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2009-05-07

Abruzzen, einen Monat später: zwischen dem G8 und dem Katastrophen-Kapitalismus

von Alessio Ramaccioni, Radio cittá aperta

5.5.2009

Einen Monat nach dem großen Erdstoß vom 6. April hat Radio Cittá Aperta enrico interviewt, ein Aktivist von Epicentro Solidale und vom sozialen Zentrum "Spazio Libero 51" in L' Aquila, der selbst durch das Erdbeben betroffen im Camp von Fossa lebt und umgehend in der vom Erdbeben betroffenen Region aktiv wurde.

"Leider nehmen die Dinge exakt den Lauf, den man befürchtet hat. In diesem Territorium* entfesselt sich gerade eine regelrechte Katastrophenwirtschaft".

Bild: l'Aquila

Das sind die Worte, die Enrico, ein Aktivist vom sozialen Zentrum "Spazio Libero 51" in L' Aquila wählt, als er beginnt, uns zu erklären, was zur Zeit, einen Monat nach dem Erdbebenn in den Abruzzen passiert. "Wir wollen die Freiwilligen** des Zivilschutzes überhaupt nicht kritisieren, sondern die Struktur an sich - jene Maschinerie, die dahinter steckt. Und wir kritisieren ihn nicht unbedingt wegen etwaigen Versagens bei den Hilfseinsätzen; wir kritisieren ihn viel mehr wegen der Strategie, die er aufspannt, die eine Strategie der alltäglichen Entziehung jeden Freiheitsraumes ist, und wegen dem Planen und Entscheiden von oben herab in Bezug auf das, was aus diesem Land werden wird, dessen Vorbote genau die Haltung des Zivilschutzes ist".

Kurzum, die vorausgesehenen Zweifel und die Ängste betreffen die Zukunft der vom Erdbeben getroffenen Gebiete - Zweifel, die von zahlreichen Bewohnern jenen Territoriums geäußert werden. Es sieht nun wirklich so aus, als würden sie wahr werden.

Ein Fremdkörper, der sich, sicher für gute Zwecke im Territorium installiert, aber Tag für Tag den lokalen Bevölkerungen jede Entscheidungsmöglichkeit entzieht. Das Ganze, mittels einer massiven Militarisierung des Territoriums; Überwachte und verriegelte Camps, zu denen nur den Trägern bestimmter Armbänder gestattet ist, Verwehrung nächtlichen Ausgangs...: eine Reihe von Maßnahmen, die selbst das schlichte Recht der Menschen, sich frei zu bewegen, vernichten".

All das addiert sich zu einer besonders in einer derart schwierigen Lage eindeutig unwirtlichen Rahmensituation.

"Hier ist alles Andere als Frühling", fährt Enrico fort. "Es regnet, und es ist oft kalt, mit Temperaturen, die zwischen 8 und 15 Grad schwanken. Es wird hart und anstrengend, in den Zelten zu leben...".

In diese Situation extremer Entbehrung fügt sich die Perspektive der Beherbergung des nach L' Aquila verlegten G8-Treffens, "um der lokalen Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen". Auch zu diesem Thema ist die Meinung unseres Interviewpartners unmissverständlich: "Dermaßen betroffenen Gemeinschaften, die damit beschäftigt sind, mühselig die Ränke ihres Lebens zu rekonstruieren, ein derart brisantes Event vorzuschlagen, ist ein regelrechter Anschlag auf ihre auch psychologischen Möglichkeiten, wieder auf die Beine zu kommen".

"Es ist unmöglich, zu verstehen, welche positive Auswirkung ein solches Unterfangen für dieses Territorium haben könnte. Ich sehe nichts als eine Überbelichtung dieser Gemeinschaft, die bereits unter Schock steht. Sie werden sich in die Schule der Zoll- und Steuerpolizei einsperren - es sei denn, Berlusconi will die Staatschefs ausführen, um sich ein bißchen von unserem Elend anzusehen... eine Operation, die ein Zynismus kennzeichnet, der seinesgleichen sucht. Der Wille, die Folgen einer Naturkatastrophen von dieser Tragweite für politische Zwecke zur Schau zu stellen, ist unverschämt..."

Und die Leute, das abruzzische Volk, wie haben sie angesiichts der Aussicht auf die Beherbergung eines G8 in kurzer Zeit und in dieser Situation reagiert?

"Die Antwort der Menschen ist zweistimmig", antwortet Enrico. "Viele menschen wurden im vergangenen Monat durch die Tatsache, dass der Regierungschef häufige Präsenz gezeigt hat, an der Nase herumgeführt. Er verteilte Lächeln und Zuversichrungen, wo es in Wiklichkeit doch ganz anders ist: es wurde ein Dekret erlassen, das nichts lösen wird... Viele Leute sind der Sache auf den Leim gegangen, sowohl in Zusammenhang mit dem Dekret, als auch in Zusammenhang mit dem G8. Viele andere aber sind aufgebracht, auch weil die Situation, ich wiederhole, immer schwieriger ist, und man beginnt, zu begreifen, dass die Versprechen der ersten Tage in Wahrheit zu nichts führen".

