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2005-10-12

Fünfzehn Thesen zur vorläufigen Beantwortung der Frage, wie man in nahezu aussichtsloser Lage wenigstens eine andere Richtung einschlägt

(a&k Oktober 2005)

von Werner Rätz & Thomas Seibert

1. These: Systemüberwindung und kurzfristiger Kampf sind kein Widerspruch

Liegt eine revolutionäre Umbruchsituation nicht vor, sind soziale Kämpfe auf die begrenzte Verbesserung der Lage der Betroffenen/Kämpfenden oder die Abwehr von Verschlechterungen gerichtet. Nehmen radikale Linke daran teil, geraten sie unter Verdacht, die "systemüberwindende" Perspektive aufgegeben zu haben. Umgekehrt erweckt, wer ausschließlich auf den "großen Aufstand" setzt, leicht den Eindruck der Gleichgültigkeit gegenüber den wirklichen Lebensumständen der Leute. Grundsätzlich gesehen ist der Streit zwischen einer langfristigen, "systemüberwindenden" und einer kürzerfristigen, tagespolitischen Orientierung kaum zu entscheiden und wenigstens insofern müßig.

2. These: Wir können Realpolitik gegenwärtig nicht verändern

Die wieder in Mode gekommene Frage, ob wir den Kapitalismus abschaffen oder "nur" reformieren wollen/sollen, macht uns heute noch hilfloser als dies früher der Fall war. Das hat "realpolitische" Gründe, sind wir doch gegenwärtig nicht einmal in der Lage, "bloß" tagespolitische Interventionen zum Erfolg zu führen. Jüngster Beleg dafür war die breite gesellschaftliche Mobilisierung gegen die Hartz IV/Arbeitslosengeld II-Gesetze. Die seit Jahren stärksten Proteste in diesem Land waren nicht in der Lage, die beschleunigte Absenkung des Lebensstandards und Rücknahme sozialer Rechte aufzuhalten. Wir waren nicht einmal in der Lage, auch nur die Richtung von tagtäglicher Realpolitik korrigieren zu können.

3. These: Erklärungshegemonie gewinnt, wer vom Hier-und-Jetzt ausgeht

Einer um ihre Handlungsohnmacht aufgeklärten Linken kann es folglich weder um tagespolitisch-"reformistische" noch um systemüberwindend-"revolutionäre" Interventionen gehen, sondern nur darum, die neoliberale Hegemonie wenigstens zu schwächen. Wer gesellschaftliche Erklärungshegemonie erringen will, muss zwar von einer anderen Welt reden, doch muss dies eine Welt sein, die in der heute herrschenden als deren Möglichkeit schon gegeben ist, die in ihr aussteht als ihre eigene Chance. Von der anderen Welt, die möglich ist, muss sichtbar sein, wie sie aus der heutigen werden und wie sie von den Leuten, die sie erkämpfen müssen, zunächst einmal gewollt werden kann.

4. These: Unsere Forderungen sind mit den Alltagserfahrungen zu vermitteln

Eine gegenhegemoniale Intervention kann nun aber nicht darin liegen, sich auf die "grundsätzliche" Ebene zu beschränken. Zurecht konfrontieren die Leute ein solches Projekt mit ihren Bedürfnissen und Anliegen. Folglich muss die gegenhegemoniale Intervention auch "die nächsten Dinge des Lebens" in den Blick nehmen. Erst wenn das gelingt, wirkt das Gift gegenhegemonialer Zersetzung auch so weit, dass weitergehende Bedürfnisse artikuliert werden können.

5. These: Wir müssen das Dilemma zwischen "Systemkritik" und "Alltag" aushalten

Weil zum Beispiel die von Hartz IV davon Betroffenen hier und jetzt Antworten haben wollen, fordert die politische Wirklichkeit auch von uns die Auseinandersetzung mit "systemimmanenten" Alltäglichkeiten. Dass die politischen Entscheider auf unsere Meinung pfeifen, befreit uns nicht aus dem Dilemma: Auf der einen Seite stehen die Leute mit ihren konkreten Forderungen, auf der anderen wir mit unseren Überlegungen, wie es "eigentlich" sein müsste, und mit unserem Wissen, dass es so erst werden kann, wenn die große Zahl der Leute sich von der Orientierung auf eine Markt- und Konkurrenzgesellschaft löst.

