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2001-12-31

Wer stets das Gute will ...

Zur Kritik des alten Internationalismus

Alaska 227, August 1999

Moe Hierlmeier

Die Suche nach einem neuen Internationalismus führt zu seinen Vorgängern. Die vereinfachenden Analysen, die Aufteilung der Welt in gut und böse und die krassen Fehleinschätzungen von Revolten und Revolutionen haben eine marginalisierte Bewegung hinterlassen, die sich erst allmählich von den zuweilen religiös anmutenden Lehren löst.In den 60er Jahren speisten sich internationalistische Impulse vor allem aus dem Protest gegen die Vietnam-Politik der USA. Das Massaker von My Lai, bei dem US-Soldaten die Zivilbevölkerung des Dorfes grausam ermordeten, wurde zum Symbol für die Verbrechen der USA. Ab diesem Zeitpunkt galt sie als das absolut Böse, als säkularer Antichrist. Mit Containment, Counterinsurgency und Low-Intensity-Warfare-Programmen versuchten sie emanzipatorische Bewegungen oder Regierungen zu unterdrücken. Guatemala, Kuba, Chile, Grenada, Nicaragua, El Salvador seien nur als Beispiele für die "Befriedung" des "natürlichen Hinterhofs" der USA genannt. Die Liste ließe sich für andere Kontinente fortsetzen.

Spurensuche 1 - "USA, SA, SS"

Der Protest und die Rebellion gegen diese Politik war und ist mehr als berechtigt. Dennoch ist es eine unerträgliche Verharmlosung des deutschen Nationalsozialismus, die Politik der US-Regierungen mit der SA oder gar der SS zu vergleichen, wie dies mit der Parole "USA-SA-SS" geschah, einem Evergreen auf Demos gegen die US-Politik. Durch diese Gleichsetzung wurde der deutsche Faschismus damit bereits zu einer Zeit von Linken normalisiert, zu der ein Nolte oder ein Walser noch nicht im Traum daran gedacht haben. Aus dem "Zivilisationsbruch Auschwitz" (Dan Diner) als Metapher für die Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus wurde eine Alltagsfloskel. "Kapitalismus führt zum Faschismus" war die Parole, die die Gleichsetzung von SS-Politik und US-Politik legitimieren sollte. Diese Parole stand in der Tradition einer ökonomistisch verkürzten Faschismus-Analyse der Kommunistischen Internationale (G. Dimitroff) und der KPD der Weimarer Republik, derzufolge "Faschismus an der Macht (...) die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" ist.
Warum der Faschismus gerade in Deutschland einen solchen Erfolg hatte, warum es gerade hier bis zum Ende eine Massenunterstützung gegeben hat, warum gerade hier der Massenmord an Juden, Sinti und Roma und anderen "Außenseitergruppen" in seiner technokratisch industriellen Effizienz durchgeführt werden konnte, solche Fragen drangen mit diesen Parolen nicht mehr in das Blickfeld. Diese Form der Normalisierung konnte nur eine doppelt unschuldige Generation leisten: unschuldig, weil links; und unschuldig, weil nachgeboren. Der Faschismusvorwurf blieb nicht auf die USA beschränkt, sondern wurde zum Schlagwort schlechthin. Jedem reaktionären Diktator wurde h das Adjektiv faschistisch angehängt. Jede Gesetzesverschärfung war ein Beitrag im Prozeß der Faschisierung von Staat und Gesellschaft. Solch ein Katastrophen-Superlativismus macht blind für die sensible Wahrnehmung geschichtlicher Veränderungen. Wenn das Schlimmste immer schon eingetreten ist, stumpft man ab, man ist nicht mehr offen für politische Veränderungen.