"Das Dekret spricht eine klare Sprache: Bertolaso und der Zivilschutz: sie sind hierher gekommen, sie haben uns geholfen, und jetzt gehört das Territorium ihnen. Die übliche von oben aufgestülpte Entscheidung, ohne die geringste Berücksichtigung des Willens der Bevölkerung... Den Gedanken mit den New Towns*** haben sie nun den der auf dem gesamten Territorium 21 verteilten Wohnanlagen ersetzt. Es ist eine abstoßende Idee: die Vorstellung, dass innerhalb von 100 bis 200 Personen starken Gemeinschaften denselben Wohnungen für weitere 1000 hinzugefügt werden ist ein Irrsinn... Da ist selbst der Gedanke einer New Town besser, wobei er eine Perspektive bleibt, gegen die man sich entschieden wehren sollte".

Für jene, die wie Enrico und die Aktivisten seit Jahren im Territorium arbeiten, sind die Schaffung von Gegenöffentlichkeit und die Verdeutlichung der vielen in dieser Geschichte vorhandenen Widersprüche (die Tatsache, dass die Anzeichen für das bevorstehende Beben ignoriert wurden, die Bauspekulationen, die hinter einer großen Zahl der Einstürze stecken, die Zweifel bezüglich des Wiederaufbaus, bis zum Dekret über den selben und die Verlegung des G8 nach L' Aquila) der einzige gangbare Weg. Ist es denn einfach, eine solche Art von Tätigkeit in einem derart komplexen Kontext zu betreiben und das, gerade von einer derart betroffenen Gemeinschaft ausgehend?

"Bezüglich der für Gegenöffentlichkeit nutzbaren Räume ist die Situation sehr variabel. An manchen Tagen scheint jede Form des Dialogs und der Analyse unmöglich, an anderen eröffnen sich bedeutende Lichtblicke. Heute (Sonntag, die Redaktion) ist eine wichtige Vollversammlung mit zahlreichen aquilanischen Zusammenhängen: man wird über Vorschläge bezüglich des G8 diskutieren und sich mit den verschiedenen Positionen zu dem, was geschieht, auseinandersetzen. Abgesehen von dem, was grundsätzlich die Positionierung des aquilanischen Initiativwesens sein wird, denke ich, dass man die Entscheidungen bezüglich des G8 in anderen Zusammenhängen treffen wird. Zusammenfassend: wir versuchen, mit unsere Arbeit fortzufahren: wir stellen uns vor, dass wir ein Papier verfassen und eine landesweite, in Rom zwischen Ende Mai und Anfang Juni abzuhaltende Demo zu organisieren, um uns dem Dekret zu widersetzen. Leider warehn auch wir gezwungen, dem Notstand zu folgen, und mit dem Unmittelbaren umzugehen, auch wenn wir, als Spazio Libero 5, als Epicentro Solidale und als Patto di Base über diese Phase hinaus wollen: unser Ziel ist es, eine Reihe Demokratieabschnitte ins Innere dieses Szenarios einzukerben. Um Legitimität zu gewinnen, haben wir mit am Unmittelbaren arbeiten müssen. Jetzt wollen wir einen weiteren Schritt vorschlagen, eine Reihe von Papieren produzieren und an etwas bedeutenderes arbeiten, angefangen bei der Demonstration in Rom".

A.d.Ü.

* "Territorio" wird gängigerweise, aber unkritisch, mit "Gebiet" oder "Land" überetzt. Weil diese Lösung die wichtige mit dem Gedanken der sozialen Selbstbestimmung in einem angestammten und sedimentierte Lebensraum verknüpfte Bedutungskomponente völlig ausblendet, wird hier der Begriff "Territorium" vorgezogen.

** Es ist ein Drama im Drama: während der Zivilschutz spätestens seit der populistischen Vereinnahmung des Müllnotstands in Neapel ganz offensichtlich von institutioneller Seite immer stärker als Vektor von Strategien der Territorialkontrolle- und abschirmung missbraucht wird, sind etliche der Freiwilligen, die in der Organisation ihre Dienste leisten Personen, die sich recht aufrichtig allein dem Gedanken der Hilfeleistung in Not- und Krisensituationen verbunden fühlen.

*** Berlusconi hatte anfänglich auf die Errichtung einer neuen Stadt unweit von L'Aquila gedrängt

Source: http://www.radiocittaperta.it/index.php?option=com_content&task=view&id=1249&Itemid=9