6. These: Dieses Dilemma kann produktiv werden

Bleibt also nur die produktive Annahme des Dilemmas, seine Verwandlung in politische Produktivkraft: Können wir Forderungen entwickeln, die die grundsätzliche Richtung benennen, in die wir Gesellschaft radikal verändern wollen, und die gleichzeitig Elemente liefern, um Maßnahmen zu bestimmen, die die Lebensverhältnisse unmittelbar verbessern?

7. These: Es ist genug für alle da

Im Attac-Schwerpunkt "GenugfürAlle" haben wir uns deshalb auf einen Grundsatz geeinigt, aus dem sich drei solche Richtungsforderungen ergeben: Es gibt ein Recht auf ein gutes Leben für alle, dem keine Pflichten gegenüberstehen. Gesellschaftliche Teilhabe ist als solche unbedingtes Menschenrecht. Und: Es ist genug da, sie allen zu ermöglichen.

8. These: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ist zu fordern

Ein gutes Leben für alle wird in unserer Gesellschaft aber nur möglich, wenn Menschen über das dazu nötige Einkommen verfügen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ist deshalb die erste Richtungsforderung. Dieses Einkommen muss ausreichend sein, damit der Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingelöst wird. Um ein solches Grundeinkommen für alle zu erreichen, können eine ganze Reihe von konkreten Schritten benannt werden. Dazu gehören die Zurückweisung des gerade laufenden Generalangriffs auf soziale Sicherung und umfassende Daseinsvorsorge als öffentliche Aufgabe. Diese Richtungsforderung eröffnet die Möglichkeit einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus und der kapitalistischen Ökonomie überhaupt. Alle bürgerliche Volkswirtschaft definiert Ökonomie als Verwaltung des Mangels. Wer ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert, behauptet damit, dass genug für alle da ist. Dabei geht es um eine generelle Sicht auf die Dinge: darum, erst einmal zu lernen, gemeinsam von sich selbst auszugehen und darin den entscheidenden Maßstab der Gerechtigkeit zu gewinnen.

9. These: Unsere Antworten müssen von der Peripherie ausgehen

Wir müssen als zweites sehen, dass der Anspruch auf ein gutes Leben für alle nie nationalstaatlich realisiert werden kann: Armut wird international produziert, entwickelt und ergibt sich aus der Tatsache, dass wir in einer kapitalistisch globalisierten Welt leben. Deshalb kann die Frage nach der Überwindung der Armut zureichend nicht vom Zentrum, sondern nur von der Peripherie her beantwortet werden.

10. These: Ein Schuldenerlass für den globalen Süden ist notwendig

Es ist heute nicht ganz leicht zu bestimmen, wo in einer sich global sehr schnell ändernden Welt Zentrum und Peripherie sind: Es gibt Gewinner und Verliererinnen auf beiden Hälften des Globus, wenn auch nicht gleichmäßig überall. Die Milliarde Menschen, die weltweit hungert, Hunderte von Millionen Flüchtlingen und die BewohnerInnen der (bürger-)kriegszerrütteten Gesellschaften gehören sicher zu den VerliererInnen und finden sich nach wie vor im Wesentlichen im Süden. Als zweite Richtungsforderung ergibt sich damit die Notwendigkeit einer Umkehr der Ressourcen- und Stoffströme von Nord nach Süd. Ein Erlass der Schulden der arm gemachten Länder des Südens zum Beispiel würde die Möglichkeiten der Menschen dort erheblich verändern, erreichbare Kampfziele neu ins Auge zu fassen.

11. These: Der Kampf gegen die Illegalisierung ist grundlegend

Wenn wir "Süden" und "Norden" heute nicht mehr als eindeutig benutzen können, können auch Richtungsforderungen die Welt nicht einfach in zwei Teile aufteilen. Jeweils auch innergesellschaftlich muss das Armutsproblem von den Rändern her gedacht werden. Dabei geht es auch darum, dass die Menschen die Grenzen zwischen dem Süden und dem Norden unablässig real überschreiten. Die Existenz und zugleich Autonomie der Migration kann trotz aller "Abschottung" nicht unterbunden werden und bleibt die erfolgreichste soziale Bewegung. Ein umfassender "Stopp der Zuwanderung" ist auch gar nicht gewollt, selbst wenn die rassistischen Hetzreden diesen Eindruck nahe legen. An den illegalisierten Leuten wird ausprobiert, wie weit man die Standards absenken kann, um die Flexibilisierung von Arbeitskraft voranzutreiben. Die "am unteren Ende der Gesellschaft" sind deshalb nicht die Konkurrenz derer, die noch knapp darüber liegen, sondern jene, die da unbedingt raus müssen, wenn die anderen nicht ebenfalls dorthin geraten wollen. Deshalb muss, lange Rede kurzer Sinn, wer ein gutes Leben für alle will, unbedingt dafür eintreten, dass alle Leute dort, wo sie sind, auch gleiche Rechte haben. Das Recht auf Rechte ist die dritte Richtungsforderung und zugleich die Voraussetzung aller weiteren Kämpfe.

