Vertreibung und Tod der indigenen Bevölkerung.

Auch das Geld spielt in de Sotos Schrift nur eine eher randständige Rolle. "Geld setzt Eigentum voraus", heißt es lapidar (de Soto 2002: 79). Dabei ist die Bewertung des Eigentums ohne Geld gar nicht möglich. Man weiß aus der Kapitalrechnung, dass Eigentum so viel wert ist, wie es Ertrag bringt. 5.000 US$ pro Jahr bei einem Zinssatz von 5% sind der Ertrag bzw. Überschuss eines kalkulierten Kapitalwerts von 100.000 US$. Mit anderen Worten, der Wert des Eigentums ist keine fixe Größe, sondern abhängig von den Erträgen und dem Zinssatz. Letzterer wird auf globalen Finanzmärkten gebildet. Ob die Kredite, die die neuen Eigentümer aufnehmen, ihnen helfen, hängt von der Höhe der Zinsen und dem Gang der Geschäfte ab. Diese abstrakten, von Keynes in den 1930er Jahren analysierten Zusammenhänge mussten viele Menschen im Laufe der jüngsten Finanzkrisen sehr konkret erfahren. Diejenigen, die es schon zu einem kleinen Eigentum gebracht und auch Bankkredite aufgenommen hatten, mussten lernen, dass die Erträge ausbleiben können und gleichzeitig die gestiegenen Refinanzierungskosten der Banken in Form erhöhter Zinsen weitergewälzt werden. Die Folge war, dass die Schuldner massenhaft in Bankrott gingen. Eigentum allein ist also keineswegs der Prinzenkuss, der Dornröschen erweckt.
Jedoch kann de Sotos Argument auch umgekehrt werden. Es kann als Rechtfertigung der Landbesetzungen durch die Bewegungen der Landlosen, z.B. des Movimento Sem Terra (MST) in Brasilien, oder der Fabrikbesetzungen in Ländern wie Argentinien dienen. Hier geht es nicht um de Sotos Prinzip der Eigentumsrechte, sondern um die soziale und solidarische Nutzung brach liegenden Landes und still stehender Fabriken. Es handelt sich dabei um die Wiederaneignung von Räumen, die den Menschen zuvor genommen, von denen sie enteignet worden sind. Vielleicht bedient sich die Hegel'sche List der Geschichte der Argumente, die de Soto zu Gunsten des "Neoliberalismus von unten" vorträgt, um etwas ganz anderes, nämlich eine solidarische Ökonomie zu', begründen ...

8.3 Menschliche Sicherheiten gegen den Markt

Im neoliberalen Verständnis sind Unsicherheiten aus einer Reihe von Gründen eher von Vorteil als von Nachteil. Sie verhindern die Versuche einer Realisierung emanzipatorischer Bedürfnisse, da Unsicherheiten immer wieder in den Wettbewerb zurückzwingen und Solidarität nicht aufkommen lassen. Darüber hinaus üben sie, so die neoliberale Annahme, einen Anreiz zu Innovationen aus. Doch muss eine wettbewerbsfreundliche Marktordnung auch Verlässlichkeit für Unternehmens- und Konsumentenentscheidungen bieten. Nur in staatlich geschaffener innerer und äußerer Sicherheit können Kapitalisten ihren Geschäften nachgehen und ihren "ruhigen Leidenschaften" (Hirschman 1984) folgen. Allerdings ist es nicht gewährleistet, dass die "corporate security" immer mit "human security" oder "socio-economic security" kongruent ist und nicht in Widerspruch zu den Menschenrechten gerät. Der Begriff der Sicherheit ist also keineswegs eindeutig.
Dies lässt sich schon bei Adam Smith beobachten. Er sieht den Sinn von "public works and public institutions" (Smith 1776/1976: 244-282) darin, dass sie den "Handel und Wandel der Gesellschaft ... erleichtern" (245), im Inland durch infrastrukturelle Einrichtungen, im Ausland durch diplomatische Vertretung und militärischen Schutz des britischen Außenhandels und von britischen Handelskompanien. Sicherheit für die einen kann also durchaus Unsicherheit für andere einschließen; die Sicherheit des "british commerce" ist nicht gleichbedeutend mit verbesserter Sicherheit für Arbeiter und Bauern in den Kolonien. Auch die Strukturanpassungsmaßnahmen von Internationalem Währungsfonds und Weltbank zielen auf ökonomische Sicherheit für ökonomische Akteure. Die Politik der Öffnung von nationalen Ökonomien für Warenhandel, Direktinvestitionen und Finanzanlagen hat zwar die Chancen für gute Geschäfte transnationaler Konzerne verbessert und deren ökonomische Sicherheit im Sinne eines wirtschaftsfreundlichen politischen und sozialen Umfeldes erhöht. Aber soziökonomische Sicherheit, in dem umfassenden Sinne, den die ILO entwickelt hat, bleibt dabei auf der Stecke.5
Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) definiert das Dreieck von human development - human security - human rights als das Feld, auf dem Globalisierung im Interesse der Menschen gestaltet werden kann (explizit dazu Commission on Human Security 2003) und zwar durch die Bereitstellung von öffentlichen Gütern (vgl. dazu auch Mahnkopf 2003). Dieses Dreieck durchschneidet verschiedene Bedeutungsebenen. Die Menschenrechte sind universal und weder revozierbar noch relativierbar. Menschliche Sicherheit dagegen kann unter verschiedenen historischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen auf verschiedene Weise hergestellt werden. Auch wenn die Menschenrechte soziale Rechte einschließen ("zweite" und "dritte" Generation von Menschenrechten), erfassen sie nicht alle Dimensionen von menschlicher Sicherheit, die durch Unsicherheiten im Zuge globaler Transformationen gefährdet sind. Das Konzept der menschlichen Sicherheit ist also dem der Menschenrechte gewissermaßen "vorgelagert"; der Verlust menschlicher Sicherheit nämlich kann zur Verletzung von Menschenrechten führen, weil diesen die materielle Basis abhanden kommt. Erst wenn menschliche Sicherheit die Wahrnehmung der Menschenrechte unterstützt, erhält Entwicklung ein "menschliches Antlitz". Erst wenn die Nahrungssicherheit gewährleistet ist (vgl. dazu Friedmann 2004), ist das Menschenrecht auf würdiges Leben keine leere Proklamation.
Menschliche Sicherheit hängt wesentlich von der Bereitstellung öffentlicher Güter ab. Diese umfassen (1) verlässliche Regeln in einer Gesellschaft, (2) die Vermeidung von Instabilitäten und die Wiederherstellung stabiler Verhältnisse, wenn sie denn - wie in finanziellen Krisen - destabilisiert worden sind, (3) die "Daseinsvorsorge" in jenen Passagen des menschlichen Lebens, in denen Individuen oder Familien nicht in der Lage sind, aus eigenen Ressourcen für Bildung und Ausbildung, für Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit, für die Alterssicherung oder auch für Nahrung und Unterkunft, für Wasserangebot und Abwasserbeseitigung Sorge zu tragen, (4) der Zugang zu all jenen Gütern und Diensten, die für die menschliche Existenz wesentlich sind, (5) die materielle und immaterielle Infrastruktur der Gesellschaft. Kurz: Menschliche Sicherheit wird durch die Bereitstellung öffentlicher Güter gewährleistet.6
Wenn menschliche Sicherheit in so zentraler Weise auf der Bereitstellung öffentlicher Güter beruht, dann stellen die starken ökonomischen und politischen Kräfte, die auf die Privatisierung öffentlicher Güter drängen, eine Gefährdung der menschlichen Sicherheit dar. Dann wird es geschehen, dass die Versorgung der Menschen mit öffentlichen Gütern zum Angebot wird, das nur zustande kommt, wenn nicht nur Bedürfnisse da sind, sondern diese sich in kaufkräftige Nachfrage übersetzen lassen. Dann dominiert das marktmäßige Äquivalenzprinzip und für Solidarität bleibt wenig Raum. Menschen können nun ihre Sicherheitsbedürfnisse nicht mehr als Bürgerinnen und Bürger eines (Sozial)Staats unter Gleichen beanspruchen, sondern müssen Sicherheit von Sicherheitsfirmen als Konsumenten auf dem Markt kaufen. Menschliche Sicherheit wird zu einer Ware, und daher eine Frage des Geldbeutels. Da bei Unsicherheit die Nachfrage nach Sicherheit steigt, haben die Anbieter der Ware Sicherheit sogar Interesse an unsicheren Verhältnissen. Dann kann Sicherheit auch von Mauern, Gittern und Toren oder von Wachpersonal, Kontrolleuren, Polizisten oder anderen bewaffneten Ordnungskräften erwartet werden - oder sie ist die Konsequenz von sozialer Ignoranz.7 Sicherheit wäre in der inkludierten "gated community" zu haben, gegen die Exkludierten, denen ein hoher Grad von Unsicherheit und Schutzlosigkeit zugemutet wird. Unter Bedingungen der Unsicherheit wird sich das Handlungsmuster der Solidarität nicht ausbilden können. Stattdessen erwarten viele Menschen Sicherheit von autoritären Regierungen. In einer Umfrage des UNDP in Lateinamerika haben 44,9% der befragten 18.643 Personen aus 18 Ländern geantwortet, dass sie ein autoritäres Regime akzeptieren würden, wenn ihnen dieses ökonomische Sicherheit garantieren würde (UNDP 2004). Die Suche nach Sicherheit in einer durch Unsicherheit gekennzeichneten Situation kann also für die Demokratie gefährlich werden. Eine solidarische Organisation des Wirtschaftens ist ebenfalls gefährdet, weil die Sicherheit ja "von oben" erhofft wird. Obendrein geraten Menschen leicht in das Schattenreich informeller Aktivitäten oder in die Illegalität und Kriminalität oder sie verlassen ihre Heimat und schlagen sich als Flüchtlinge und Migranten durchs Leben.
Hardt und Negri (2002: 224) erblicken im massenhaften Nomadismus von Arbeitern nicht etwa den Ausdruck von existenzieller Unsicherheit, sondern den der Verweigerung und der Suche nach Befreiung sowie neuen, besseren Lebensbedingungen. Holloway interpretiert ebenfalls Migration als "eine Form der Flucht, voller Hoffnung, von dem Kapital zu fliehen", als "Kampf um die Autonomie", als das "NEIN, das in der einen oder anderen Form nicht nur auf den Arbeitsplätzen, sondern in der gesamten Gesellschaft widerhallt" (Holloway 2002: 216 f.). Leider ist es allenfalls in vereinzelten Fällen so. Die Regel der Migration ist es nicht. Die Flucht führt nicht vom Kapital fort, sondern zumeist in die Arme von Menschenhändlern und finsteren Ausbeutern. Migration ist eine Form des "exit", und zu fragen ist doch, warum Migrantinnen und Migranten nicht die "voice" erheben. Diese von Alfred Hirschman (1970) schon zu Beginn der 1970er Jahre entwickelte Unterscheidung hat er später für seine Interpretation der Flucht aus der DDR ("exit") und der Montagsdemonstrationen ("voice") des Jahres 1989 angewendet. Aber der von Holloway in seiner existenzialistischen Geschichtsinterpretation immer wieder vermerkte "Schrei" der Menschen ist nicht "voice", sondern unartikulierter Ausdruck tiefer Hilflosigkeit.
Menschliche Sicherheit ist ein Element der solidarischen und fairen Ökonomie, und umgekehrt ist solidarisches Wirtschaften eine Bedingung für die Verbesserung sozioökonomischer und menschlicher Sicherheit. Zur Wettbewerbsordnung und der Wirkung des Leistungsprinzips gehört Unsicherheit als permanente Lebenserfahrung. Eine solidarische Ökonomie ist nur vorstellbar, wenn das Territorium, wo sie praktiziert wird, gesichert ist. Landbesetzer und Fabrikbesetzer brauchen ein Minimum menschlicher Sicherheit, um das Land zu bebauen und um die Fabriken zum Produzieren zu bringen. Diese Sicherheit kann in aller Regel nicht durch das Wirken des Marktmechanismus gemäß dem Äquivalenzprinzip entstehen. Auch populistische und autoritäre Führer können Sicherheit zwar versprechen, diese aber nicht gewährleisten. Das wollen sie auch gar nicht, da ja ihre Macht auf der Verbreitung von Unsicherheit gründet. Zur Herstellung von Sicherheit bedarf es der Bereitstellung öffentlicher Güter durch lokale, nationale oder auch global wirkende politische Institutionen. Dies wird nur geschehen, wenn soziale Bewegungen entsprechenden Druck ausüben und sich für Alternativen einer solidarischen und nachhaltigen Ökonomie stark machen.

