Rostock (RPO). Mehr als 1000 Verletzte, aufgerissene Bürgersteige und ausgebrannte Autos - das ist die schockierende Bilanz der brutalen Krawalle am Rande der G-8-Proteste gestern in Rostock. Aus Polizeikreisen verlautete am Sonntag, man habe die autonome Szene völlig unterschätzt.
Ein hoher Vertreter des Verfassungsschutzes verwies gegenüber der Nachrichtenagentur ddp darauf, dass die linken Autonomen die “Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele auch gegen Personen für legitim” hielten. Im Verfassungsschutzbericht wird das bevorzugte Mittel der Autonomen aufgezeigt: Die “Massenmilitanz” - Straßenkrawalle, die sich im Rahmen von Demonstrationen oder im Anschluss daran entwickeln. “Genau dieses Prinzip haben die Vermummten in Rostock praktiziert”, sagte ein Polizeibeamter.
Die Geheimdienste sind “äußerst besorgt” darüber, dass sich “konkrete Verbindungen” der Autonomen zu früheren Terroristen der RAF zeigen. “Wir wissen, dass es da Beziehungen gibt”, ließ der Präsident des baden-württembergischen Verfassungsschutzes, Johannes Schmalzl, am Sonntag wissen. Er verwies in diesem Zusammenhang auf den inhaftierten ehemaligen RAF-Terroristen Christian Klar.
Die Debatte um eine vorzeitige Freilassung Klars habe manche in der linksextremistischen Szene nach einer gewissen Zersplitterung wieder näher zueinander gebracht.
Vermummte Straßenkämpfer
Randalierer wie der schwarze Block in Rostock sind deshalb so gefährlich, weil sie sich in der friedlichen Menge der Demonstranten unbemerkt bewegen, blitzschnell ihre Mützen überziehen, zuschlagen und genauso schnell wieder verschwinden.
Die Autonomen, die sich als “Straßenkämpfer” fühlen, haben im Gegensatz zur früheren Roten Armee Fraktion (RAF) keine feste Kommandoebene, von der ihre Aktionen bundesweit gesteuert werden könnten. Die autonome Szene wird auf rund 6000 Personen geschätzt. Sie besteht nach den Untersuchungen der Experten aus vielen Splittergruppen, die in alternativen Buchläden oder Kneipen “individuell” ihre Strategien besprechen. In einem Szenenblatt hieß es: “Wir sind nicht grundsätzlich gegen das Töten von Menschen aus politischen Motiven”.
Die Autonomen sind nach den Erkenntnissen der Verfassungsschützer durchschnittlich zwischen 18 und 28 Jahre alt. Sie sind Schüler, Studenten und Auszubildende, die meist in der Ausbildung gescheitert sind. Viele Autonome sind arbeitslos, jobben nur gelegentlich oder beziehen “Staatsknete”. Zur Agitation und Mobilisierung für ihre Aktionen setzen die Autonomen moderne Kommunikationstechniken ein. In Untergrundblättern werden detaillierte Anleitungen zum Umgang mit Sprengstoff gegeben. In der Szene-Zeitschrift “Der Wurfanker” wurde beispielsweise genau beschrieben, wie Anschläge auf Bahnlinien ausgeführt werden sollen.
Frage der Verantwortung
Einen Tag nach den Straßenschlachten in Rostock hat auch die Suche nach den Verantwortlichen für die Eskalation der zunächst friedlichen Demonstration begonnen. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein erhob schwere Vorwürfe gegen die Organisatoren und forderte ein härteres Vorgehen der Polizei. “Zehntausende Menschen sind nach Rostock gekommen, um friedlich zu demonstrieren. Auch zu ihrem Schutz hätte man schärfere Vorkontrollen durchführen müssen, sagte der CSU-Politiker dem “Münchner Merkur” zufolge.
Die Organisatoren der Demonstation seien mitverantwortlich für die Eskalation, erklärte er. “Attac muss an seine Anhänger appellieren, Gewalttäter anzuzeigen. Wer das nicht tut, trägt eine moralische Mitschuld an den Gewalttaten”, wird Beckstein zitiert. Prominente Attac-Vertreter wie Heiner Geißler sollten die Konsequenzen ziehen und aus der Organisation austreten, forderte er.