12. These: Richtungsforderungen ermöglichen gemeinsame Kämpfe

Was vom Recht auf Rechte als einer Richtungsforderung gilt, gilt von jeder anderen Richtungsforderung auch: Sie ermöglicht eine ganze Reihe von kleinen Schritten, ohne dass mit dem jeweils unternommenen die Gesamtforderung eingelöst wäre. Letztlich weisen Richtungsforderungen - deshalb heißen sie so - in der Perspektive ihrer vollständigen Durchsetzung über diese Gesellschaft hinaus. Zugleich ermöglichen sie gemeinsame Kämpfe um jeweils aktuelle Maßnahmen, ohne dass die "Systemüberwindung" dabei eine von allen zu unterschreibende Voraussetzung wäre.

13. These: Zerstörungstechnologien sind abzuschaffen

Auch der Neoliberalismus kennt den Gedanken, dass es ein Recht auf ein gutes Leben gibt: ein Leben, dessen Dynamiken radikal freigesetzt werden. An uns ergeht deshalb die Aufforderung, uns mit allen Mitteln für den Markt zu optimieren. Zu diesen Mitteln gehören auch die Bio-, Gen- und Nanotechnologien, als Mittel, ein optimal verwertbares Leben zu produzieren. Wie die Atom- und natürlich die Militärtechnologien sind die Biotechnologien solche der Destruktion, die sich zuletzt auf das gesamte Leben richtet. Deshalb zielt eine vierte Richtungsforderung auf die Abschaffung aller Destruktivtechnologien und nimmt darin Impulse auf, die sich in den Kämpfen gegen die Atomkraft ebenso ausdrückten wie im Widerstand gegen den imperialistischen Krieg. Dabei verstehen wir unter Destruktivtechnologien solche, die absehbar unter keinen gesellschaftlichen Bedingungen beherrschbar sein werden und deshalb der Tendenz nach das Leben selbst bedrohen.

14. These: Alle Richtungsforderungen gehören zusammen

Zusammenfassend: Wir können heute nur Richtungsforderungen stellen. Davon kann es viele geben, die vier hier beschriebenen gehören eng zusammen und können nicht einzeln gedacht werden. Ihre wesentliche Klammer ist das Recht auf ein gutes Leben. Sie bewähren sich in ihrer Fähigkeit, den Eigensinn unscheinbarer, "kleinerer", aus dem Alltag entspringender Forderungen zu vertiefen, indem sie ihnen die Perspektive ihrer fortgesetzten Radikalisierung eröffnen.

15. These: Wir sollten auf Überraschungen gefasst sein

Selbstvorbehalt. Die Geschichte sozialer Kämpfe wird von plötzlichen Sprüngen markiert, in denen gleichsam von einem Tag auf den anderen "alles" anders wird - oder zu werden scheint. Auf die Plötzlichkeit solcher Sprünge vorbereitet zu sein, empfiehlt sich gerade für die, deren politischer Entwurf sich realistischerweise auf lange Fristen einstellt. Insofern gilt es, sich in kurzer und mittlerer Frist auf allerlei Verwerfungen einzustellen. Was das im einzelnen heißt, ist zum Glück nicht Sache eines Thesenpapiers, sondern der politischen Phantasie sozialer Bewegung.

Stark gekürzte Fassung eines Textes, der sich in voller Länge im gerade erschienenen Buch Losarbeiten - Arbeitslos? Globalisierungskritik und Krise der Arbeitsgesellschaft findet. Herausgegeben vom Unrast Verlag in Kooperation mit attac von Andreas Exner, Judith Sauer u.a., mit Beiträgen von Michael Heinrich, Christa Wichterich, Kai Ehlers, John Holloway, Ernst Lohoff, Lisbeth Trallori, Karl Reitter u.v.a.