Spurensuche 2 - Antizionismus und Antisemitismus

Diese doppelte Unschuld begegnet uns auch im Antizionismus, der manchmal nur schwer seinen antisemitischen Hintergrund verdecken konnte. Seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn kam es zu einer antizionistischen Wende relevanter Teile der deutschen Linken. Heftige Debatten um die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht Israels wurden geführt. Die Diskussionen darüber, ob die Israelis überhaupt ein Volk seien, denen man das Selbstbestimmungsrecht zugestehen dürfe, muten heute grotesk an.
1982, als es zu den Massakern an der palästinensischen Bevölkerung in den Beiruter Stadtteilen Saba und Schatila mit Unterstützung der israelischen Armee kam, gab es in linken Zeitschriften Überschriften wie "Die Endlösung der Palästina-Frage". In manchen Städten wurden sogar Einrichtungen jüdischer Kultusgemeinden besetzt. Der damalige Regierungschef Israels, Menachem Begin, wurde in einer der meistgelesensten Internationalismus-Zeitschriften, der iz3w, mit einer Hakennase dargestellt (Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich die iz3w in der Folgezeit kritisch mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzte). Ulrike Meinhof und Horst Mahler feierten den Anschlag des Kommandos "Schwarzer September" auf die israelische Olympia-Mannschaft als "mutiges Kommando (...) gegen zionistische Soldaten, die in München als Sportler auftraten." Und bei einer Flugzeugentführung organisierte ein Mitglied der RZ die räumliche Trennung nach jüdischen (!) und nichtjüdischen Passagieren. Auch hier fehlte es nicht an der Gleichsetzung von faschistischer und zionistischer Politik.
Sicherlich waren die meisten Linken keine Antisemiten. Aber die angeführten Beispiele waren auch keine Einzelfälle, wie das Buch "Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses" von Michael W. Kloke dokumentiert. Das zeigt sich nicht nur in den idiotischen Parolen antimperialistischer Gruppen, sondern auch auf subtileren Ebenen. So war in gewaltfreien und links-christlichen Kreisen das Argument des "Gerade-Israel-hätte-doch-aus-der-Geschichte-lernen müssen" zu hören. Anstatt die konkrete Politik Israels zu kritisieren, wurden die Erfahrungen mit dem Faschismus bemüht.

Spurensuche 3 - "Sieg im Volkskrieg"

