Überlegungen zu den Verhaftungen vom 10. Juni
13.06.2009
- Kennen Sie Luigi Fallico?
- Nein
- Und Gianfranco Zoja?
- Auch nicht
- Riccardo Porcile: kennen sie den?
- Nein, ich kenne ihn nicht. Ich kenne keine von diesen Pesonen
Und das stimmt auch. Von diesen Fallico, Zoja, Porcile, hatte ich bis heute nie etwas gehört. Ich kenne aber Gigi. Und Gian. Und Massi, einer von den "sussisi" *. Hätten sie ihre Namen genannt, hätte ich gesagt, dass ich sie wohl kenne. Und dass ich mit ihnen gegessen, getrunken, gelacht, und frei diskutiert habe, unter herrlichen ligurischen, römischen und sardischen Sonnen.
In den Zeitungen lese ich heute, dass Gino als der "Bilderrahmenmacher" bekannt war. Während Gian der "Waffenmeister" war. Massi - und das kann nicht von der Hand gewiesen werden - wird als "der Bauer" bezeichnet. Weiterhin aus den Zeitungen bekomme ich - weiterhin heute - viele weitere vorher noch nie bekannte Informationen über diese compagni. Vor allen Dingen, erfahre ich, dass sie "Terroristen" sind.
Das heißt, Personen, die Angst und Schrecken ("Terror") verbreiten, um mehr oder minder politische Ziele zu erreichen. Dann erfahre ich, dass sie eine bewaffnet kämpfende Partei nach Art der Br-Pcc** wieder aufbauen wolten. Ich mache auch die Entdeckung, dass sie wirklich bewaffnet, und, das beste kommt zuletzt, dass sie "zu allem bereit waren". Schließlich schweifen die Augen über diese Frage, die ein Apcom-Journalist uns schwungvoll anträgt: "Waren sie gefährlich?", und über die prompte Antwort: "Sie hätten es werden können. Weil nach dem, was Tscehchow schrieb, wenn es im ersten Akt ein Gewehr gibt, so wird dieses vor dem Ende der Tragödie benutzt werden". Dann fährt er fort: "In dieser Angelegenheit, die in ihrer Gesamtheit ans Licht gekommen ist, und die die Antiterrorpolizei landauf, landab bei Durchsuchungen auf Trab gehalten hat, gibt es genug der Waffen, um zu beweisen, dass es genug davon gibt, um einen Angriff auf den Staat zu starten!" [!!!! Wer die Bilder des "Arsenals" gesehen hat, wird gebeten, sich zusammen zu reißen, weil es leider nicht viel zu lachen gibt - der Autor] : "Auch wenn Fallico und Bellomonte für ihren Plan eines Anschlags auf la Maddalena aber den Einsatz von funkgesteuerten Modellflugzeugen angedacht hatten" [na, hier ist unmöglich, sich zusammen zu reißen, also los, lach ruhig! - der Autor].
Der Sinn der ganzen Justizangelegenheit - weil die politische einer weit umfassenderen und differenzierten Erörterung würdig ist - steckt in der Aussage: "Sie hätten es werden können". Die bestens mit den Aussagen Lamberto Gianninis (Leiter der römischen Digos***) und Giuseppe Carusos (Polizeipräsident von Rom) während der Pressekonferenz von vorgestern harmoniert: "sie WOLLTEN überlegen, wie sie", auf La Maddalena, "die Überwachung umgehen könnten", "sie HATTEN VOR, eine Struktur der Roten Brigaden wieder aufzubauen", "sie SCHICKTEN SICH AN, den bewaffneten Kampf in Italien neu zu lancieren". Ob sie denn damit begonnen hätten, die Überwachung zu umgehen, ob sie tatsächlich dabei waren, was für eine rote Brigade auch immer wieder aufzubauen, ob der bewaffnete Kampf nun neu lanciert wurde oder nicht, ist uns nicht vergönnt, zu erfahren. Und das ist ja auch nicht so wichtig. Was zählt, ist die Absicht. Weil die wahre Straftat, für einen der ein Kommunist ist, schon in der Absicht liegt, und man kann von Glück sprechen, dass eine Methode um Gedanken zu lesen und zu registrieren noch nicht erfunden wurde, sonst würde die Hälfte des italienischen Territoriums nicht ausreichen, um alle einzubuchten und den Schlüssel weg zu werfen.
Nichts Neues, werden die meisten sagen. Dennoch: die Tatsache, dass die Repression die Mechanismen nutzt, an die die so genannten "Staatsfeinde" seit jeher gewöhnt sind, darf nicht dazu führen, dass sie in sich selbst zusammensinken. Sie darf nicht verhindern, dass der Widerspruch immer und auf jeden Fall offen gelegt und angeprangert wird, den diese Mechanismen aufs Heftigste offenbaren. Ein Widerspruch, der nicht nur jede "systemgegnerische" Idee im Keim erstickt, sondern auch viel banaleres, wie den Sinn für Kritik und Einforderung eines jeden menschlischen Wesens bezüglich seiner eigenen Rechte und derer der Gesellschaft in der er lebt. Deswegen finden wir uns heute in diesem Zustand wieder. Oder eher: Wir finden uns überhaupt nicht mehr wieder.