Attac distanziert sich von Randalierern
Das globalisierungskritische Netzwerk Attac distanzierte sich am Sonntag auch von der gewaltbereiten Autonomenszene. “Wir wollen euch nicht mehr sehen”, erklärte Attac-Sprecher Peter Wahl am Sonntag im Fernsehsender n-tv in Richtung Autonome. “Die haben mit uns nichts zu tun”, sagte er. Nach seinen Erkenntnissen handelt es sich bei dem so genannten schwarzen Block der Autonomen “um eine Gruppe von Personen, die mit der Absicht, Krawall zu machen, angereist ist”. Attac war Mitveranstalter der Demonstration.
Die Linkspartei erhob schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitsbehörden. “Wir bedauern, dass auf der Kundgebung genau die Bilder provoziert wurden und entstanden sind, die die Bundesregierung und ihre Einsatzkräfte zur Legitimation ihrer wochenlangen Repressions-Kampagne gegen G-8-Kritikerinnen und -Kritiker brauchte”, sagte die Linkspartei-Vizevorsitzende Katina Schubert am Sonntag in Berlin. Die Polizei habe nicht auf Deeskalation gesetzt.
Auf vereinzelte Provokationen habe die Polizei “völlig unangemessen reagiert” und damit die Situation eskalieren lassen, kritisierten auch Linkspartei-Vize Katja Kipping, Vorstandsmitglied Wolfgang Gehrcke sowie die WASG-Geschäftsführerin Christine Buchholz. “Die Bundesregierung trägt in hohem Maße Verantwortung für die Eskalation”, heißt es in der gemeinsamen Erklärung.
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD) hat die gewalttätigen Ausschreitungen bei den G8-Demonstrationen am Samstag in Rostock scharf verurteilt. Die gewalttätigen Autonomen hätten dem Anliegen der friedlichen Globalisierungskritiker einen Bärendienst erwiesen, sagte Ringstorff am Sonntag in Schwerin. Offensichtlich seien einige nicht wegen des Protestes gegen den G-8-Gipfel, sondern mit dem Vorsatz angereist, Straftaten zu verüben. Die Gewalttäter hätten es in Kauf genommen, dass Polizeibeamte zum Teil schwer verletzt und friedliche Demonstranten gefährdet worden seien.
Polizei rechtfertigt Einsatz
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sieht die scharfen Sicherheitsvorkehrungen zum G-8-Gipfel durch die gewalttätigen Ausschreitungen von Autonomen in Rostock bestätigt. “Das ist eine neue Qualität der Gewalt, die fassungslos macht”, sagte der GdP-Bundesvorsitzende Konrad Freiberg am Sonntag in Berlin. Die “Explosion der Gewalt” und die große Zahl der angereisten Straftäter bei der Anti-G-8-Demonstration am Samstag hätten die Einschätzung der Polizei und die polizeilichen Maßnahmen im Vorfeld des G-8-Gipfels bestätigt.
Die Ereignisse zeigen aus Sicht der GdP, dass die angereisten Gewalttäter an einem friedlichen Verlauf der Demonstrationen nicht interessiert seien, “egal, wie sich die Polizei verhält”. Absprachen mit den Veranstaltern kümmerten sie nicht, betonte Freiberg. Die hohe Zahl von zum Teil sehr schwer verletzten Einsatzkräften sei nicht hinnehmbar.
Freiberg forderte Politik und Öffentlichkeit zur Zurückhaltung bei der Bewertung des Vorgehens der Polizei auf. Die Polizei müsse ihre Einsatzmaßnahmen so wählen können, dass Leben und Gesundheit der Beamten nicht gefährdet seien. “Unsere Kolleginnen und Kollegen sind es, die im Steinhagel stehen, mit Feuerwerkskörpern beschossen und sogar mit Messern verletzt werden.” Ausgerechnet sie für einen unfriedlichen Verlauf der Demonstrationen zu kritisieren, sei “absurd”, sagte der GdP-Chef.