Die Internationalismusbewegung hatte lange Zeit ein nachgerade mythisches Verhältnis zu den Völkern in der Dritten Welt. Das Volk wurde als vorgegebene Einheit gesehen, die immer das Gute will: Befreiung. Das Volk, das war die festgeschlossene Einheit von Unterdrückten, denen eine kleine Clique von Ausbeutern (sprich Regierung und Kompradoren-Bourgoisie) gegenüberstand, die nur mit Bestechung oder mit militärischer Unterstützung des Imperialismus überleben konnte. Diese Metaphysik des An-sich-revolutionären-Volkes korrespondiert in der Geschichte der Linken mit der Metaphysik des Proletariats.1
Da in den sechziger Jahren die Arbeiterbewegung sich im keynesianischen Wohlfahrtsstaat offensichtlich bestens eingerichtet hatte, fiel sie als Hoffnungsträger für eine emanzipatorische Politik aus. Als neuer Hoffnungsträger fungierten jetzt die Völker der Dritten Welt. Sie waren die Garanten für eine bessere Welt. In Analogie zur chinesischen Revolution, in der die Dörfer die Städte einkreisten, sollten jetzt die Völker der Welt die imperialistischen Zentren einkreisen. Die Erfolge antikolonialistischer und -imperialistischer Befreiungsbewegungen, vor allem des Vietcong, hatten einen überhöhten Geschichtsoptimismus zur Folge. Dieser war in den Beiträgen auf dem Internationalen Vietnam-Kongreß 1968 in Berlin offensichtlich: "Vietnam kommt näher, in Griechenland beginnen die ersten Einheiten der revolutionären Befreiungsfront zu kämpfen. (...) Es hängt von unseren schöpferischen Fähigkeiten ab, kühn und entschlossen die sichtbaren und unmittelbaren Widersprüche zu vertiefen und (..) kühn und allseitig die Initiative der Massen zu entfalten", führte Rudi Dutschke aus. Man müsse neben dem Viet-Cong noch einen asiatischen, amerikanischen und europäischen Cong schaffen.
Im Beitrag von Bahman Nirumand nimmt das Pathos religiöse Züge an. "Denn wir stehen jetzt an dem Übergang zur dritten Welt, zur Welt des neuen Menschen, mit der die Vorgeschichte des Menschen, seine Unterdrückung und Zerstückelung beendet sein wird."
Die Studenten sahen sich in diesem Prozeß als Avantgarde. Sie hatten, so Dutschke, die Initiative der Massen zu entfalten. Dahinter steckt die Annahme, dass die Menschen in einem Verdinglichungszusammenhang stehen, der sie von ihrem wahren Wesen entfremdet. Das Tauschprinzip des Marktes verdecke die Ausbeutungsstrukturen des Kapitalismus. Die Oberflächenstruktur schaffe somit verdinglichte Bewußtseinsformen, die verhindern, das Wesen des Kapitalismus, die Ausbeutung in der Produktion und der 3. Welt zu durchschauen. Das andere Erklärungsmuster für die scheinbare Angepasstheit der Massen war, dass die Herrschenden durch die Manipulation über die Medien (Springer!) einen Verblendungszusammenhang herstellen. Diese Manipulationsmechanismen galt es zu entlarven, damit die Massen ihre fortschrittlichen Potentiale entfalten könnten. Es galt nur noch die Wahrheit zu verkünden. Die K-Gruppen waren geboren.
Religiöse Anleihen sind hier unverkennbar. Die Studenten waren sozusagen - wie früher das Proletariat - das auserwählte Volk, denen die Wahrheit geoffenbart worden war. Sie waren jetzt die Prediger der neuen Zeit. Die dritte Welt nahm in dieser Weltsicht eine ganz bestimmte Rolle ein. Sie galt als Synonym für das Neue Jerusalem der Johannes-Apokalypse, das die Hure Babylon, also den Imperialismus, zerstören wird und das Paradies auf Erden schafft. Die Weltgeschichte verstand man im Sinne Hegels als Weltgericht. Nur sah man das Ende der Geschichte nicht mehr in der Verwirklichung des preußischen Staates erreicht oder wie die heutigen Neoliberalen in der Verwirklichung des freien kapitalistischen Marktes, sondern mit dem Sieg des Proletariats (traditioneller Marxismus) oder dem Sieg der Völker der Dritten Welt im Volkskrieg gegen den Imperialismus. Gerade darin bestand die "List der Vernunft" (Hegel), daß die 3. Welt die 1. Welt befreien sollte (Erlösungsmotiv), indem sie das globale Herr-Knecht-Verhältnis umkehrte. Die Internationalisten sahen sich als ein Moment einer Totalität, die sich in Richtung Befreiung entwickelte.
Trotz der eigenen gesellschaftlichen Isolierung konnten sich so die Studenten- und die Internationalismusbewegung in einen größeren Zusammenhang stellen. Dies führte zu einer völligen Verkennung der eigenen Handlungsmöglichkeiten: Revolution durch Suggestion. Man war Teil einer übergroßen Mehrheit im Kampf um Befreiung. Dies schuf Wärme, Geborgenheit und Identität durch die Zugehörigkeit zu einem großen Ganzen. In der "masochistischen Begeisterung" dieser Jahre steckte das "tiefe Bedürfnis nach Transzendenz" (Peter Wahl). Die Betonung des Willens fand ihre Berechtigung in der Tatsache, dass selbst eine kleine Gruppe von Aktivisten eine Revolution auslösen konnte. "Ein Funke kann zum Steppenbrand werden" (Mao); dies hatte auch die kubanische Revolution in der Praxis bewiesen, in der eine kleine Gruppe um Fidel Castro und Che Guevara die treibende Kraft für die Revolution bildete .