Italien ist ein Staat, der sich demokratisch und "rechtsstaatlich" nennt. Aber es lässt zu, dass die Justiz nach der Logik der praesumptio culpae (Schuldvermutung) funktioniert, die während der Zeit der heiligen Inquisition gegen die Häretiker en vogue war. Eine Logik, die vom Recht, auf dem unsere "Demokratie" basieren soll, weit entfernt ist - dem des cogitationis poenam nemo patitur, sprich, dass niemand aufgrund seines Denkens bestraft werden kann.
"Die 'subversiven Vereinigungen' sind durch den Willen gekennzeichnet, tatsächlichen Gebrauch von Gewalt zu machen und einer Störung der verfassungsrechtlich festgelegten Ordnung. Sie sind daher bereits in der Phase der Planung von Straftaten widerrechtlich, selbst wenn man nicht einmal versucht hat, sie umzusetzen. Die 'Strafbarkeitsschwelle' schrumpft bis auf den Sockel der 'offenen" oder gar freien 'Kriminalvhypothesen' zusammen. Mit dem taterschwerenden Faktor der 'terroristischen Zweckbestimmung' werden derlei Hypothesen bis zur absoluten Willkür von durch die politische Macht zum tun und lassen nach eigenem Gutdünken und zur Senkung der Strafbarkeitsschwelle auf das Niveau der Meinungsäußerung oder gar des Denkens überhaupt autorisierten Ermittlern und Richtern weiter ausgedehnt".
So schreibt das Kollektiv Luther Blissett in einem Text, in dem klar erläutert wird, was sich jenseits der Worthülsen, hinter die Begriffe "Demokratie" und "Gedanken- und Meinungsfreiheit" verbirgt, und es geht so weiter:
"Das Vereinigungsdelikt ist ein Gesinnungsdelikt in der höchsten Potenz, eine Straftat mit virtueller Begehung. Das führt zum Anschwellen der Tatvorwürfe: von spezifischen, bestimmten Personen zugerechneten Handlungen ausgehend, schließt man über das induktive Ableiten von Schlussfolgerungen auf eine mutmaßliche Organisationsstruktur; jeder, der politische Beziehungen mit den Ausgangsverdächtigten hatte, wird in diese Struktur eingegliedert und in Komplizenschaft mit allen anderen Verdächtigten jeder diesen zugeschriebenen Straftat beschuldigt. Mehr noch: jeder Beschuldigte wird an die Spitze der hypothetischen Organisation positioniert, als eine führende Gestalt, eine "Gründungsfigur", ein "Mandant", beschrieben (vgl. mit dem "Calogero-Konstrukt****"). So genannte "Zwischenstraftaten" wie die Begünstigung, existieren nicht mehr: es findet eine Verlagerung der Verantwortlichkeit statt, die Beschuldigungssspirale bringt immer mehr "Leitfiguren" (deren "Gefährlichkeit" der Vorwand für eine lange Präventivhaft ist) hinter Gittern, und die O. wird - wie die Jungen von der Paulstraße ***** - zu einer ausschließlich aus Generalen und höchstens einem Unteroffizier - dem armen Nemeckseck - bestehenden bewaffneten Zusammenrottung. Die O. ist mittlerweile eine Krebszelle, sie produziert eine Metastase von Haftbefehlen, Anklagen, Urteilen, die Verfügungen sind, aber besonders Falschmeldungen und Nachrichten, die reine Abschriften von Behördenmitteilungen sind [...]. Jeder Konflikt wird als Notstand ausgelegt; es wird also darum gehen, präventiv zu wirken, in dem man (dank bis vor wenigen Stunden unvorstellbaren Technologien) die soziale Kontrolle ausdehnt und perfektioniert und darum, die Repression walten zu lassen, in dem man den Ordnungskräften immer größere Macht verleiht".
Das ist es, worüber wir sprechen. Repression. Präventive Bestrafung der Straftat. Es sei denn, man nimmt ganz naiv an, dass die Straftat in der Meinung liegt. in den Worten, die zwei Personen in der Initimität eines telefonischen Gesprächs oder in ihrer Wohnung frei austauschen. Ohne zu denken, dass diese Worte sie für Jahre, vielleicht für Jahrzehnte, ins Kittchen reißen werden. Auch wenn einer sich das mittlerweile sogar schon denkt.
Die Zeitungen titeln über fünf Spalten, dass Gigi, Massi und Gian im Begriff waren, anlässlich des G8 einen "Anschlag" auf La Maddalena vorzubereiten. In den letzten drei Zeilen des Artikels lesen wir dann auch, dass der Anschlag mithilfe von Funkgesteuerten Modellflugzeugen gegen die Gipfelschiffe gerichtet werden sollte: "Eine Aktion ohne Opfer, die um die Welt gegangen wäre", präzisieren die weniger Unlauteren. Here she comes, die Spielzeug-Subversion.