8.4 Die Wiederaneignung von Raum und Zeit durch soziale Bewegungen

Die solidarische Ökonomie ist das Werk von sozialen Bewegungen bei ihrem Bemühen der Wiederaneignung von Raum und Zeit. Diese Bewegungen lassen sich daher auch als "sozioterritoriale Bewegungen" bezeichnen (Mancano Fernandes 2005). Die Landlosen eignen sich Land an, das ihnen einst genommen oder vorenthalten worden ist. Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz in der Krise verloren haben, besetzen die still stehenden Fabriken ("fabrica recuperada", die zurückgewonnene Fabrik). Bewegungen in den Stadtvierteln (community movements) verteidigen öffentliche Räume und Einrichtungen gegen die Versuche der Privatisierung und gegen die Repression zur Durchsetzung der neoliberalen Privatisierungsstrategien. Die Wiederaneignung von territorialen Räumen kommt nicht von ungefähr. In vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens sind die Staaten durch Finanzkrisen und nachfolgende Strukturanpassung geschwächt, so dass es wenig aussichtsreich ist, soziale Forderungen an die Regierung zu richten. Sie werden sich selbst den legitimen Forderungen mit dem Verweis auf Sachzwänge des Marktes entwinden und häufig Polizei und Militär als Bewahrer des status quo einsetzen. Viele nationale Unternehmen sind nach der Öffnung der nationalen Märkte und der durchgängigen Privatisierung (häufig eine Konditionalität in den Strukturanpassungsprogrammen des IWF) von transnationalen Konzernen übernommen worden. Diese haben viele strategische Optionen und können sich sehr leicht den Ansprüchen der sozialen Bewegungen durch Kapitalflucht, Produktionsverlagerung verweigern oder die Ordnungsmächte durch Korruption auf ihre Seite ziehen.
Die neoliberale Politik der vergangenen Jahrzehnte hat also in vielen Ländern die politisch-ökonomische Konstellation grundlegend verändert. Die Staaten sind geschwächt und das Kapital hat den globalen Raum besetzt. Daher bleibt für neue soziale Bewegungen häufig nur die territoriale Besetzung vor Ort, um die eigenen Forderungen nach der Verbesserung von Lebensbedingungen erfüllen zu können. Dies kann nur in Selbstverwaltung geschehen, wenn der nationale Staat schwach ist oder die Regierung sich durch "schlechte Regierungsführung" (als "mal gobierno" bezeichnet die zapatistische Bewegung das mexikanische Regierungssystem) auszeichnet und auf dem Markt mangels Kaufkraft die sozialen Dienste und Güter nicht erworben werden können, die für ein gutes Leben notwendig sind. In den sozioterritiorialen Auseinandersetzungen entstehen öffentliche Räume, die zuvor nicht existierten. Private Eigentumsansprüche werden gewissermaßen sozialisiert, aber nicht im Sinne der traditionellen Arbeiterbewegung, die dabei auf den Staat gesetzt hat und Sozialisierung in erster Linie als Verstaatlichung verstand. Die Sozialisierung ist das Ergebnis von vernetzten gesellschaftlichen Aktivitäten im territorialen Raum.
Es entstehen autonome Bereiche, die von Bewegungen selbst verwaltet werden. Dabei handelt es sich keineswegs um Neuentdeckungen. Lucio Gambi erinnert daran, dass die italienische Widerstandsbewegung, die resistenza, die von ihr eroberten, besetzten und verteidigten Territorien autonom verwaltete und so alternative Strukturen der Staatlichkeit schufen, bevor der italienische Staat nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstand (Gambi 1994: 89f). Er zeigt am Beispiel der alpinen Täler, dass die territoriale Autonomie durch das Relief und die ökonomischen Voraussetzungen der jeweiligen Region beeinflusst wird. Sozioterritoriale Bewegungen werden also nicht nur von der Geschichte und Kultur, von den politischen Verhältnissen und ökonomischen Entwicklungen beeinflusst, sondern auch von der geographischen Charakteristik des Territoriums. Im Zuge der Errichtung autonomer Räume wandeln sich das Territorium, die sozialen Beziehungen und die politischen Machtverhältnisse.
Autonomie hat nicht nur eine territoriale, räumliche Dimension, sondern auch eine zeitliche. Auch die Autonomie von Zeit ist ein Ziel sozialer Bewegungen, die daher auch soziotemporal genannt werden könnten. Die Aneignung von "verlorener" Zeit als "disponible Zeit" ist eine Reaktion auf die Ansprüche des Kapitals, die Arbeitszeit über alle Maße hinaus zu verlängern8. In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit ist der Druck, die Arbeitszeit zu verlängern, besonders stark, weil die Gewerkschaften geschwächt sind. Zugleich wird infolge der Arbeitszeitverlängerung der Beschäftigten die "Reservearmee" der Arbeitslosen größer. Weder die einen noch die anderen verfügen über Zeitautonomie. Diejenigen mit überlangen Arbeitszeiten leiden darunter, dass sie weder über ausreichend Zeit zur physischen und psychischen Rekreation verfügen, noch die kulturellen und sozialen Angebote wahrnehmen können. Den Arbeitslosen wiederum fehlt die Kaufkraft ("money is time"), um diese Angebote nachfragen zu können, ganz abgesehen von den Auswirkungen der mangelnden Anerkennung von Arbeitslosen in einer Arbeitsgesellschaft. Wegen dieser Gegensätze entstehen immer wieder Bewegungen, die das Problem zusammen mit den Gewerkschaften durch eine Verkürzung der Arbeitszeit zu lösen versuchen. "Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit ..." (Marx 1953: 599). Auch in der Reproduktion ist Zeitautonomie ein zentraler Gegenstand von Auseinandersetzungen, insbesondere von der Frauenbewegung auf die Tagesordnung gesetzt. Ein Aspekt dieser rekreativen Zeitautonomie ist auch die Autonomie der Ernährung (Vinz 2005). Zeitautonomie muss also nicht nur gegenüber dem Kapital durchgesetzt werden. Sie erfordert Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen, eine Neugestaltung der Lebensräume, ganz praktisch vom Wohnzimmer bis zur Küche. Auch können tief verwurzelte soziale Regeln ein Hindernis sein, wenn sie eine Unterordnung unter Zeitrhythmen verlangen, die in Konflikt mit Eigenzeiten geraten. Die materielle Infrastruktur, Verkehrssysteme und deren Fahrpläne beispielsweise, schränken Zeitautonomie ein. Deren Erweiterung erfordert also beträchtliche strukturelle Anpassungen.
Neue soziale Bewegungen sind vielfältiger als die "alten sozialen Bewegungen". Die Arbeiterbewegung hatte einen eindeutig identifizierbaren Gegner, das Kapital. Doch die Klassenkonflikte waren wesentlich auf nationalstaatlich umschriebenem Terrain institutionalisiert, sie fanden in sozialen Räumen statt, in denen es um monetäre Größen (vor allem um die Höhe der Löhne), Arbeitsbedingungen und -zeiten, Möglichkeiten der Partizipation in Betrieben und in der Gesellschaft und im politischen System ging. Das Konfliktfeld war also einigermaßen übersichtlich, jedenfalls im Vergleich zu den sozialen Auseinandersetzungen heute. Es war das Dreieck von Organisationen der Arbeiterbewegung und des Kapitals und des Nationalstaats. Die Form der Auseinandersetzungen war durch die Organisation, durch Partei und Gewerkschaft bestimmt. Die Machtfrage reduzierte sich häufig auf die Auseinandersetzung um die Besetzung der "Schaltstellen" innerhalb des erweiterten Staatsapparats. Vorübergehend in einer Übergangsperiode war eine Art "Doppelherrschaft" möglich, die aber irgendwann eindeutig zu Gunsten der Machtübernahme beendet werden sollte. So jedenfalls argumentierte man im "revolutionären" Flügel der Arbeiterbewegung; im "reformistischen" Flügel richtete man sich in dem Dreiecksfeld ein und befolgte die dort geltenden korporatistischen Spielregeln.
Das ist in den sozioterritorialen Auseinandersetzungen anders. Dies liegt erstens an den Themen, die nicht mehr vorwiegend auf den Nationalstaat bezogen sind. In Zeiten der Globalisierung reichen sie von der Regulation globaler Finanz- und Gütermärkte und der Umgestaltung der globalen Institutionen, der Verhinderung des Klimakollapses des Planeten Erde, der Bekämpfung moderner Seuchen wie Aids bis zur Organisation des koordinierten Widerstands gegen die US-Besetzung des Irak, bis zur lokalen Verteidigung von Biotopen gegen die automobile Infrastruktur oder bis zur Verhinderung der Umleitung von Flüssen zur Bewässerung der für den Export produzierenden Landwirtschaft. Die Globalisierung und die dargestellten Krisentendenzen des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, sind neue Herausforderungen, die die "alten sozialen Bewegungen" nicht kannten und vielleicht nicht kennen mussten. Daher sind auch die Akteure verschieden, und sie haben nicht die gleiche Klassenbasis wie die traditionelle Arbeiterbewegung. Darin kommen die historischen Strukturveränderungen des Kapitalismus und der sozialen Lage der Akteure zum Ausdruck. Die sozialen Konflikte haben also viele Dimensionen und müssen in vielen Räumen von den globalen Märkten bis zur lokalen Gemeinde geführt werden.
Zweitens finden die Auseinandersetzungen mehr und mehr auch außerhalb des "formellen" Klassenverhältnisses, im größer werdenden Bereich der Informalität statt. Denn mehr und mehr Menschen werden aus den formellen Produktions- und Verteilungssystemen ausgeschlossen. Dagegen bilden sich jene Bewegungen, die sich für Solidarität und Nachhaltigkeit einsetzen: Genossenschaftsbewegungen, Land- und Fabrikbesetzer, Organisationen der Stadtviertel, Umweltgruppen und diejenigen, die sich für die Einführung erneuerbarer Energien stark machen. Die Logik des Handelns wird nicht mehr hauptsächlich von monetären Verteilungsprinzipien vorgegeben, sie ist auch nicht mehr in allererster Linie von der "Zentralität der Arbeit" bestimmt, sondern von den vielfältigen sozialen und kulturellen Interessen, die sich im Territorium kreuzen.
Daraus ergibt sich drittens eine neue Form der Auseinandersetzungen. Die zentral geführten Organisationen sind durch die gleichen Entwicklungen geschwächt, die auch Staat und Kapital verändert haben. Die heute daher angemessene Form der Auseinandersetzung ist die vielfältige Vernetzung von Gruppen, Initiativen, Organisationen, die sich regelmäßig zu Ratschlägen oder Foren auf verschiedenen Ebenen - lokal, national, global - treffen, Erfahrungen austauschen, theoretische Reflexionen anstrengen und gemeinsame Aktionen und Kampagnen beschließen. Das ist ein offener politischer Prozess, in dem auf ein verbindliches Programm verzichtet werden kann. An die Stelle der Programminhalte tritt die Methode der Erarbeitung von strategischen Zielen und Schritten, sie zu erreichen. Das entspricht etwa dem, was Lelio Basso mit dem Konzept der kollektiven Forschung (ricerca colletiva) intendierte.
Diese Vernetzung sozialer Bewegungen im Raum ist etwas anderes als die von Hardt und Negri (2002; 2004) imaginierten Netzwerke. Der ins "Empire" mutierte globalisierte Kapitalismus sei eher als Netzwerk immaterieller Arbeiten abzubilden, und die Macht des Kapitals sei in "globaler Demokratie" in die Hand der "multitude" gelangt. "Wenn dies geschieht, würde die kapitalistische Herrschaft über die Produktion, über die Zirkulation und die Kommunikation gestürzt" (Hardt/Negri 2002: 352). Ist dies mehr als eine Hoffnung, die auch trügen kann? Ist der moderne Kapitalismus als "Empire", basierend auf Netzwerken immaterieller Tätigkeiten und alle Lebenssphären integrierender "Biopolitik" richtig verstanden? Ist eine "multitude ... biopolitischer Gestalten" (Industriearbeiter, immaterielle Arbeiter, Landwirte, Arbeitslose, Migranten) (Hardt/Negri 2004: 10, 179) im Entstehen? Es muss daran gezweifelt werden. Denn wenn sich die "biopolitischen Gestalten" bewegen, dann in sozialen Räumen mit territorialer Dimension, wo Auseinandersetzungen "face to face" ausgetragen werden.
Die amorphe Verschiedenheit von Ethnien, Nationalitäten, Kulturen, Erfahrungen mag den Eindruck der Menge, der "multitude" erwecken. Doch diese wird zum Subjekt erst durch Entwicklung einer Identität in der Verschiedenheit. Die Voraussetzungen dafür sind vorhanden. Denn die Anliegen sind sehr ähnlich, und dies ist ein starker Grund für die Bedeutung einer Institution wie der des Weltsozialforums und der vielen regionalen Sozialforen, die regelmäßig seit der Jahrhundertwende stattfinden. Das ist Identitätssuche in akzeptierter Verschiedenheit im globalen Raum. Kann eine "Zuspitzung" überhaupt vorgestellt wer-den, wenn die Subjekte als eine "multitude" gedacht werden, ohne den von Hobbes vorgesehenen Schritt zu vollziehen, die Menge nämlich durch Prozesse der Repräsentation und des Konsenses zu vereinheitlichen? "A multitude of men are made one person when they are by one man, or one person, represented; so that it be done with the consent of every one of that multitude in particular" (Hobbes, Leviathan, chapter XVI: Of Persons, Authors, and Things Personated"). In der Repräsentation darf nicht die Verschiedenheit verschwinden. Doch eine Vereinheitlichung von Zielen und Formen der Auseinandersetzungen ist notwendig, und diese kann im Prozess der kollektiven Forschung erreicht werden, die gerade nicht zu einem programmatischen Abschluss, zu einer formellen Vereinheitlichung führen soll, ganz im Gegenteil.