Spurensuche 4 - Von Pol Pot zum Projekt

Die Befreiungseuphorie mit ihrem Höhepunkt des Anti-Vietnam Kongresses ging bereits in den 70er Jahren verloren. Der Sieg des Vietcong 1975 wurde nur noch beiläufig zur Kenntnis genommen. Einen Bruch gab es, als sich die Berichte über die Massenmorde Pol Pots in Kambodscha bestätigten. Lange Zeit wurde dies als Propaganda des Imperialismus abgetan. Die eintretende Ernüchterung führte zu einem ersten Abgesang auf den zurückliegenden Internationalismus. Der heutige Außenminister Joschka Fischer bekannte in einer Diskussion, ein "entschiedener Verfechter des revolutionären Terrors" gewesen zu sein - und beschloß zur Sühne Außenminister zu werden. Daniel Cohn-Bendit zeigte in derselben Diskussion gleich, was es für ihn hieß, aus den Fehlern gelernt zu haben: "Ich habe keine Sympathien für die Sandinisten."
Viele hatten aber doch Sympathien mit den Sandinisten. Zuerst kam die Unterstützung aus christlichen Kreisen, die sich an den Ideen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie orientierten. Mit den neuen sozialen Bewegungen Anfang der 80er Jahre entstand auch eine neue Internationalismusbewegung. Sie spürte nicht mehr den Wind der Geschichte in ihrem Rücken. Vielmehr spürte sie Gegenwind, da sich die internationalen Rahmenbedingungen trotz des Sieges der Sandinisten entscheidend verändert hatten. Der Neoliberalismus war mit Reagan und Thatcher in den USA und GB an der Macht. Die Diskussionen um eine neue Weltwirtschaftsordnung in der UN-Vollversammlung und der UNCTAD waren durch die Stärkung des GATT und durch Integrationsangebote wie dem Lomé-Vertrag zu einem vorläufigen Ende gekommen. Zudem hatte sich das Vertrauen in die Massen/das Volk in der iranischen Revolution als trügerisch erwiesen.
Vor diesem Hintergrund hatte die neue Internationalismusbewegung einen ganz anderen Ansatzpunkt. Gespeist von theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen der Alternativbewegung ging es jetzt nicht mehr um Weltrevolution, sondern um die Erkämpfung und Verteidigung autonomer sozialer Räume. Es ging um die Verteidigung der kommunikativen Vernunft in der Lebenswelt gegenüber den zweckrationalen Imperativen des Systems mit seiner instrumentellen Vernunft. Übertragen auf die internationale Ebene hieß dies: es ging um die Verteidigung des Anspruchs eines Landes wie Nicaragua, einen eigenen Entwicklungsweg einzuschlagen.
Den theoretischen Debatten der 60er und 70er Jahre über Totalität und Weltrevolution stand die neue Internationalismusbewegung deshalb ziemlich sprachlos gegenüber. Sie war stärker an der konkreten Unterstützung der Befreiungsbewegungen in den jeweiligen Ländern interessiert. Mit dem Verlust der globalen Perspektive verengte sich der Blick in Richtung Länder- und Projektesolidarität. Man wachte eifersüchtig über das eigene Projekt. Vielfach führte dies zu einer Ignoranz und Unkenntnis über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ein entscheidendes Element der damaligen Solibewegung war das Brigadenkonzept in der Nica-Solidarität. Es sollte nicht nur die internationale Aufmerksamkeit erhöhen und damit ein Schutzschild gegen mögliche militärische Interventionen seitens der USA darstellen, sondern auch die Distanz zwischen den Menschen hier und in den Ländern Mittelamerikas verringern. Neue Probleme und Projektionen tauchten auf. Die BrigadistInnen blieben meistens unter sich. Unter der Hand schlichen sich paternalistische Hilfs- und eurozentristische Entwicklungsvorstellungen ein. Ein "HelferInnensyndrom" machte sich breit. Viele zogen sich enttäuscht zurück, wenn die Bevölkerung in Nicaragua sich nicht so helfen lassen wollte, wie es die HelferInnen wollten.
Auch wenn sich die Internationalismusbewegung der 80er Jahre deutlich von ihrer Vorgängerin unterschied, indem etwa der globale Begründungszusammenhang verlorenging, so wurden doch unhinterfragt Traditionslinien mitgeschleppt. Die wichtigste war dabei wiederum die Kategorie des Volkes. Vor allem die Befreiungsbewegungen als Ausdruck der Organisation des Volkes wurden unkritisch als eine Einheit wahrgenommen. Dass die Befreiungsbewegungen etwa in Mittelamerika höchst labile Bündniskonstrukte mit explizit unterschiedlichen Fraktionen und Parteien waren, war oft nur den Eingeweihten bewußt. Auch machistische Politikstile, die etwa in der ungemein wichtigen Rolle der líderes zum Ausdruck kommt, wurde lange Zeit nicht wahrgenommen oder verdrängt.