Und die Waffen? Hm. Nicht mal sie wissen, wo sie deren Auffindung orten sollen. Wozu dienten sie? Aber vor allem: waren sie funktionstüchtig? Wenn man sie sich so ansieht, kommt es einem so vor, als handle es sich um Kriegsresiduate. Die Gegend, in der sie (seit wer weiß wie lange vergraben) aufgefunden wurden, war ein Gebiet, in dem Partisanen Aktionen machten. Außerdem steht Massimos Familie in einer langen kommunistischen und partisanischen Tradition. Womöglich hatte irgendein Verwandter 1945, direkt nach dem Kriegsende, die Waffen aufgehoben, statt sie der Armee zurück zu geben. Das ist aber auch nicht gesagt. Wir werden es nie erfahren. Und die Raubüberfälle? "Sie sollen die Selbstfinanzierung über Raubüberfalle geplant haben... sie sprachen von "abzuräumendem" Geld". Wie man sieht, gibt es wenig bis gar nichts Konkretes, wenn man die Zeilen in den Mitteilungen und Erklärungen aufmerksam und ohne Hast durchliest. Bloß Mutmaßungen, Hypothesen, Worte, die durch die Brille eines Richters und über den medialen Verstärker zu Geschossen aus einem Gewehrlauf werden.
Wichtig ist, die Ereignisse in ihre tatsächliche Dimension einzuordnen. Die sicher nicht die der mehrspaltigen Schlagzeilen in den Zeitungen, die Lärm um die Überstehung der Gefahr der Rückkehr der bleiernen Jahre lärmen ist. Wenn ich denke, dass der bewaffnete Kampf aus den Händen Gigis hätte wieder auferstehen müssen, kommt es mir vor wie ein Witz, bei allem Respekt. Ein Witz, der nur dann auch ankäme, wenn er wirklich zum Lachen wäre. Schade nur, dass Gigi im Knast ist, zusammen mit Gian, Massi, und anderen Leuten, die ich nicht kenne. Das Trinken, Lachen und freie miteinander Reden in der Sonne hat jetzt einen bitteren, metallischen Geschmack. Es schmeckt nach Wanzen, Abhörmitschriften und Isolationszelle.
A.d.Ü.
* Bewohner von Sussisa, ein 98 (jetzt 97) Seelen Dorf im Appennin bei Genua http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/99/Sori-panorama_Sussisa.JPG
** Brigate rosse - partito comunista combattente, "Rote Brigaden für den Aufbau der kämpfenden kommunistischen Partei" siehe: https://aktuell.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/offener-blick/node19.html#tex2html75
*** Auch als "politische Polizei" bekannte, im Zuge der Reorganisation der Terror- und Extremismusbekämpfung unter Innenminister Cossiga in den 70er Jahren gegründete, formal territorial gebundene Polizeisparte. Aktionsfelder: Terror- und Extremismusbekämpfung, Hooliganismus, aber auch Mafia
**** "Da es nicht gelingt, den Fisch zu fangen, muss das Meer trockengelegt werden". Nach dieser von ihm selbst geprägten Maxime gab der damalige Staatsanwalt von Padua Pietro Calogero am 7. April 1979 das Startsignal für eine beispiellose, eklatante und traumatische Verhaftungs- und Durchsuchungswelle in ganz Italien. Auf Grundlage von 22 von Calogero unterzeichneten Haftbefehlen wurden 15 Verhaftungen vorgenommen und hunderte Durchsuchungen durchgeführt. Die Aktion wurde in Kürze zur "Mutter" von unzähligen weiteren Verfahren und Vollzugsakten, die sich rasch exponenziell vermehrten. Tausende wurden schlussendlich mehr oder weniger hart von der Initiative getroffen, die Aufarbeitung des Falls "7 April" - der zum Symbol der Repression über die Einleitung von politisch motivierten Ermittlungsverfahren geworden ist, hat gezeigt, dass unzählige Aktivisten unter schwersten Anschuldigungen beschuldigt und inhaftiert wurden, um Jahre später ohne ein Wort der Entschuldigung als Unschuldig frei gesprochen wurden. Auch steht der Prozess für den Beginn der Ära der medialen Manipulation der Öffentlichkeit und der Unterwürfigkeit derselben gegenüber den Institutionen. Zu den politischen Mandanten gehörte auch die KPI. Die Verhafteten vom 7. April, darunter Toni Negri, Franco Piperno, Oreste Scalzone, Luciano Ferrari Bravo und Emilio Vesce, wurden en bloc beschuldigt, den christdemokratischen Politiker Aldo Moro entführt und getötet zu haben und an der Spitze der strategischen Direktion des gesamten italienische Terrorismus der Zeit zu sein, von den Roten Brigaden bis zur so genannten Autonomia organizzata und Prima Linea. Der Prozess war der Anfang des Vernichtungsfeldzugs gegen den so genannten antagonismo sociale.
***** Ungarischer Jugendroman von Ferenc Molnár, erschienen 1906 siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Jungen_von_der_Paulstra%C3%9Fe
zwei bilder vom dorf von dem die rede ist bzw, v.d. umgebung:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/99/Sori-panorama_Sussisa.JPG
http://static.panoramio.com/photos/original/20680348.jpg