Auch die neuen sozialen Subjekte unterliegen viertens der von Rosa Luxemburg herausgearbeiteten Dialektik von Reform und Revolution. Manche NGOs lassen sich - bestenfalls reformistisch - die Funktionen von "failing" oder "collapsing" states übertragen oder sie lassen sich von der Weltbank kooptieren, um Entwicklungsprojekte effizienter durchführen zu können. Sie werden subaltern in den globalen Funktionsmodus der kapitalistischen Herrschaft (in die Institutionen der "global governance") integriert, häufig im Rahmen von UNOMissionen oder anderen internationalen Friedens- und Hilfsprojekten. Sie helfen dabei in aller Regel, die Not von unmittelbar betroffenen Menschen zu lindern. Das ist nicht wenig. Aber sie sorgen zugleich dafür, dass das System, das für das Elend, das sie lindern helfen, verantwortlich ist, auf diese Weise stabilisiert und perpetuiert wird. Reformistische NGOs versuchen, Ordnung in das Chaos der Restauration zu bringen in der Erwartung, dass aus dem System selbst die Einsicht in die Notwendigkeit einer ganz anderen, alternativen Entwicklung emergieren könnte. Der Glaube an eine Vernunft, die ökologische und soziale Grenzen zur Kenntnis nimmt, herrscht über die analytische Einsicht, dass auch die vernünftigsten, ökologisch und sozial bewusstesten Akteure den Systemzwängen gehorchen. Daher geht es um eine Radikalisierung der Fragestellung, die schon Rosa Luxemburg aufgeworfen hatte: "Sozialismus oder Barbarei", bzw. in den Worten der Zapatistas "Solidarität oder Barbarei". Nur darf man sich den Sozialismus nicht so denken, wie er im "kurzen 20. Jahrhundert" real existierte. Die Barbarei ist nur zu verhindern durch den Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft (in einer "solaren Weltwirtschaft" /Scheer 2002/ durch eine "solare Revolution" /Altvater 1992/). Das ist kein einmaliges Ereignis der Machtergreifung, sondern eine langfristig angelegte Veränderung aller Arbeits- und Lebensformen im Zusammenhang mit der Nutzung erneuerbarer Energien gegen die Übermacht der scheinbar objektiven Sachzwänge und subjektiven Vertreter des konventionellen fossilen Energieregimes.
Immer also geht es fünftens darum, autonome Räume des Neuen und neue Zeitrhythmen gegen die Verteidiger des status quo zu erobern, zu besetzen. Das geschah auch in der Aufstandsbewegung in Chiapas, als die EZLN eine neue Form der Volkssouveränität gegen die staatliche Souveränität setzte, also nicht die Staatsmacht erobern, sondern neue Machtverhältnisse etablieren wollte. Das kann nur mit Hilfe von Strukturen der Selbstverwaltung gegen und außerhalb der Staatsverwaltung gelingen, also mittels Parallelstrukturen des Bildungs- und Gesundheitswesens, der öffentlichen Sicherheit und der sozialen Fürsorge. Dabei waren die Zapatistas erfolgreich und dies hat Autoren wie John Holloway verleitet, die Relevanz der Frage der Macht zu bestreiten. Doch war die EZLN seit der Errichtung autonomer Gemeinden nach 1994 immer gezwungen, sich gegen Polizei und Militär sowie gegen paramilitärische Gruppen zu verteidigen, und zwar mit bewaffneter Gewalt. Das volkssouveräne Gemeinwesen war seit der Entstehung in einen Krieg niedriger Intensität verwickelt. Die Zapatistas haben daher versucht, die mexikanische Zivilgesellschaft in den Städten und die internationale Öffentlichkeit für ihre Sache zu mobilisieren. Dies ist trotz spektakulärer Solidaritätstreffen nur zum Teil gelungen. Eine Lehre, die zu ziehen ist, lautet daher: In Zeiten der Globalisierung und eines schwachen Nationalstaats haben lokale Bewegungen mehr Spielraum als in Zeiten der starken Nationalstaatlichkeit. Dennoch bleibt das Dilemma, dass nur einige der Staatsfunktionen im volkssouveränen Gemeinwesen legitim übernommen werden können, nicht aber alle (z.B. nicht die Funktion der Besteuerung), und dass daher die Doppelherrschaft sehr fragil ist. Sie wird entweder zu einer Art "Kohabitation" oder vor die Alternative gestellt, in Richtung der (revolutionären) Machtveränderung im Staatswesen oder der (konterrevolutionären) Liquidierung der zapatistischen Volkssouveränität aufgelöst zu werden.
In diesem Zusammenhang kann es sechstens auch sinnvoll sein, über "Kommunismus", über eine "Gesellschaft jenseits von Ware, Geld und Staat" (Heinrich 2004: 216-221) nachzudenken. Aber das reicht nicht aus, weil die gesellschaftlichen Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ihren Anfang nehmen, provoziert durch soziale Bewegungen, die ihre Wurzeln im Hier und Heute haben. Sie mögen daher über "Kommunismus" nachdenken, aber sie handeln in kapitalistischem Umfeld. Die Frage stellt sich aber, ob und inwiefern die ökonomische und politische Praxis über kapitalistische Formen hinausweist. Was ist das transzendierende Potenzial von solidarischer Ökonomie und nachhaltiger Gesellschaft?

8.5 Die Antwort auf den "Neoliberalismus von unten": die solidarische Ökonomie

In Europa und auf anderen Kontinenten gibt es schon lange Erfahrungen mit einem dritten, einem Non-Profit-Sektor von Genossenschaften, Selbsthilfegruppen, gemeinnützigen Stiftungen, Tauschringen, Einrichtungen des Mikrokredits etc., die sich nicht vom individualistischen Äquivalenz- sondern vom kollektiven Solidaritätsprinzip, von einer "deliberativen Horizontalität" aller Beteiligten, wie Elgue (2005: 43) es nennt, leiten lassen. Das ist ein Prozess einer ökonomischen und sozialen Demokratisierung, in der die Träger einer solidarischen Ökonomie zu "selbstbewussten Subjekten" werden. Hier können die in der Zwischenwelt der lnformalität sozial verschwundenen Menschen wieder auftauchen, indem sie soziale Räume und Territorien besetzen und nach eigenen Interessen selbst verwalten.
Die OECD schätzt, dass "nearly 39,5 million people in FTE (full-time employment) jobs are employed in the non-profit sector (excluding traditional co-operatives) in the 35 countries studied by the Johns Hopkins comparative non-profit sector project. The non-profit sector employs 3.6% of the working age population representing 7.3% of non-agricultural employment and 45% of public sector employment. Taken as a separate economy it would be the sixth largest economy in the world ... In the countries for which comparative data was available the nonprofit sector has also recently shown signs of rapid growth between 1990 and 1995, non-profit employment increased by 23% compared to 6% for the economy as a whole" (OECD 2003: 11). Die folgende Tabelle vermittelt einen Eindruck von den Größenordnungen einer Ökonomie, die bereits Elemente von Solidarität enthält.
In Deutschland arbeiten etwa 1,9 Mio. Arbeitskräfte in genossenschaftlichen und gemeinnützigen Unternehmen (Birkhölzer 2005). Generell ist es schwierig, genaue quantitative Angaben zu machen, da zur sozialen und solidarischen Ökonomie sehr viele, sehr unterschiedliche Einrichtungen zählen: Die Apparate von NichtRegierungsorganisationen, Genossenschaften, Hilfseinrichtungen, Forschungs- und Beratungseinrichtungen, die zum Teil aber zum öffentlichen Sektor (Universitätsinstitute) oder zum privaten Sektor (Rechtsberatung) gehören (Birkhölzer/Kistler/Mutz 2004; Elgue 2005: 44ff.). Die Genossenschaften sind zum Teil in den Weltmarkt integriert. Die land- und viehwirtschaftlichen Genossenschaften in Argentinien tragen wesentlich zum Export des Landes bei. Das ist in Brasilien nicht anders.

In vielen Fällen ist die solidarische Ökonomie, sind die neuen Genossenschaften ein Kind der Not (Altvater/Mahnkopf 2002: 187ff.). Wenn, wie in Argentinien 2001, das formelle Geld verschwindet, entstehen Tauschbörsen, werden Kooperativen zur Versorgung der armen Bevölkerung gebildet, werden Betriebe von den Belegschaften übernommen (vgl. die Berichte in Sin Patrón 2004). Die Zahl der Tauschringe in Argentinien ist von nur zwei im Jahre 1995 auf etwa 400 im Jahr 2000 und auf 5.000 im Jahr 2002 nach der großen Krise von 2001 gestiegen (Hintze 2003: 20). Die Rolle der Tauschringe darf nicht überbewertet werden. Das gilt auch für die Ersatzwährungen, als das "currency board", also die fixe Bindung des Peso an den US-Dollar, in Argentinien aufgehoben wurde. Sie verschwinden zum Teil wieder, wenn die größte Not überwunden ist. Auch in Chile haben die Menschen in den Armenvierteln auf genossenschaftliche Weise das Überleben während der bitteren Jahre der Pinochet-Diktatur gesichert.
In Brasilien sind ebenfalls Kollektive und Kooperativen entstanden, die eine praktische Kritik des neoliberal forcierten Individualismus und zugleich eine gesellschaftliche und, politische Kraft darstellen. Schon vor mehr als zehn Jahren ist die Vereinigung der Arbeitenden in selbstverwalteten Betrieben (ANTEAG) gegründet worden, die traditionelle Bildungsaufgaben, Beratung und die Interessenvertretung gegenüber der Regierung, den Gewerkschaften, in der Öffentlichkeit übernommen hat. Brasiliens Staatspräsident Lula da Silva hat auf diese neue Herausforderung reagiert und einen Beauftragten für die solidarische Ökonomie (Paul Singer) eingesetzt. So kann ein Beitrag zur Integration der Informellen und Exkludierten geleistet werden; der souveräne Nationalstaat erkennt die volkssouveränen Sektoren als Alternativen an und bekämpft sie nicht. Diese Initiative ist das Gegenteil der eher zynischen Instrumentalisierung des informellen Sektors als "shock absorber" der negativen Effekte der Globalisierung durch den Vorgänger Lulas, Fernando Henrique Cardoso. Der informelle Sektor ist keine Notlösung, er ist erst recht keine Lösung der Krise der formellen Ökonomie, wie Vargas Llosa oder Hernando de Soto in neoliberalem Überschwang nicht müde werden zu erläutern.
Alte Erfahrungen der Genossenschaften werden also wiederentdeckt, eine "moralische" oder "solidarische" Ökonomie entsteht. Zusammen mit entsprechenden Bildungsanstrengungen zum "capacity building" und "empowerment" wird ein Beitrag zur "ökonomischen Alphabetisierung" (Pierre Bourdieu) geleistet. Sicherlich funktioniert dies alles nur, wenn formelle Institutionen Hilfe leisten, also nicht als Blockaden des Neuen und daher der Bewegungen auftreten, wenn Nicht-Regierungsorganisationen mit ihren Erfahrungen dabei sind, wenn Intellektuelle diese Tendenzen unterstützen, Universitäten Bildungsarbeit leisten und den Genossenschaften, Fabrik- und Landbesetzern und anderen genossenschaftlichen Unternehmen und Zusammenschlüssen Rat erteilen. Dieser ist notwendig. Technische Unterstützung oder Rechtsberatung werden benötigt. Dies gilt auch
für die Beantwortung von Finanzierungsfragen oder bei der Beratung der Volksküchen in Ernährungsfragen durch ernährungswissenschaftliche Institute von Universitäten. In Brasilien werden diese Einrichtungen der Unterstützung einer solidarischen Ökonomie "Brutkästen" (Incubadoras) genannt. Es handelt sich um Hilfestellung bei der Sicherung des Überlebens und bei der ökonomischen Gestaltung der Produktion, des Einkaufs und Verkaufs. In gewissem Sinn handelt es sich um Unternehmensberatung für genossenschaftliche Klein- und Mittelbetriebe. Auch das Internet spielt eine wichtige Rolle, etwa für Tauschringe oder für die Beratung von Genossenschaften und von anderen Initiativen.