Spurensuche 5 - Der neue Mensch

Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Internationalismusbewegungen war das Lob der Gewalt. Daß die Waffe der Kritik die Kritik der Waffen nicht ersetzen konnte, war ein Gemeinplatz, woraus hierzulande allerdings nur eine Minderheit die praktischen Konsequenzen zog. Frantz Fanons und Jean Paul Sartres Rechtfertigung der revolutionären Gegengewalt kam einer Apotheose der Gewalt gleich. Durch die Anwendung der Gewalt sollte der neue Mensch entstehen, indem er sich seiner entfremdeten Existenz bewußt wurde und sich ihrer entledigte. Da die Gewalt Voraussetzung für den neuen Menschen war, mußte man sie nicht mehr rechtfertigen, sie war an sich gerechtfertigt. Das Naturrecht auf Widerstand wurde fast selbstverständlich als Naturrecht auf bewaffneten Kampf interpretiert. Der linke, harte und vor allem kompromißlose Heroe (Che) galt als Inkarnation des neuen Menschen. In diesem Bild wurde offensichtlich der Wunsch nach Widerspruchslosigkeit mittransportiert: ein Mensch ohne Schwächen. In dieser Figur bündelten sich die romantischen Träume vieler InternationalistInnen. Es ist der Traum vom Paradies auf Erden, die hegelianische Vorstellung vom Zusammenfallen von Faktischem und Normativen, von Sittlichkeit und Vernunft, das der "wissenschaftliche Sozialismus" im proletarischen Arbeiter verwirklicht sah und viele Internationalisten im Neuen Menschen der 3. Welt.
Auf der anderen Seite führte das Lob der Gewalt zu einer Abwertung nicht-militanter Aktionsformen. Der Kampf um politische und soziale Menschenrechte etwa wurde als etwas typisch "bürgerliches" abgewertet und denunziert. Gewerkschafts- und Menschenrechtsarbeit, Arbeit in Frauenorganisationen und Umweltschutzgruppen hatten immer den schlechten Beigeschmack eines "weniger" oder "noch nicht". Sie hatten ihre Funktion als Transmissionsriemen von Befreiungsbewegungen. In ihrer Eigenwertigkeit wurden sie kaum wahrgenommen.

