Kommentar von Michael Braun
Da erklärt ein hochrangiger italienischer Polizist, beim Sturm auf die Scuola Diaz hätten „dämonische“ Staatsdiener systematisch unschuldige Gegner des G-8-Gipfels zusammengeschlagen und verhaftet.
Vincenzo Canterini hätte den Mut, den er mit seiner schonungslosen Erzählung der Vorgänge jener blutigen Nacht aufbringt, schon früher zeigen können: bei jenem Prozess, bei dem er ebenso hartnäckig schwieg wie die meisten angeklagten und am Ende verurteilten Polizeichefs. Für die juristische Aufarbeitung kommen seine Einlassungen zu spät. Keineswegs zu spät wäre es jedoch für die politische Aufarbeitung.
Doch es scheint, als interessiere das in Italien niemanden wirklich – keine der großen Zeitungen, kein einziger bekannter Politiker reagierte bisher auf Canterinis Anklagen. Und diese Lustlosigkeit ist nicht bloß Privileg der italienischen Rechten, die unter Silvio Berlusconi im Jahr 2001 regierte. Auch als die Linke unter Romano Prodi im Jahr 2006 die Wahlen gewann, fand sich keine parlamentarische Mehrheit für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.
Gerade Italiens Polizeiführung nämlich konnte immer auf allzu großes Verständnis bei der gemäßigten Linken zählen: So gut wie alle seinerzeit in Genua agierenden Spitzenbeamten waren unter den Linksregierungen der Neunzigerjahre in die Schlüsselpositionen gelangt. Die Frage, wie es zu diesem einer Diktatur würdigen Einsatz kommen konnte, trat – und tritt weiterhin – zurück gegenüber der Frage, wem die eventuelle Aufklärung schaden könnte. Im Hintergrund stand die Hoffnung, dass der Prozess bald vergessen, dass dann Gras über die Sache wachsen werde.
Und trotz der Urteile gegen 16 Spitzenpolizisten vor vier Wochen scheint sich zumindest der zweite Teil dieser Hoffnung zu erfüllen. Zwar brach Canterini sein Schweigen – doch das Land behandelt weiterhin den von vorn bis hinten völlig rechtswidrigen Sturm auf die Scuola Diaz als vernachlässigenswerte Petitesse.
Source: http://www.taz.de/Kommentar-Polizeiskandal-in-Genua/!98752/