Dem Bildungswesen kommt also bei der "ökonomischen Alphabetisierung" eine besondere Bedeutung zu. Elgue (2005: 52-57) stellt einen ganzen Katalog von Forderungen und Grundsätzen auf. Diese reichen von der Vermittlung der Prinzipien von Solidarität und Genossenschaftlichkeit auf allen Stufen des formellen Bildungssystems über die Vermittlung von Mikrokrediten für lokale Entwicklung, die Ausbildung eines sozialen Gleichgewichts und die Übernahme sozialer Verantwortung, bis zur Aus- und Weiterbildung für Akteure der solidarischen Ökonomie, zur Unterstützung der landwirtschaftlichen Vereinigungen, der Förderung von Unternehmen für Jugendliche, von Hilfsfonds für sanierte Unternehmen, der Bildung eines Forums von Lehrern und Forschern auf dem Gebiet der solidarischen Ökonomie, schließlich bis zur supranationalen Kooperation der Einrichtungen der solidarischen Ökonomie in den Ländern, die dem Mercosur angehören, dem gemeinsamen "Markt des Südens", den Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay zu Beginn der 1990er Jahre gebildet haben.
Darüber hinaus geht es auch um die Unterstützung bei Aktionen der Fabrik- und Landbesetzung. Erstens stellt sich immer die Frage der Legalisierung und daher ist der Staat involviert. Denn die Regierungen sind zuständig für die Entscheidungen, die die Besetzungen legalisieren oder nicht. Ohne politische Unterstützung von Arbeitern, die Betriebe, die pleite sind, unter eigener Regie weiterführen (in Argentinien empresas recuperadas genannt), sind die Projekte langfristig in aller Regel zum Scheitern verurteilt. Das gilt erst recht für die Verteidigung gegen die oftmals extrem gewalttätigen Großgrundbesitzer und deren Helfer, wenn Landlose nicht produktiv genutztes Land okkupieren. Auch Paramilitärs spielen eine makabre Rolle bei der Verhinderung von Alternativen der solidarischen Kooperation. Häufig lässt sie die Staatsgewalt gewähren. Die Morde an Kleinbauern und Landbesetzern sowie an deren Unterstützern (Kirchenleute, Vertreter von Nicht-Regierungsorganisationen oder einzelne Medienvertreter) in Brasilien haben internationale Proteste provoziert. Die Gewalt gegen diejenigen, die das ihnen genommene Territorium wieder aneignen, kann nur verhindert werden, wenn Gegenmacht und Druck auf die Regierenden ausgeübt wird.
Die eher lokalen Initiativen einer solidarischen Ökonomie bedürfen also der Ergänzung und Förderung auf nationaler und globaler Ebene. Wie die solidarische Ökonomie funktionieren kann und wie sie sich entwickelt, ist nicht nur von den Initiativen der aktiven Mitglieder und Unterstützer abhängig, sondern auch von der Politik der Regierungen. Von einer neoliberal eingestellten Regierung ist diese nicht zu erwarten. Gegen den Markt werden keine politischen und sozialen Projekte der zivilen Solidarität unterstützt. Es wird keine Alternative zum individualistischen Äquivalenz- und Wettbewerbsprinzip geduldet. Anders ist dies bei Regierungen mit einem Mindestmaß an sozialer Verantwortung. Die Krise der Staatsfinanzen engt den Handlungsspielraum von Regierungen und Kommunen zwar ein. Doch gibt es viele Möglichkeiten der Unterstützung alternativer Projekte. Die Regierungen Kirchner in Argentinien, Lula da Silva in Brasilien oder Chavez in Venezuela - um nur Beispiele zu erwähnen - haben dies gezeigt. Überdies haben Regierungen auch Möglichkeiten, makroökonomisch in die Ökonomie zu intervenieren und auf diese Weise Rahmenbedingungen' für Arbeitsplätze zu verbessern. Im Territorium wirken und verschränken sich also verschiedene Handlungslogiken. Die von Bewegungen und die von Regierungen, die von politischen Parteien und von zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Doch nicht nur Regierungen und die nationalstaatliche Ebene sind von Belang. Die Krise des formellen Arbeitsmarktes ist auch eine Folge der Globalisierung, vor allem (aber nicht nur) der Krisenhaftigkeit globaler Finanzmärkte. Ohne deren Regulierung werden viele Maßnahmen auf lokaler oder nationaler Ebene ins Leere laufen. Daher war es instinktiv richtig, dass ATTAC bei seiner Gründung in Frankreich 1998 die Einführung einer Devisentransaktionssteuer ins Zentrum der Forderungen nach einer Reform der Weltwirtschaft rückte. Doch ist dies nur ein Element von Regulierung unter vielen anderen. In der internationalen Debatte um eine Reform von Finanzarchitektur und Welthandelsordnung bewegen sich die Reformideen zwischen dem neoliberalen Mainstream einer Entmachtung von Institutionen und einer Stärkung der Marktmechanismen (des Äquivalenzprinzips) und zentralistischen Vorstellungen eines globalen Marshall-Plans im Sinne des oben dargelegten Prinzips der Redistribution. Also finden wir auch hier wieder die Prinzipien der Äquivalenz, der Redistribution und der Solidarität, wenn eine neue Ordnung auf globaler Ebene aus der Taufe gehoben werden soll, und eine Entscheidung zwischen den Prinzipien ist notwendig. Viele bewegen sich bei ihren Alternativen innerhalb der herrschenden wissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Paradigmen und verheddern sich in inkompatiblen Vorschlägen. Dies kritisiert Walden Bello an der Debatte über Reformen der globalen institutionellen Ordnung (vgl. Bello 2004: 91-104), um für einen paradigmatischen Umschwung zu plädieren, der die Dekonstruktion von bestehenden globalisierenden Institutionen, vor allem WTO, IMF und Weltbank ebenso einschließt wie die Rekonstruktion einer "de-globalisierten", auf regionalen und lokalen Kreisläufen basierenden Wirtschaft. Dies bleibt jedoch im Konzeptionellen einer globalen Bewegung und trägt den Auseinandersetzungen um das Territorium und die darin entstehenden neuen Identitäten zu wenig Rechnung. Auf globaler Ebene ist daher ein paradigmatischer Wandel notwendig.
Im Prinzip geht es um eine neue Form der Artikulation von lokaler, regionaler, nationaler Ökonomie und den Institutionen des Weltmarktes. Die Artikulation zwischen informeller und formeller Ökonomie, zwischen kleinen und großen Unternehmen, zwischen lokaler und globaler Wirtschaft kann anders als in subalterner Unterwerfung unter die Sachzwänge des Weltmarkts gestaltet werden. Nicht die Konkurrenz ist dominant, sondern das Prinzip der Solidarität. Dieser Ansatz, so Walden Bello (2004: 114), "... consciously subordinates the logic of the market, the pursuit of cost efficiency, to the values of security, equity and social solidarity ..."9 Entscheidend in einem neuen Paradigma der solidarischen Ökonomie sind also die Verknüpfung zwischen den verschiedenen Ebenen und die Herausbildung von kollektiven Organisationsformen und Handlungsstrategien. Gesellschaft braucht das Territorium und soziale Bewegungen müssen sich dieses immer wieder gegen die durch den Neoliberalismus geförderten Strategien der Enteignung aneignen. Eine Gesellschaft ist immer die Totalität der lokalen, nationalen, globalen Zusammenhänge, die sich im Territorium durchkreuzen. Daher ist Solidarität immer auf diese vielen Schichten bezogen, wie Kößler/Melber (2002) herausarbeiten. Sie reicht also vom lokalen Territorium bis in den globalen Raum.
In Venezuela ist der Zusammenhang von ökonomischen Alternativen in den Barrios (Stadtvierteln) vor Ort und den Weltmarktunternehmen offensichtlich, schon wegen der Bedeutung der staatlichen Ölgesellschaft (Petróleo de Venezuela S.A., PDVSA) für Exporterlöse, Wechselkursentwicklung, Staatseinnahmen und daher auch Staatsausgaben, einschließlich der für soziale Zwecke. Das transnationale Unternehmen PDVSA unterstützt kleine soziale Projekte in den Stadtvierteln. Das ist also nicht nur Shareholder-Kapitalismus, sondern ein Kapitalismus, der auch den Stakeholders etwas zukommen lässt (vgl. den Bericht in Folha de Sao Paulo, 26.06. 2005). Das ökonomische Gewicht der PDVSA ist beträchtlich, von der symbolischen Bedeutung der Ölgesellschaft im politischen Leben Venezuelas ganz zu schweigen. Neoliberale bezeichnen die Verwendung der Erdöleinnahmen für soziale Zwecke, für "empowerment" der solidarischen Ökonomie, als einen ökonomischen Fehler (vgl. The Economist, 19/2005), der sich rächen werde. Für Neoliberale ist jeder Ansatz, der den Marktkräften entgegen gerichtet ist, ein Fehler, und daher ist die solidarische Ökonomie nichts als ein Fehler. Nur hilft gegen diese destruktive Betrachtungsweise der Blick in die Geschichte, in der Karl Polanyi, wie schon erwähnt worden ist, eine ganze Reihe von Prinzipien des wirtschaftlichen Handelns identifiziert hat. Dass menschliches Schicksal den Marktkräften überantwortet wird, ist eine neue Entwicklung; vor allem seit der industriellen Revolution im Zusammenhang mit der Entbettung des Marktes aus der Gesellschaft.
Paul Singer schreibt dazu, dass die solidarische Ökonomie eine Entscheidung fir eine bestimmte Arbeit und einen bestimmten Lebensstil jenseits der ökonomischen Sachzwänge darstellt. Kooperation und Solidarität werden dem Konkurrenzkampf im "survival of the fittest" eines jeden mit jedem vorgezogen. Die solidarische Ökonomie ist in diesem Sinne eine Art "Weltanschauung", eine radikale, weil auch praktische Kritik des Kapitalismus, so, wie er in Brasilien und anderswo real existiert. Somit, so schlussfolgert Singer, antworten die Menschen mit der solidarischen Ökonomie nicht nur auf Notwendigkeiten, die sich im Verlauf der Krise ergeben, sondern es handelt sich auch um eine Perspektivwahl von linken Parteien, Gewerkschaften und anderen Bewegungen, von indigenen Gruppen, Kleinbauern auf dem Lande und Kirchenleuten, die mit ihrer Kombination von individueller Freiheit, sozio-ökonomischer und menschlicher Sicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit über den Kapitalismus hinausweisen kann. (Singer 2003). Die Alternative der solidarischen Ökonomie ist so stark und attraktiv, weil das neoliberale politische Projekt - mag es von oben aufgeherrscht oder von unten praktiziert werden - für eine Mehrheit der Menschen keine Aussichten auf ein würdiges Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit bietet.10 Am Ende der Geschichte herrscht Hoffnungslosigkeit; die inneren Widersprüche und deren krisenhafte Zuspitzung sowie die externen Schocks, die sich innerhalb der Gesellschaften als Steigerungen der Energiepreise und als Vehikel der Umverteilung zu Lasten der ärmeren Bevölkerungsteile auswirken, hinterlassen politische Spuren. Und dagegen verbreitet die solidarische Ökonomie Hoffnung schon deshalb, weil darin Arbeit wieder einen sozialen Sinn erhält.

8.6 Nachhaltigkeit: Die solare Gesellschaft

Die solidarische Ökonomie ist auch ein Schritt in die Richtung einer solaren Gesellschaft, in der die fossilen Energieträger immer weniger das Leben und Arbeiten bestimmen und in der der Raubbau an Ressourcen beendet wird. Denn Solidarität im Raum verlangt einen schonenden Umgang mit der Natur. Solidarität in der Zeit ist die Berücksichtigung der Interessen künftiger Generationen, denen der Planet Erde nicht in jämmerlichem Zustand überlassen werden darf. Die generelle Richtung von Nachhaltigkeit ist eindeutig zu bezeichnen und sie ist gut begründet. Die fossilen Energien müssen sehr schnell durch erneuerbare Energien ersetzt werden (Global Challenges Network 2003; Scheer 2005; Wuppertal Institut 2005). Denn das Zeitfenster ist wegen des Scheitelpunkts der Ölförderung (der sehr bald erreicht ist) nicht mehr lange offen. Der Ressourcenverbrauch muss auch wegen der möglichen Bedrohung der Evolution des Lebens infolge des Verlusts an Biodiversität eingeschränkt werden. Kössler und Melber (2002: 147) schreiben daher: "Vor diesem Hintergrund erscheint Solidarität nicht so sehr als ein moralisches Postulat, sondern vielmehr als eine... langfristige Lebensbedingung der Menschheit. Sie ist im Prinzip gefordert durch den objektiv vorgegebenen Weltzusammenhang ..."