Spurensuche 6 - Die NGOisierung der Bewegung

Seit Anfang der 90er Jahre hat ein radikaler Politik- und Diskurswechsel stattgefunden. Das, was von der Bewegung übriggeblieben ist, hat sich zum größten Teil als professionelle NGOs, die sich die Politikberatung auf die Fahnen geschrieben hat, institutionalisiert.2 Dahinter steckt der Glaube an das bessere Argument und an die Einsicht des aufgeklärten Individuums, das in seinem eigenen "wohlverstandenen" langfristigen Interesse die Ausbeutung von Mensch und Natur aufgibt und einen Politikwechsel herbeiführt. Begründet werden solche Konzepte gerade mit den Erfahrungen des Scheiterns linker Politik. Insofern verbietet es sich, sie nur als opportunistisch zu begreifen. Denn sie sind auch das Ergebnis eines gescheiterten linken Internationalismus. Andererseits liegen die Defizite dieser Konzepte geradezu auf der Hand. Um überhaupt als Dialogpartner für Wirtschaft und Politik akzeptiert zu werden, darf man keine grundsätzliche Kritik üben. Es entstehen neue Wunschbilder und Projektionsflächen: man imaginiert sich das Bild eines harmonischen Zusammenlebens, wenn nur alle ihrem wohlverstandenen Interesse folgen würden.
Man kann die eigene Schwäche nicht allein dem Zeitgeist in die Schuhe schieben. Wir waren selbst "ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft" (Goethe). Wir3 haben selbst imaginäre Linien gezogen, um ein politisch-korrektes Freund-Feind-Weltbild zu konstruieren: wir - ihr; oben - unten; Volk/Masse - Regierende/Unterdrücker; institutionelle Politik - basisdemokratisch; gut - böse. Dieses dichotome Weltbild funktioniert so nicht. Wir müssen uns eingestehen, dass wir uns nicht einfach per Willensakt auf die andere, die bessere Seite der Barrikade versetzen können. Wir sind selbst ein Teil von dem, was wir kritisieren oder zumindest kritisch hinterfragen müssen. Wir stehen nicht in einem imaginären Jenseits, sondern befinden uns selbst im Schnittpunkt diskursiver Kämpfe um die gesellschaftliche Hegemonie. Rationalismus, Eurozentrismus, wissenschaftsgläubige Fortschrittseuphorie (man denke nur an die Dependenztheorie), patriarchale Strukturen oder ein (quasi-)religiöser Messianismus haben uns geprägt und nachhaltige Spuren in unseren Denk- und Politikformen hinterlassen - und uns die Munition für unsere Fehler geliefert.
Aus der Einsicht der Fehler zu folgern, man müsse sich auf einen pragmatischen Internationalismus beschränken, der sich am "Machbaren" orientiert, halte ich für völlig verkehrt. Die NGO-isierung hat ihre Grenzen, zuvorderst selbstgezogene, indem die Schere im Kopf im Hinblick auf Realitätstauglichkeit ihrer Konzepte schon immer zugeschnappt hat, bevor ein Gedanke auch nur ansatzweise zu Ende gedacht ist. Radikale Positionen und Praxen jenseits der sterilen Dichotomie von Reform und Revolution zu entwickeln, wäre die Aufgabe eines neuen Internationalismus.

Anmerkungen
1) Daß sich heute ehemalige Protagonisten der Studentenbewegung wie Bernd Rabehl oder Horst Mahler in einem rechten nationalrevolutionären Spektrum verorten, hat m.E. viel mit diesem metaphysischen Volksbegriff zu tun.
2) Die politischen Ansätze der verschiedenen NGOs sind sehr widersprüchlich und lassen sich auch theoretisch nur schwer vereinheitlichen. WEED ist nicht Germanwatch. Was ich kritisiere, sind Positionen und Entwicklungen, die ich als die vorherrschenden wahrnehme.
3) Das von mir verwendete "Wir" ist selbst imaginär. Es existiert so nicht. Angesichts des begrenzten Platzes verwende ich es der Einfachheit halber. Mir ist bekannt, daß viele diese Fehler nicht begangen haben. Trotzdem wurden diese Fehler nicht zufällig begangen: sie haben ihre eigene Logik.

Literatur:
Balsen, Werner/Karl Rössel: Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte Welt Bewegung in der Bundesrepublik. Köln 1986
Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/Main 1981
Foitzik, Andreas/ Athanasios Marvakis (Hg.): Tarzan - was nun? Internationale Solidarität im Dschungel der Widersprüche. Hamburg 1997
Internationaler Vietnam-Kongreß, VLA-Reprint von 1987
Juchler, Ingo: Rebellische Subjektivität und Internationalismus: der Einfluß Herbert Marcuses und der nationalen Befreiungsbewegungen in der sog. Dritten Welt auf die Studentenbewegung in der BRD. Marburg 1989
Kloke, Martin W.: Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Frankfurt 1994
Peripherie 71: Stichwort NGO. Frankfurt 1998
Pizza: Odranoel. Die Linke - zwischen den Welten. Hamburg 1992

Quelle:
Entnommen ist der Text der bereits in der alaska beworbenen Broschüre "kölngehen" des Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft des BUKO. Zu beziehen ist die Broschüre über die BUKO Geschäftsstelle (Adresse siehe Seite 41).

Aus:
Alaska 227, August 1999