03. Juni 2007
Friedliche Demonstranten ärgern sich, dass ihre Anliegen kriminalisiert werden. Unbeteiligte rätseln, warum es zu plötzlichen Gewaltausbrüchen wie in Rostock kommt. Es geht um Rituale, nicht um Inhalte, sagt der Soziologe Wolfgang Sofsky im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Herr Sofsky, wofür steht der Zaun in Heiligendamm?
Der Zaun steht für die Angst der Macht. Er trennt zwei Welten: die Welt des Gipfels und die Alltagswelt. Hinter dem Stahlgitter hat sich die unsichere Macht selbst eingeschlossen.
Warum fliegen bei solchen Gipfeln immer Steine und Flaschen?
Da vollzieht sich ein rituelles Duell zwischen dem schwarzen Mob und der Staatsmacht. Die Angreifer tun so, als sei Weltrevolution. Aber es ist nur ein rituelles Spiel. Wir beobachten Tumult, Enthemmung und Vergemeinschaftung jenseits der Normen des Alltags.
Mit der Globalisierung, der Armut oder dem Schutz der Umwelt hat das alles nicht zu tun?
Nein, das ist nicht das Thema, auch wenn die tätliche Propaganda der Gruppen zeigen soll, dass sie sich für die hehren Ziele sogar mit dem eigenen Körper einsetzen. Aber die Gewaltaktion ist purer Selbstzweck. Während der Aktion verflüchtigen sich alle Ziele sofort.
Wenn Protestierer sich zur Gewalt entschließen, ist das eine rationale Entscheidung oder der pure Affekt?
Spontan ist das natürlich nicht. Seit Wochen wird das Gelände ausgekundschaftet. Veteranen werden konsultiert, Netzwerke aktiviert und Kader trainiert. Die Aktivisten versuchen, sich auf die Gegentaktik der Polizei einzustellen.
Geht es dabei eher modern oder eher archaisch zu?
Beides. Es werden elementare Emotionen freigesetzt: Zorn, Aktionslust, Thrill. Die Aktivisten, die im Alltag politisch völlig bedeutungslos sind, freuen sich ungemein, dass sie auf einmal die Mächtigsten der Welt ärgern können.
Eine verkehrte Welt?
Ja. Das Spiel erinnert an einen robusten Karneval. Die Macht wird nicht in einem Triumphzug gefeiert, sie wird ausgepfiffen, geschmäht und soll vertrieben werden. Denken Sie an die Pläne der Protestierer, die Zugangswege nach Heiligendamm zu blockieren.
Vermummung gehört auch zum Karneval.
Man wechselt die Rollen. Der maskierte Mob spielt eine moralische Übermacht. Er provoziert den Staat und animiert ihn zu unverhältnismäßigen Reaktionen, mit denen er sich selbst ins Unrecht setzen soll. Die Polizei kann machen, was sie will, sie hat immer schon verloren. Die Sympathie der Öffentlichkeit liegt, so die Strategie, bei den kleinen Davids.
Was ist ein Ritus?
Riten regeln Übergänge und befristete soziale Ausnahmezustände. Sie weisen häufig Zwischenphasen der Gemeinschaft, des Festes, der Ausschweifung, des Tumults auf. Manchmal wird es sogar blutig. Schließlich kehrt man wieder in den Alltag zurück und beobachtet abends stolz vor dem Fernseher, wie “heiß” es diesmal wieder zugegangen ist.
Wer sind die Gegner der Protestierer - die G-8-Staatsleute oder die Polizei?
Der Gegner ist die Staatsmacht, verkörpert durch die Polizei. Das sind hochdisziplinierte Verbände, die nach Befehl und Gehorsam operieren. Das Hauptproblem der Polizei ist die Aufrechterhaltung der Disziplin . . .
. . . und wenn das nicht gelingt?
Dann kommt es zu Übergriffen, Prügelorgien oder willkürlichen Massenfestnahmen durch die Polizisten. Die Sorge der Vorgesetzten gilt auch der Kontrolle der eigenen Leute.
Was kann man tun?
Die Kontrolle innerhalb der Gruppe ist wichtig und die Selbstbeherrschung der Polizisten. Aber Sie wissen nie, ob das nicht entgleitet. Da muss nur ein Kollege blutend am Boden liegen, dann sinnen seine Freunde auf Rache.
Ist Gewalt eine reine Männerangelegenheit?
Ich bin nicht sicher. Gewiss hat dieses Ritual etwas archaisch Männliches. Wir sehen Mutproben, Scharmützel, Heldentaten vor den Mitkämpfern, alles Beweise, dass man eben ein richtiger Mann ist.
Müssen wir mit der Gewalt leben?
Ich glaube schon. Die Gewalt der “Autonomen” ist ja nur ein Teil der Gefahr. Wesentlich ernster muss man mögliche islamistische Attentäter nehmen. Die Möchtegern-Revolutionäre im eigenen Land gehören offenbar zum Leben, genauso wie die Hooligans.
Da geht es immer um das Gleiche?
Es geht um Action. Aber die Gewaltformen unterscheiden sich. Hooligans prügeln brutal, zunächst einander, dann auch die Polizei. Bei den Autonomen wird mehr geworfen, gezündelt und gelaufen. Mit einem gewissen Potential von Gewaltbereitschaft junger Männer muss jede Gesellschaft umgehen, solange sie ihren Nachwuchs nicht in den Krieg schicken will.
Das Gespräch führten Anna von Münchhausen und Rainer Hank.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03.06.2007, Nr. 22 / Seite 30