Die Schwierigkeit besteht darin, dass erneuerbare Energien und weniger Ressourcenverbrauch höchst wahrscheinlich nicht die im vierten Kapitel dargestellten Vorteile der Kongruenz mit dem Kapitalismus aufweisen, wie wir ihn seit der industriellen Revolution kennen: als ein System der Aneignung der mit dem Produktivitätsfortschritt steigenden Überschüsse. Erneuerbare Energien sind langsamer als die fossilen Energien, sie haben nicht deren Beschleunigungspotenziale, es sei denn, sie werden in die gleichen Sekundärenergien verwandelt (Treibstoff, Elektrizität), in die auch fossile Primärenergie umgewandelt wird. Es ist auch schwieriger, sie unabhängig vom Ort ihrer Erzeugung einzusetzen. Denn die Transportlogistik ist nicht so einfach wie im Falle der fossilen Energieträger zu organisieren. Erneuerbare Energien verlangen folglich dezentrale Strukturen der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs.
Im neoliberalen Diskurs kondensieren sich diese "Nachteile" erneuerbarer Energien unter kapitalistischen Rahmenbedingungen zu hohen Kosten. Daher werden nach neoliberaler Auffassung erneuerbare Energien auf "absehbare Zeit" preislich nicht konkurrenzfähig sein. Selbst die Atomenergie wäre günstiger zu haben, wenn man die hohen externen Kosten wegen der kaum kalkulierbaren Risiken unbeachtet lässt. Der Übergang zu erneuerbaren Ressourcen wäre in diesem Diskurs nichts als. eine "Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen" (von Weizsäcker 2002: 15). In einem großangelegten Projekt haben Lomborg u.a. den Versuch angestellt, "Prioritäten" zu setzen. Mit Hilfe einer Kosten-NutzenAnalyse über lange Zeiträume versuchen sie zu begründen, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien die Menschheit im Vergleich zu anderen Aufgaben zu teuer
käme (Lomberg 2004; kritisch dazu Heinberg 2004: 177ff.; Scheer 2005: 220ff.). Die Rationale dieses Arguments ist die Alltagsweisheit: Das Hemd ist mir näher als der Rock. Wo der Stoff von Hemd und Rock herkommen, wie sie gewebt und genäht werden, ist jenseits des kalkulatorischen Horizonts.
In diesem Diskurs hat eine Vertauschung stattgefunden, auf die bereits kursorisch hingewiesen wurde. Es geht nicht mehr darum, die Natur vor den Überlastungen durch ökonomische Aktivitäten der Menschen zu schützen, sondern die Menschen vor den negativen Folgen der Naturzerstörung zu bewahren. Daher kann auf eine Strategie des Übergangs zu erneuerbaren Energien verzichtet werden, wenn diese für die Industrieländer teurer kommt als der Bau höherer Deiche gegen den Anstieg des Meeresspiegels oder die Konstruktion von Häusern, die gegen Hitze gedämmt sind. Freilich wird hier außer Acht gelassen, dass die finanziellen Möglichkeiten, den Schutz der Menschen gegen die Unbilden einer von eben diesen Menschen aus dem Gleichgewicht gebrachten Natur zu gewährleisten, ungleich verteilt sind. Arme Länder haben weniger Möglichkeiten der Abwehr als reiche Länder. Obendrein sind die chaotischen Folgen der Naturzerstörung gar nicht rational kalkulierbar, so dass schon vom Ansatz her der Versuch, die Kosten der Naturzerstörung gegen die Kosten des Schutzes gegen deren Folgen aufzurechnen, zum Scheitern verurteilt ist.
Beim Übergang zu einem Regime erneuerbarer Energien kann man im Prinzip drei Wege beschreiten: den der "Effizienzrevolution", den der "Suffizienzrevolution" und den einer neuen Allianz von Natur und Gesellschaft, also den einer grundlegenden Veränderung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses ("Konsistenz" genannt - Wuppertal Institut 2005: 165 ff.). Der erste Weg ist der einfachste, und daher wird auf ihn in allen ökologischen Umbauprogrammen gern verwiesen
Weizsäcker, E.U./Lovins, A.B./Lovins, L.H. 1997; Bode 2005). Er führt nicht aus dem fossilen Energieregime heraus, sondern verlängert seine Zeit im Sinne der Kongruenz von Kapitalismus, Industrialismus und Fossilismus. Kaum eines der ökologischen Probleme kann auf diesem Wege gelöst werden. Weniger Energie- und Naturverbrauch je Produkteinheit wird durch steigende Mengen nach aller Erfahrung und in aller Regel überkompensiert. Denn die Kosten- und daher auch Preissenkung (natürlich unter Beachtung der ceteris paribus-Klausel) der Produkte bewirkt eine Erhöhung der Nachfrage und mithin eine, höhere Produktion. Die "Effizienzrevolution" ist mit den-Marktbedingungen und Herrschaftsstrukturen der kapitalistischen Gesellschaft konform. Höhere ökologische Effizienz ermöglicht den Unternehmen auch, Kosten zu sparen und so, - wie Marx schreibt - "konstantes Kapital zu ökonomisieren" (MEW 235: 5. Kapitel, insbes. 110ff.)11 und mithin die Profitrate zu erhöhen. Wenn so die Akkumulation angeregt wird, steigt der Ressourcenverbrauch, der durch höhere Effizienz eigentlich eingespart werden sollte. Der US-amerikanische Präsident Bush fordert China und Indien zu "größerer Energieeffizienz" auf, nicht etwa, um eine ökologische Wende in Richtung globaler Nachhaltigkeit herbeizuführen, sondern um den Druck von den Ölpreisen zu nehmen, damit US-amerikanische Verbraucher nicht unter den hohen Energiepreisen leiden und möglicherweise ihren Ölverbrauch mindern müssen ("Bush urges greater energy efficiency in China and India to ease oil prices", FT 17.05.2005). Daher ist Thilo Bodes Vorschlag eines effizienten Wachstums (Bode 2005) kontraproduktiv im Hinblick auf die ökologischen Folgen. Die Strategie der Effizienzsteigerung wird dann gefährlich, wenn sie genutzt wird, um mit den notwendigen Maßnahmen des Ausstiegs aus dem fossilen Energieregime zu warten. Diese sind, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, umfassend und müssten daher bald eingeleitet werden, um wirksam zu sein, wenn der Höhepunkt der Ölförderung erreicht und vielleicht überschritten ist.
Auf dem Weg der Suffizienz (vgl. dazu Wuppertal Institut 2005: 167) gerät man zumindest an die Grenzen des fossilistischen Kapitalismus, da Konsum- und Produktionsmuster zur Disposition gestellt werden, weil dem Gebrauchswert gegenüber dem Tauschwert in der Gestaltung von Arbeit und Leben größere Bedeutung beigemessen wird. Es ist eine Strategie, die sich an der Aristotelischen oikonomia, also an den Maßen der begrenzten Bedürfnisse einer Hauswirtschaft und nicht an der Grenzenlosigkeit der chrematistischen Bereicherungskunst orientiert. Doch das Maßhalten wird nur gelingen, wenn der Weg die Grenzen des Kapitalismus überquert und in eine post-kapitalistische Galaxis führt. Denn in der kapitalistischen Produktionsweise kommt es nicht auf die Befriedigung von Bedürfnissen in den Grenzen an, die durch die Menschennatur, die kleine Gemeinschaft (und den natürlichen Stoffwechsel im Allgemeinen) gegeben sind, sondern auf Profit - daher Akkumulation und Wachstum - und mithin auch auf eine nur an der monetären Kaufkraft begrenzte Nachfrage. Das Prinzip der Suffizienz wird demnach innerhalb des Kapitalismus wirkungslos bleiben, weil sich die kapitalistische, selbstreferentielle Grenzenlosigkeit gegen die Grenzen der Suffizienz durchsetzen wird. Konsum fördernde Werbemaßnahmen und der Sachzwang der Wettbewerbsfähigkeit in der Produktion werden dafür sorgen, dass der Verbrauch und die Belastung von Ressourcen nicht an den Grenzen der Suffizienz Halt machen. Die Möglichkeiten, die Produktion und Nachfrage eröffnen, werden ausgeschöpft, da Selbstbindungen, die eher appellativen Charakter haben, nicht wirken. Dies hat Günther Anders bereits in seinem Werk "Die Antiquiertheit des Menschen" pessimistisch herausgearbeitet (Anders 1980): Was möglich ist, wird auch gemacht. Selbstbeschränkungen helfen allenfalls vorübergehend. Das edle Individuum, das sich den sozialen Zwängen der Verwirklichung des Möglichen und zugleich der Erweiterung der Grenzen der Möglichkeiten verweigert, existiert allenfalls im Kloster, und Klöster haben in der Moderne ihre sozial prägende Relevanz verloren.
Der dritte Weg einer neuen Allianz von Ökonomie, Ökologie, Gesellschaft, von Produktion, Konsum und Natur (Konsistenz) wird häufig nur als eine intelligente technische Lösung diskutiert. Die Wirtschaft ist Kreislaufwirtschaft und es entstehen jenseits des unvermeidlichen Entropieanstiegs keine Abfälle, da diese intelligent verwertet werden können. Der Weg der Allianz beginnt dort, wo die Suffizienzstrategie sich als Sackgasse herausstellt: Auf ihm wird nicht das Maßhalten zum Lebensprinzip erhoben. Es werden vielmehr die Möglichkeiten der Steigerung von Produktion und Nachfrage beschränkt. Das Mittel dazu ist die Störung der oben (im vierten Kapitel) dargestellten Kongruenz von kapitalistischer Gesellschaftsformation, fossilen Energieträgern und industrieller Rationalität der Weltbeherrschung, indem erneuerbare Energieträger an Stelle der fossilen Energieträger eingesetzt werden. Die Brandmauer, von der oben die Rede war, wird also eingerissen. Die breite Förderung der erneuerbaren Energien ist das Mittel zu diesem Zweck, die Erde aus der Zwangsjacke des geschlossenen fossilen Energiesystems zu befreien und wieder zu einem offenen Energiesystem zu machen, das vor allem die Strahlenenergie der Sonne verarbeitet. Produktion und Konsumtion, also die Wirtschaft, müssen so organisiert werden wie die natürlichen Wandlungssysteme der Sonnenenergie, die das Leben auf Erden ermöglichen. Etwas anderes bleibt der Menschheit nicht übrig, weil die Verfügbarkeit der fossilen Energieträger auf der Input-Seite und die Tragfähigkeit der Natur für Emissionen auf der Output-Seite begrenzt sind. Freilich wird die "Brandmauer" mit Macht durch die Wächter des status quo und ihre Helfershelfer gegen ein neues Regime, das auf erneuerbaren Energien gründet, verteidigt. Einige der Gründe hat Herrmann Scheer eingehend erörtert und sich vor allem mit der Blockadepolitik der großen Energiekonzerne in Deutschland auseinander gesetzt (Scheer 2005: 123ff.). Aber die Verteidigung des status quo des fossilen Energieregimes wird auch, wie wir im siebenten Kapitel gesehen haben, mit militärischen Mitteln und den Mitteln der Subversion, der Einschüchterung, Erpressung, Bestechung und Sabotage geführt (vgl. Perkins 2005).
Alternative Energiequellen stehen zur Verfügung: die Windenergie, die Photovoltaik, die Wasserkraft, die thermische Energie, die Gezeiten, die Biomasse. Keine dieser Energien kann die Bedingung der Kongruenz von Energiesystem und Kapitalismus erfüllen, die in den vergangenen zwei bis drei Jahrhunderten die menschheitsgeschichtlich einmalige Wachstumsdynamik ermöglicht hat. Das gilt auch für die Wasserstofftechnologie, die als neue Energiequelle propagiert wird, obwohl sie nur sekundärer Energieträger ist und die Bedingungen ihrer Speicherung in der Zeit und ihres Transports im Raum heute noch nicht zufrieden stellend geklärt sind; doch das kann sich vielleicht ändern. Viele meinen, man könne die so vorteilhafte und praktische Kongruenz auch mit erneuerbaren Energien erhalten. Doch dies dürfte sich als Illusion herausstellen. Zwar wäre es im Prinzip möglich, mit den erneuerbaren Energieträgern bei der Elektrizitätserzeugung die fossilen und nuklearen Energieträger zu ersetzen. Doch schon heute ist dies schwierig. In Deutschland wurden 2004 gut 607 Mrd. Kwh erzeugt, davon 27,5% durch Einsatz von Kernenergie, 26,1% mit Braunkohle, 22,8% mit Steinkohle, 10,2% mit Erdgas. Also verdanken sich 60% der Elektrizitätserzeugung den fossilen und weitere fast 30% den nuklearen Energien. In diesen Zahlen kommt nicht nur die erdrückende Vorherrschaft der fossilen und nuklearen Industrien und der sie beherrschenden Konzerne zum Ausdruck. Sie verweisen auch auf die Stärke der Interessen, die auf die Energiepolitik Einfluss nehmen. Nur an die 10% der Erzeugung von Strom stammt aus dem Einsatz erneuerbarer Energieträger. Das Verhältnis lässt sich ohne Zweifel zu Gunsten der erneuerbaren Energieträger verschieben. Dies zeigen die Daten aus den Ländern der EU. Im Schnitt beträgt im Europa der 15 der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung fast 15% und er soll bis 2010 auf 22,0% angehoben werden (Diekmann/Kemfert 2005: 442). Doch schon bei den Treibstoffen für die Automobilflotte stoßen wir auf Grenzen der Substituierbarkeit fossiler durch erneuerbare Energieträger. Die Automobilflotte vom Verbrauch der fossilen Kraftstoffe (Benzin, Diesel, Kerosin) auf Bio-Kraftstoffe umzustellen, ist kaum möglich ohne grundlegende Wandlung der Verkehrssysteme, neue Konzepte von Mobilität und eine neue Rolle, die der Landwirtschaft als Energiewirtschaft zukommt. Die Änderung des Energieregimes verlangt Änderungen von Produktions- und Lebensweise. Dabei geht es auch um die Verringerung des Energieverbrauchs (durch Energiesparen) insgesamt, also um die Reduzierung der Zahl unserer "Energiesklaven".
Eine neue Kongruenz von Energie und Produktion kann niemals erreicht werden, wenn die Produktions- und Konsumstrukturen die alten bleiben, die in Gänze auf das fossile Energieregime zugeschnitten sind. Dies ist ein wichtiger Grund, warum die solare Gesellschaft nur mit und in einer solidarischen Ökonomie verwirklicht werden kann. Dies ist eine Leitlinie, der schon viele praktische Versuche in aller Welt folgen. Es handelt sich um eine Herkulesaufgabe, deren Erfüllung nicht in kurzer Zeit zu leisten ist. Es gibt sie also, die überzeugenden und glaubwürdigen Alternativen im "Innern der Gesellschaft", die auch ethisch gut zu begründen sind (vgl. z.B. Sachs 2005). Es ist für die Zukunft der Menschheit entscheidend, das Überschreiten des Höhepunkts der Ölförderung (Peakoil) als Chance des Umsteuerns zu nutzen. Wenn dies nicht im gegenwärtigen historischen Zeitfenster geschieht, könnte es zu spät werden.
Haben diese Alternativen die den Kapitalismus, wie wir ihn kennen, transzendierende Kraft? Leiten sie einen Paradigmenwechsel ein oder verbleiben sie letzten Endes doch im "Gehäuse kapitalistischer Hörigkeit"? Die Frage ist vom Autor nicht zu beantworten. Die Antwort gibt die Geschichte, und die ist das Werk der Praxis selbstbewusster Menschen heute in einem durch die Globalisierung hervorgebrachten "Weltzusammenhang" (Kößler/Melber 2002: 147; 153). Aber Alternativen innerhalb des Kapitalismus in Richtung einer deglobalisierten, solidarischen und solaren Gesellschaft aufgezeigt und die sozialen, politischen, ökonomischen, ökologischen Restriktionen benannt zu haben, ist für soziale und politische Praxis wesentlich und kann sie beeinflussen. Das ist nicht viel. Immerhin aber lässt sich auf diese Weise begründen, dass eine andere Welt, deren Konturen wir (noch) nicht genau kennen, jenseits des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, möglich ist.

Neuntes Kapitel
Mögliche Welten. Von der Wissenschaft zur Utopie

"Wo bleibt das Positive?", fragt Erich Kästner. Die Frage ist nach einer ausführlichen Analyse des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, berechtigt. "Es genügt nicht, das Bestehende darzustellen, notwendig ist es, an das Erwünschte und an das Mögliche zu denken" (Gorki nach Bloch 1973: 1602). Denn der Kapitalismus gerät nicht nur an sein Ende, so als ob danach nichts wäre. Es gibt nicht nur die wirkliche Welt, so wie sie sich uns darbietet, sondern auch mögliche Welten, die geschaffen werden können. Wie eine solidarische und nachhaltige Ökonomie und Gesellschaft aus den Krisen der kapitalistischen Gesellschaft erwachsen kann, ist im achten Kapitel vorgestellt worden. Unterscheiden sie sich positiv von der gegenwärtigen Welt oder eher nicht? Sind sie also eine mögliche Antwort auf die Kästner-Frage? Diese Ungeklärtheit hat Leibniz beunruhigt und er hat dann nach dem zureichenden Grund gefragt, warum gerade die wirkliche Welt aus unendlich vielen Möglichkeiten als "beste aller möglichen Welten" entstanden ist. Er hatte die Antwort parat: Es ist der Ratschluss Gottes, der die beste Wahl getroffen hat. Dies war Thema im ersten Kapitel dieser Schrift; die Verkörperung des Positiven ist die jeweils gegebene historische Wirklichkeit. Im letzten Kapitel soll es hingegen darum gehen, ob und wie sich andere Welten jenseits des Kapitalismus perspektivisch auftun. Wir können nicht die gegebene Wirklichkeit rechtfertigen, wir müssen uns mit Utopien beschäftigen.
Auch für Robert Musil sind die Möglichkeiten nicht weniger wirklich als die Wirklichkeit. Im "Mann ohne Eigenschaften" führt er aus: Die Möglichkeiten haben "etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt ... Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie dies zu leugnen ..." (Musil 1978: 16€). Die wissenschaftliche Analyse der wirklich gewordenen Welt wäre demnach unvollkommen, wenn nicht auch die Potenzialitäten, die in ihr enthalten sind, erkundet und durch Praxis verwirklicht würden. "Das wirklich Mögliche beginnt mit dem Keim, worin das Kommende angelegt ist", formuliert Ernst Bloch (1973: 274). Dieses kommt nicht von außen über uns. Es wird als wirklich werdende Möglichkeit praktisch entfaltet, nach einem utopischen Bauplan. Daran wirken viele mit, die Friedensbewegung, die Frauenbewegung, Genossenschaften und viele andere.
Mit der globalisierungskritischen Bewegung zu sagen, dass "eine andere Welt möglich" sei, ist daher eher eine Verkürzung, weil es die mögliche Welt nur im Plural gibt und weil aus den vielen Möglichkeiten durch soziale Praxis die historische Wirklichkeit gestaltet wird. Naturwissenschaftler würden mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit argumentieren. Nur die wahrscheinlichste unter den vielen möglichen Welten hat die Chance, real zu werden. Wovon hängt die Wahrscheinlichkeit ab? Einmal von der beharrenden "normativen Kraft des Faktischen", also von den Sachzwängen,' denen sich die konservativen "Realisten" beugen und die sie mit ihren politischen Praxen exekutieren. Doch ist es auch die Kraft der Utopien, der gesellschaftlichen Alternativentwürfe derjenigen, die die Wirklichkeit nicht für bare Münze nehmen, sondern daran gehen, sie zu verändern, wodurch die Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung einer anderen Welt größer wird. Die Zukunft ist offen, und sie wird gemacht. Die Rahmenbedingungen können beeinflusst werden, die die Wahrscheinlichkeiten für die Realisierbarkeit der einen Welt unter den vielen Möglichkeiten bestimmen. Zum Teil werden die Rahmenbedingungen aus der Vergangenheit mitgeschleppt, zumal dann, wenn sie als Infrastruktur in Beton gegossen und in Stein gehauen sind. Zum Teil werden sie immer wieder neu extern aufgebaut, z.B. durch Strukturanpassungsprogramme der internationalen Finanzinstitutionen, die keine Alternativen zum "Konsens von Washington" zulassen. Das kann den Flug der Utopie belasten, so dass sie nicht von der Stelle kommt, und der Praxis ihre verändernde Kraft nehmen. Die Fortsetzung des Gegebenen, "the same procedure as every year", wird zur dominanten Handlungsmaxime.
Die konkrete Utopie im Sinne von Ernst Bloch ist etwas anderes als die abstrakte Utopie jener Utopisten, die der schlechten Realität nur das Bild des Schönen und Besseren vorhalten, ohne zu zeigen, wie sich die Utopie konkret aus den sozialen Bedingungen entfalten kann und welche Subjekte mit welchen Praxen für die Entfaltung sorgen. Die Versuche, die Gesellschaft nach dem abstrakten Bild einer anderen Welt zu formen, werden an den Schreibtischen von "Sozialingenieuren (aus reiner Vernunft)" ausgedacht (Bloch 1973: 676). Sie können nur scheitern. Allerdings besteht die Alternative nicht darin, dass nun wissenschaftliche Analyse und Extrapolation an die Stelle der utopischen Antizipation mit ungeeigneten Mitteln gesetzt werden. Das Pochen auf wissenschaftlicher Objektivität und die Überzeugung, dass Geschichte gemäß "eherner" Gesetze ablaufen würde, schwächt den Willen zur Praxis erst recht (Bloch 1973: 677). Die Utopie darf also nicht abstrakt der schlechten Wirklichkeit ein goldenes Zeitalter entgegensetzen und die Wissenschaft darf sich nicht darauf beschränken, "Bewegungsgesetze" der Gesellschaft, in der wir leben, herauszuarbeiten. Hier setzt auch feministische Kritik der politischen Ökonomie an. "The End of Capitalism (As We Knew It)" wird vor allem als Diskurs verstanden, als Dekonstruktion der marxistischen politischen Ökonomie, die alternativen Interpretationen und Bewegungen wenig Raum lässt (Gibson-Graham 1996). Dies ist wichtig, ersetzt aber nicht eine Analyse der wirklichen Grenzen kapitalistischer Akkumulation (innere Widersprüche und natürliche Grenzen der Energieversorgung) und die konkrete Utopie, die sich der Potenzialitäten versichert.
Die konkrete Utopie umschließt Begriff und Vorgriff gleichermaßen oder: "Marxismus ... ist nur dann eine Anweisung zum Handeln, wenn er in seinem Griff zugleich ein Vorgriff ist: das konkret-antizipierte Ziel regiert den konkreten Weg" (Bloch 1973: 678). Das ist von Marx in den "Thesen über Feuerbach", in der berühmten 11. These, vorweggenommen: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kämmt drauf an, sie zu verändern." (vgl. Marx, MEW Bd. 3, S. 7)
Doch die konkrete Utopie ist mit schweren Ankern im realen Grund der kapitalistischen Gesellschaft festgemacht und kann sich daher nicht einfach auf große Fahrt begeben. Die Kästner-Frage ruft nämlich unbedingt eine Mahnung Antonio Gramscis in Erinnerung: In den fortgeschrittenen Staaten ist die bürgerliche Gesellschaft "zu einer sehr komplexen, den katastrophenhaften `Einbrüchen' des unmittelbar ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen etc.) gegenüber widerstandsfähigen Struktur geworden ..." (Gramsci 1967: 345f). Wie richtig das ist, zeigt die Erfahrung. Auf diese bezieht sich auch Georg Fülberth (2005), um seiner Skepsis hinsichtlich eines möglichen Zusammenbruchs des Systems Ausdruck zu verleihen. Aus seinen großen Krisen ist das kapitalistische System im "Zeitalter der Extreme" (Hobsbawm 1995) letztlich gestärkt hervorgegangen. Die gesellschaftlichen und politischen Transformationen im Gefolge der großen Krisen des 20. Jahrhunderts haben unendlich viele Opfer unter den Diktaturen und in den Kriegen gekostet, und es könnte sein, dass sich das 21. Jahrhundert davon nicht positiv unterscheiden wird. Die in bestimmten historischen Situationen enthaltenen Möglichkeiten sind dann mit brutaler Gewalt durch die Verteidiger des Staus quo zunichte gemacht worden. Dies wiederholt sich auch heute, wie wir im achten Kapitel gesehen haben. Die möglichen Welten befinden sich also nicht auf einer Angebotspalette zur freien Auswahl. Es regieren auch nicht abstrakt-neutral die Wahrscheinlichkeitsrechnung oder der Ratschluss Gottes. Die wirkliche Welt ist das Resultat von Auseinandersetzungen, von sozialen Kämpfen.
Gramsci hat nicht nur die Festigkeit der bürgerlichen Gesellschaft trotz oder sogar wegen ihrer Krisen hervorgehoben, sondern auch die Frage nach den Bedingungen aufgeworfen, unter denen die Hegemonie des Bürgertums unterminiert und durch die Hegemonie der subalternen Klassen bzw. der politischen Linken ersetzt werden kann. Er hat dabei nationalstaatlich verfasste Gesellschaften mit ihrer jeweiligen Kultur und Geschichte vor Augen gehabt und diese waren entscheidend für die Resistenz der Strukturen der zivilen Gesellschaft gegenüber den Schocks der ökonomischen Krise. Er hat die Komplexität der hegemonialen Auseinandersetzungen als einen "Stellungskrieg" beschrieben, weil angesichts der Kasematten der zivilgesellschaftlichen Institutionen der frontale Bewegungs- und Angriffskrieg in den vielen Verteidigungsringen stecken bleibt. Die Darstellung in der Begrifflichkeit des Militärs ist ein Problem, aber die Botschaft ist deutlich. Heute ist die von Gramsci beschriebene Lage ungleich schwieriger, weil die Strukturen der Zivilgesellschaft von globalen ökonomischen Prozessen, politischen Konflikten und Klassenverhältnissen beeinflusst sind. Wie die Macht im globalen Raum, in Ökonomie, Politik, Gesellschaft verteilt ist, so auch die schützenden Kasematten der Institutionen der global governance. Diese sind durch die Bastionen mächtiger Nationalstaaten geschützt, die möglichen Herausforderern keinen toten Winkel bieten, aus dem sie agieren könnten. Es kommt hinzu, dass auch die konkreten Utopien in der Welt je nach Erfahrungen, Kulturkreis, ökonomischer Entwicklung und Nationalität verschieden sind und die Pluralität der Möglichkeiten in Zeiten der Globalisierung eine geographische Dimension besitzt.
Gramsci hat eine andere wesentliche Entwicklung nicht bedenken können, die in dieser Schrift im Zentrum steht: Dass der Kapitalismus und die ihm angemessenen Strukturen der Zivilgesellschaft nicht wegen der inneren Widersprüche und Krisen, sondern vor allem wegen der äußeren Grenzen der Natur an Schranken stößt. Die zur Neige gehenden Ölreserven können den Reproduktionsmodus des Kapitalismus destabilisieren. Gegenüber gesellschaftlichen Konflikten und gegenüber ökonomischen Krisentendenzen können Gesellschaft und Politik, wie Gramsci ausführt, stabilisierende Abwehrmechanismen entwickeln. Gegenüber den Grenzen der Natur auf der Seite der Ressourcen (vor allem Peakoil) und der Senken (Klimakollaps) ist dies ungleich schwieriger und vielleicht sogar (ich drücke mich vorsichtig aus) hoffnungslos. Die geforderte Veränderung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses ist so radikal, dass die tradierten Reproduktionsformen des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, und mit ihm die Hegemonie des Bürgertums in Frage gestellt sind. Es wird an den Grenzen des fossilen Energieregimes erst so recht deutlich, wie zentral das gesellschaftliche Naturverhältnis für die ökonomische Reproduktion des Systems, für politische Herrschaft, für die Hegemonie der Herrschenden ist. Auch wird klar, wie mangelhaft der Großteil der sozialwissenschaftlichen Literatur ist, weil das gesellschaftliche Naturverhältnis in aller Regel jenseits des Horizonts der Erkenntnis und zumeist auch der theoretischen Neugier platziert ist. Die Grenze der Natur erscheint als eine Entwicklungsblockade, durch die viele Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Dies gilt insbesondere für alle jene Utopien, die von den planetaren Ressourcen als einem Füllhorn ausgehen, aus dem in alle Ewigkeit geschöpft werden könne. Utopien auf dieser Basis stellen sich als abstrakt dar, weil sie durch konkrete Praxis und in den daraus folgenden Entwicklungen gar nicht erreichbar sind. Sie können sich nicht aus der wirklichen Welt entfalten, dazu fehlt die Potenzialität. Zugleich sind die Grenzen der Naturressourcen aber eine Wegscheide, an der sich neue Möglichkeiten öffnen, über die zu räsonnieren auf der Grundlage des fossilen Energiesystems unangemessen und unmöglich war. Die Entwicklungsbahn wird also gewechselt. Dies geschieht nicht von selbst, und auch nicht von heute auf morgen. Doch wie lang kann die Übergangsperiode überhaupt sein?
Eine andere Welt ist möglich, wie von der globalisierungskritischen Bewegung optimistisch postuliert wird. Eine andere Welt ist notwendig, sagen diejenigen, die sich der Dramatik von Peakoil bewusst sind und davon ausgehen, dass in historisch kurzer Zeit, innerhalb von wenigen Jahren oder Jahrzehnten eine grundlegende Veränderung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse herbeigeführt werden muss: weg von den fossilen Energieträgern und hin zu erneuerbaren Energien. Das ist keine technische Frage, obwohl die energiepolitischen Alternativen zumeist darauf reduziert werden, die Effizienz von Förderung, Transport und Verbrennung fossiler Energien zu erhöhen (vgl. beispielsweise den Hirsch-Report 2005). Die Frage löst vielmehr hegemoniale Auseinandersetzungen aus, Konflikte mit den Vertretern der fossilen Energiehändler, den großen Versorgungsunternehmen und vor allem den Atomkraftbetreibern, die die nukleare Energie als Alternative zu dem zur Neige gehenden Öl ausgeben.
Die Alternativen der solidarischen Ökonomie und der nachhaltigen Gesellschaft sind im achten Kapitel diskutiert worden. Die solidarische und nachhaltige Ökonomie ist nichts weniger als die Parteiergreifung für die "Utopisten" mit Möglichkeitssinn. Es werden die Chancen ergriffen, die die heutige Entwicklung bietet, und zur Verwirklichung der möglichen Welt genutzt. Dies geschieht immer in einer globalen politischen Auseinandersetzung mit den "Realisten", die den Sachzwängen des fossilen Regimes gehorchen, obwohl dieses zu Ende geht. In dieser Auseinandersetzung können neue Spielräume für heute noch gar nicht absehbare Alternativen gewonnen werden. Wie sind die vielen kleinen lokalen Initiativen in Richtung einer solidarischen und solaren Gesellschaft in den globalen Kontext einzuordnen? Und wie ist das Verhältnis zu makroökonomischen Politikalternativen? Was treibt die Bewegungen an, sich für Alternativen, für eine solidarische Ökonomie, für eine solare Gesellschaft einzusetzen?
Bei der Beantwortung dieser Fragen müssen wir die Zeit berücksichtigen. Auf der Zeitstrecke von der Vergangenheit in die Gegenwart fühlen wir uns einigermaßen zu Hause und daher sicher auf bekanntem Grund. Man kann über Interpretationen von Statistiken, Berichten, Analysen streiten. Aber was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht oder verändert werden. Für die Analyse der Gegenwart als Geschichte gibt es Regeln, die auf wissenschaftlichen Methoden basieren, an die sich "der kälteste Detektiv" (Bloch 1973: 1621) zu halten hat. Dennoch ist sie nicht "objektiv", sie ist umstritten. Man kann sich ja seine eigene Geschichte im Nachhinein zusammenreimen oder zusammenfalschen. Man kann so eine falsche Identität erzeugen, aber man kann das Falsche nicht wahr machen und der Zukunft auf diese Weise ein Fundament geben. Irgendwann wird das Gefälschte als solches erkannt. Man muss also um die Interpretation der Geschichte kämpfen, und je näher sie an der Gegenwart liegt, umso heftiger.
Die Sicherheit der Analyse als "nachträglicher Prognose" gibt es auf der Zeitstrecke von der Gegenwart in die Zukunft nicht. Wir haben keine Analysen des noch nicht Geschehenen, und Prognosen sind ein in aller Regel jämmerlicher Ersatz. Wissenschaftler beanspruchen nämlich, die Resultate von Handlungen vieler Menschen vorhersehen und die Wechselbeziehungen der Zukunft kalkulieren zu können, ein aberwitziges Unterfangen. Meistens wird die Gegenwart verlängert, als Gegenwart plus, Zukunft genannt. Wo Alternativen fehlen, geht die Hoffnung verloren. Der Optimismus, der aus Gottfried Wilhelm Leibniz' philosophischer Ableitung zu entnehmen ist, dass die jeweils gegenwärtige Welt auch die beste aller möglichen Welten sei, kann heute mit noch mehr Berechtigung als in Voltaires "Candide" vor dreihundert Jahren mit Hohn und Sarkasmus bedacht werden. Wenn die "beste aller möglichen Welten" überhaupt zustandekommt, dann durch reflexive Praxis der Menschen selbst, durch einen diskursiven Prozess "kollektiver Forschung", wie der italienische Linkssozialist Lelio Basso in den 60er und 70er Jahren schrieb. Das ist die Verbindung von wissenschaftlicher Analyse und Utopie.
Die vielen praktischen Initiativen in der Welt sind Anlass genug, um aus der Fatalität der Alternativlosigkeit herauszukommen. Es gibt eine Art Curriculum für die Zeitstrecke von der Gegenwart in die Zukunft. Dieses ist aber kein "Abbild" der real gewordenen Welt, das nur die Klarheit der Faktizität vermissen lässt. Vorhersehen, so Antonio Gramsci, bedeutet, "Gegenwärtiges und Vergangenes als in Bewegung befindlich gut zu beobachten. Gut beobachten heißt, die fundamentalen und permanenten Elemente des Prozesses genau zu identifizieren. Es ist aber absurd, an eine rein `objektive' Voraussage zu denken ..." (Gramsci 1967: 319). Die Zukunft ist kein aus Vergangenheit und Gegenwart zu verlängerndes Faktum, sie wird gemacht. Sie ist "nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken." (Engels: MEW Bd. 19, S. 210). Also geht es um die Potenzialität in den gegenwärtigen Verhältnissen. Aber diese enthalten nicht nur eine Zukunft, sondern viele mögliche Zukünfte. Daher kann es gar nicht nur um die Entdeckung der "vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion" gehen, sondern um die Konkretisierung von Utopien und die Auseinandersetzung um deren praktische Umsetzung. Denn "die materiellen Tatsachen der Produktion" in die Zukunft projizieren zu wollen, ist sinnlos, wenn die energetische Basis der Produktion, wenn die Kongruenz von Kapitalismus, Rationalität, Industriesystem und fossilen Energien Risse bekommt und nicht gewährleistet ist. Das Überschreiten des Höhepunktes der Ölförderung ist also auch ein Bruchpunkt für gesellschaftliche Alternativentwürfe. Manche Utopien, die ein funktionierendes fossiles Energieregime voraussetzen, das es nach Peakoil nicht mehr gibt, werden unkonkret und im schlechten Sinne abstrakt und müssen aus der Vielfalt der möglichen Welten ausgesondert werden. Dies gilt für die technischen Zukunftsentwürfe auf der Basis der "materiellen Tatsachen der Produktion" mit Automatisierung von Betrieben und Haushalten, unbegrenzter Mobilität und einem Konsumgüterangebot, das keine Wünsche offen lässt. Andere Utopien werden nach Peakoil konkret, die es zuvor nicht gewesen sind, so lange das Öl reichlich zur Verfügung stand. Die Regionalisierung der Weltwirtschaft, die Verlangsamung von Produktion und Transport ("Entschleunigung"), die "Dekompression" von Zeit und Raum, die "Deglobalisierung" also, werden nicht nur Idee bleiben. Sie sind Möglichkeiten, die notwendigerweise in Realität umgesetzt werden müssen. Dabei sind viele Variationen möglich. Wie Freiheit, Gerechtigkeit, gutes Leben realisiert werden, ist nicht vorgegeben. Nur das Terrain wird bestimmt und benannt, auf dem die konkrete Utopie zur Wirklichkeit wird.
Viel hängt also von der Einschätzung der weiteren Verfügbarkeit des Öls ab. Dass das Öl und andere fossile Energieträger zu Ende gehen, bestreitet niemand. Denn an der Endlichkeit der Ressourcen kann kein irdisches Wesen etwas ändern. Umstritten ist der Zeitrahmen. Wird der Höhepunkt der Ölförderung (Peakoil) in wenigen Jahren überschritten oder erst in einigen Jahrzehnten? Eine Antwort ist schwierig wie die Analyse im siebenten Kapitel gezeigt hat. Nur eines ist sicher. An Alternativen zum fossilen Energieregime muss gearbeitet werden, bereits heute oder allerspätestens morgen. Doch wird die Alternative sich in die Zwangsjacke der Infrastrukturen des fossilen Energieregimes stecken lassen oder als konkrete Utopie eine mögliche andere Welt imaginieren, die auf erneuerbaren Energien gründet? Auch wenn Peakoil noch Jahrzehnte entfernt sein mag, findet die Auseinandersetzung um diese Kernfrage schon heute statt. Die konservativen Statthalter des status quo spielen auf Zeit, auch in der neoliberal erzeugten Hoffnung, dass schon eine technische Lösung des Energieproblems gefunden werden kann, wenn nur die Preise der Energieträger steigen und Investitionen in die Förderung von unkonventionellem Öl (Ölsand und -schiefer, Teeröl, Tiefseeöl) und in Nukleartechnik, vor allem in Fusionsreaktoren rentabel werden. Dann könnten auch alle materiellen Infrastrukturen (etwa für Automobile) weitergeführt werden, das Herrschaftssystem könnte weiterhin so funktionieren wie seit Beginn des fossilen Zeitalters. Auch die Lebensweisen, die Konsum- und Produktionsmuster und mit ihnen die fossilen Deutungsmuster der politischen Kultur könnten weitergeführt und fortgeschrieben werden. Und der Kapitalismus wäre nicht am Ende, wenn die Grenzen der Natur sich als nicht existent herausstellen. Er würde möglicherweise weniger rationell und effizient funktionieren, wenn nicht mehr das arabische Leichtöl zur Befriedigung der steigenden globalen Nachfrage nach Öl in die Raffinerien gepumpt werden könnte, sondern die unkonventionellen Öle mit hohem Energieaufwand gefördert und raffiniert werden müssten. Aber die höheren Kosten könnten ja durch Umverteilung zu Lasten der Arbeiter und durch weitere Schädigung der Natur vom Kapital abgewälzt werden. Konflikte würden dann auf jeden Fall zunehmen. Aber sie würden nicht um ein alternatives Energieregime geführt. Sie passen in die traditionelle Logik von Verteilungskonflikten, mit deren Austragung die herrschenden Klassen im Verlauf der Jahrhunderte viele Erfahrungen haben sammeln können. Der Ausbau der Nukleartechnik hätte eine in den Bereich des Unkontrollierbaren wachsende Gefahr der Weiterverbreitung atomarer Waffen zur Folge. Das wäre die schwärzeste aller Utopien, ein zukünftiger atomarer Konflikt, der der Erde die Hölle auf Erden brächte.

Dies ist anders, wenn Nachhaltigkeit und Solidarität zu Leitbildern einer konkreten Utopie werden. Dann stehen nicht nur die Energiequellen zur Disposition, sondern auch die Verwendungsweisen. Die Infrastruktur müsste angepasst werden, wenn beispielsweise Mobilitätserfordernisse und -bedürfnisse nicht mehr mit dem Automobil im Individualverkehr befriedigt werden, wenn die Stadtplanung nicht mehr Wohnen, Arbeiten, Erholung auseinanderreißt, sondern auf Nähe der Lebensbereiche achten muss, wenn die Häuser so gebaut werden, dass sie nicht im Winter beheizt und im Sommer gekühlt werden müssen. Das sind dann gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die nicht allein auf lokaler Ebene bewältigt werden können. Daher kommt es auf die Einbettung in ein alternatives Projekt an, das eine Veränderung der Zeitstrukturen zwischen Arbeit und Reproduktion ebenso einschließt wie die Entkoppelung von monetären Einkommen von der Leistung. Das ist mehr als die in jedem Alternativprogramm geforderte Arbeitszeitverkürzung, da die Veränderung der Zeitstrukturen angepeilt wird. Diese ist nämlich keine selbstverständliche Folge der Verkürzung von Arbeitszeit. Das läuft auf eine Abkehr vom Produktivismus hinaus, der mit der industriell-fossilen Revolution entstand und das Leben der Menschen unterworfen hat und den Bedingungen der Verwertung und Akkumulation von Kapital so fantastisch entsprochen hat, dass der Kapitalismus (wie wir im fünften Kapitel gesehen haben) in den vergangenen etwa zweihundert Jahren wahre Triumphe bei der Produktion des Wohlstands feiern konnte. Die Kehrseiten sind die bereits (im sechsten Kapitel) diskutierten vernichtenden ökonomischen und sozialen Krisen, die sozialen Ungerechtigkeiten bis zur Ausgrenzung großer Teile der Menschheit von der Nutzung des produzierten Wohlstands, manches Mal mit einer Gewalt, die nicht nur für Exklusion sorgt, sondern die soziale und manchmal sogar physische Extinction von Menschen zur Folge hat. Auch die Zerstörungen der Natur können nur angehalten werden, wenn die für den Produktivismus nützliche Ressourcenplünderung und die Überlastung der Sphären der Natur aufhören. Die Ausführungen im achten Kapitel über die Rolle des Staates in diesem Prozess der Verwirklichung von Möglichem können nur unterstrichen werden. Es ist kaum vorstellbar, dass so grandiose Aufgaben wie die Realisierung einer nachhaltigen und solidarischen Gesellschaft bewältigt werden können ohne die Bereitstellung einer Vielfalt von öffentlichen Gütern auf lokaler, nationaler und globaler Ebene und ohne eine Wirtschafts-, Sozial- und Energiepolitik, die nicht die konservativen Statthalter des status quo unterstützt, sondern sich den Alternativen von Nachhaltigkeit und Solidarität öffnet.
Beim Nachdenken über Alternativen, bei der genauen Beobachtung der Transaktionen innerhalb des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, wird man auf die nützlichen Instrumente der politischen Ökonomie und der thermodynamischen Ökonomie nicht verzichten können. Letztere besagt nämlich, dass die Förderung der unkonventionellen fossilen und nuklearen Energien möglicherweise einen höheren Energieaufwand benötigt, als Energie geerntet werden kann. Diese Irrationalität wird sich ökonomisch ausdrücken. Sie besagt auch, dass der gesamte Energie- und Stoffkreislauf einschließlich seiner "externen Effekte" zu berücksichtigen ist, wenn Bilanz gezogen wird. Und dann kann es so sein (die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass es so ist), dass das fossile Energieregime immer mehr Energie benötigt, um die fossile (und nukleare) Energie verfügbar zu machen und dass die stofflichen, liquiden und gasförmigen Emissionen die Reproduktionsfähigkeit natürlicher Systeme und daher die Evolution der Arten gefährden. Diese "genaue Beobachtung" ist die starke analytische Grundlage für die konkrete Utopie einer nachhaltigen und solidarischen Gesellschaft. Die politische Ökonomie und deren Kritik wiederum können zeigen, dass und wie Markt und Macht die Kräfte des Beharrens stützen, wie diese aber immer wieder jene, manchmal katastrophalen Krisen erzeugen, die Millionen Menschen aus der Bahn werfen und sie zur praktischen Suche veranlassen: nach den konkreten Utopien von Solidarität und Nachhaltigkeit gegen Profit, Sozialabbau und Umweltzerstörung. Die Verhältnisse sind es zumeist und die zündenden Ideen, die zur Verwirklichung der konkreten Utopie anfeuern - in aller Welt, in verschiedener Weise. Das ist das Positive, Herr Kästner.

1 Um sich einen Überblick über die Entwicklung von Handel und Märkten in vorkapitalistischen Gesellschaften und über die angemessenen Kategorien zu ihrer Interpretation zu verschaffen, lohnt die Lektüre der Einführung zu Polanyis Aufsatzsammlung in "Ökonomie und Gesellschaft" von S.C. Humphreys (1979: 7-59).
2 In der Internationalen Arbeiterassoziation hat Johann Ph. Becker formuliert, dass sich "Solidarität, Brüderlichkeit und Friede unter den Menschen nicht durch Moralpredigten ins Leben rufen, sondern nur durch Gemeinbesitz, gemeinschaftliche Produktion, Bewirtschaftung und Nutznießung lebendig machen" lassen (nach Schieder 1972: 579). Der Begriff der Solidarität eignet sich als Allerweltsbegriff für freundliche Absichtserklärungen von Parteien und Organisationen. Er wird so seines Sinnes entleert und aus dem Zusammenhang seiner Tradition gerissen. Dies hat Ulrich von Alemann polemisch kritisiert (Alemann 1996). Solidarität ist also kein idealistisches Programm, sondern bedarf der materiellen Basis. Dies zeigt sich auch anhand der Erfahrungen einer modernen solidarischen Ökonomie.
3 Die Literatur zur informellen und prekären Arbeit ist inzwischen kaum überschaubar. Das Thema ist, nachdem es jahrzehntelang an den Rand gedrängt war, ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten. Selbst die Weltbank hat es entdeckt und 2005 ein "Online Discussion" zum Thema "How to tackle the Problem of Rision Informality?" eröffnet.
4 Weil der informelle Sektor die "äußeren Anstöße" der Globalisierung wie ein Schockabsorber abfangen kann, wird daraus ein politisches Projekt der Sicherung von Herrschaft. Dies hat kaum jemand so deutlich zum Ausdruck gebracht wie der ehemalige brasilianische Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso. Der globale Wettbewerb erzwingt eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Dies ist nur möglich, wenn in den für den WeltMarkt produzierenden Branchen die Kosten gesenkt, also die Produktivität gesteigert wird. Dies hat unvermeidlich Freisetzungen von Arbeitskraft zur Folge. Doch diese werden durch Beschäftigung im informellen Sektor zumindest teilweise aufgefangen (Folha de Sao Paulo, Januar 1996).
5 Sozioökonomische Sicherheit ist der umfassende Begriff für: (1) die Arbeitsmarktsicherheit - also ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem formellen Arbeitsmarkt; (2) die Beschäftigungssicherheit - durch einen wirksamen Kündigungsschutz; (3) die Qualifikationssicherheit - durch ein Bildungs- und Ausbildungssystem, das den Erwerb und den Erhalt von Fähigkeiten und Kenntnissen erlaubt; (4) die Arbeitsplatzsicherheit - in der konkreten Tätigkeit, die durch die Berufsförmigkeit der Arbeit gewährleistet wird; (5) die Sicherheit in der Arbeit - durch einen ausgebauten Arbeits- und Unfallschutz; (6) die Einkommenssicherheit - durch Mindestlohnregelungen, Lohnindexierung, ein umfassendes System sozialer Sicherung im Falle von Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Invalidität und die progressive Besteuerung der Einkommen und schließlich (7) die Vertretungssicherheit - also die Gewährleistung kollektiver Interessenvertretung am Arbeitsmarkt durch unabhängige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Tarifautonomie, Streikrechte etc. (vgl. dazu ausführlicher: Altvater/Mahnkopf 2002). Diese Elemente sozioökonomischer Sicherheit werden auch in formellen Arbeitsverhältnissen nur selten realisiert. Es handelt sich also um ein normatives Konzept, nicht um einen analytischen Begriff.
6 Es wird folglich notwendig sein, die Diskurse von menschlicher Sicherheit (das sind die Bedürfnisse) mit den Diskursen über öffentliche Güter (der Versorgung) zu verbinden. Dies kann hier aber nicht geleistet werden (vgl. aber Altvater 2003b).
7 Vgl. dazu die Beispiele bei Pogge (2005), der sich die Frage vorlegt, warum es gelingen kann, dass in den reichen Industrieländern von der extremen Armut und vom Elend von 2,8 Mrd. Menschen keine Kenntnis genommen wird. Welche moralischen Defizite müssen gepflegt werden, damit dies möglich ist und bleibt? Umgekehrt: welche Vorkehrungen sind zu treffen, damit die globalen Ungleichheiten reduziert werden? Pogge selbst betont gegen Sen (1999) und andere, die eher nationale Lösungen im Auge haben, die Bedeutung globaler Institutionen zur Regulation von Märkten, freilich ohne die ökonomischen Mechanismen der Waren-, Finanz- und Arbeitsmärkte, auf denen Ungleichheit erzeugt und verstärkt wird, in den analytischen Horizont mit einzubeziehen.
8 Marx bemerkt in den "Grundrissen": "Die Arbeitszeit als Maß des Reichtums setzt den Reichtum selbst als auf der Armut begründet und die disposable time als existierend im und durch den Gegensatz zur Surplusarbeitszeit oder Setzen der ganzen zeit eines Individuums als Arbeitszeit und Degradation desselben daher zum bloßen Arbeiter, Subsumtion unter die Arbeit. Die entwickeltste Maschinerie zwingt den Arbeiter daher jetzt länger zu arbeiten als der Wilde tut oder als er selbst mit den einfachsten, rohsten Werkzeugen tat." (Marx 1953: _596)
9 Dafür kann Fair Trade ein Beispiel sein. Der Umsatz legt in Deutschland zu (TAZ, 27. 4.2005), ist aber immer noch erstens gering (knapp 60 Mio. Euro) und zweitens hoch konzentriert. Zwei Drittel des Fair Trade in Deutschland entfallen auf nur ein Produkt, nämlich Kaffee.
10 Der Begriff der "Würde" ist zweischneidig, und daher wurde er hier nicht verwendet. Von den Zapatistas ist er in die politische Debatte der Linken gebracht worden. Er wurde sehr schnell aufgegriffen, etwa von Holloway (2002). Auch das Movimiento de Trabajadores Desocupados in Argentinien folgt dem Motto "Arbeit, Würde, gesellschaftlicher Wandel (Dinerstein 2003). Der Begriff wird aber auch von Rechten benutzt, z.B. um einen "patriotischen" Krieg gegen alle zu führen, die die Würde des "serbischen Volkes" verletzen. Der Begriff der Würde ist nur akzeptabel, wenn er sich auf alle Menschen bezieht, nicht auf eine Gruppe von Menschen, handele es sich dabei um Ethnien, Religionen oder Klassen.
11 Daher findet sich der Verweis auf eine "Effizienzrevolution" in nahezu allen Parteiprogrammen; er kostet nichts, noch nicht einmal die Anstrengung des Nachdenkens. Es ist, als ob der liebe Gott uns eine win-win-Konstellation geschenkt habe, in der alle ökonomischen, sozialen und ökologischen Probleme mit einem Schwabenstreich gelöst werden könnten. In den Materialien zum neuen Grundsatzprogramm der Sozialdemokratie heißt es kess: "Die für den Ressourcenverbrauch erforderliche 'Effizienzrevolution' verbindet Arbeit und Umwelt. Sie verbessert die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, senkt Kosten für Ressourcenimporte ..." etc. Wenn es doch so einfach wäre ... (WillyBrandt-Haus-Materialien "Eine neue Politik der Arbeit", SPD Programmkommission, AG 5, Januar 2005)