Gegen Demonstranten und Demonstrantinnen wurden wegen der Auseinandersetzungen in Genua im Jahr 2001 harte Urteile gefällt – auf der Grundlage eines Gesetzes aus dem faschistischen Strafkodex Rocco.
von Catrin Dingler
Via Internet unterzeichneten weltweit 30 000 Menschen den Aufruf »10 x 100«. Doch als am Freitag vergangener Woche Italiens Oberster Gerichtshof darüber entschied, ob zehn Personen, die im Juli 2001 an den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua teilgenommen hatten, zu insgesamt 100 Jahren Gefängnis verurteilt werden, versammelten sich nur wenige Mitglieder der Kampagne »Genua ist nicht vorbei: Zehn, keiner, dreihunderttausend« auf der weitläufigen Piazza Cavour in Rom. Zu wenige, um im Straßenlärm mit der Forderung »Freiheit für alle« durchzudringen, zu wenige, um am frühen Abend den Verkehr aufzuhalten, als das Kassationsgericht das Urteil verkündete. Alle Angeklagten wurden der »Plünderung und Verwüstung« für schuldig befunden. In fünf Fällen verhängte das Gericht Haftstrafen zwischen sechs und 15 Jahren, wobei drei Angeklagten ein minimaler Strafnachlass von neun Monaten gewährt wurde. In den fünf übrigen Fällen wurde dem Antrag der Verteidiger stattgegeben, von einem Revisionsgericht strafmildernde Umstände prüfen zu lassen.
Der Straftatbestand der »Plünderung und Verwüstung« entstammt dem faschistischen Strafkodex Rocco. Er wurde in den dreißiger Jahren durch den gleichnamigen Justizminister des Mussolini-Regimes eingeführt und nach dem Krieg in das republikanische Strafrecht übernommen.
Anders als die Bezeichnung vermuten lässt, war das Gesetz von Anfang an nicht nur für Kriegssituationen bestimmt, sondern sollte auch bei Straftaten gegen die öffentliche Ordnung zur Anwendung kommen. Dabei bleibt es der Willkür des Richters überlassen, Sachbeschädigungen oder Brandstiftungen den Charakter einer »Verwüstung« zuzusprechen und Einzelne für Vorkommnisse verantwortlich zu machen, die ihrer Dimension nach nur von einer Vielzahl von Menschen verursacht werden können. Diese Widersprüche prägen auch das Urteil gegen die wegen der G8-Proteste Angeklagten: Aufgrund von Bildmaterial, das sie in der Nähe eingeschlagener Fensterscheiben oder brennender Müllcontainer zeigt, werden sie beschuldigt, an den Krawallen in der Via Tolemaide bewusst mitgewirkt oder sie zumindest »moralisch unterstützt« zu haben.
Es bestand von Anfang an wenig Hoffnung, dass die Verurteilungen aufgrund des so vagen wie schwerwiegenden Straftatbestands aufgehoben würden. Nachdem das Kassationsgericht genau eine Woche zuvor die Urteile gegen 25 führende Polizeikräfte wegen des Überfalls auf die Diaz-Schule bestätigt hatte, befürchteten viele, die obersten Richter würden nun auch das Urteil gegen die zehn angeklagten Protestierenden bestätigen. Schließlich dient die Behauptung, dass sich in Genua 2001 zwei Fronten in einer symmetrischen, kriegerischen Ausnahmesituation gegenübergestanden hätten, seit nunmehr elf Jahren dazu, den brutalen Polizeieinsatz gegen vermeintlich ebenso gewalttätige Demonstranten zu rechtfertigen.
Doch während den G8-Angeklagten tatsächlich nur Sachbeschädigung vorgeworfen werden kann, wurden bei dem Angriff auf die zum Schlaflager umfunktionierte Diaz-Schule 63 Personen schwer misshandelt und teilweise lebensgefährlich verletzt. Auch damals war den Angegriffenen die Absicht zur »Plünderung und Verwüstung« unterstellt worden, um den Polizeieinsatz zu rechtfertigen. Doch schon in erster Instanz konnte das Gericht aufklären, dass die Polizeikräfte selbst die beschlagnahmten Molotowcocktails in der Schule deponiert und einen Messerangriff auf einen ihrer Kollegen inszeniert hatten. Anfang Juli bestätigte das Kassationsgericht die vorausgegangenen Schuldsprüche gegen die Einsatzleitung. Aufgrund von Verjährungsfristen und allgemeinen Strafnachlassregelungen muss keiner der verurteilten Polizeibeamten, die der Körperverletzung, Verleumdung und Falschaussage im Amt überführt sind, in Haft. Die Reststrafen dürfen durch gemeinnützige Arbeit abgegolten werden. Allerdings griff mit der letztinstanzlichen Verurteilung auch die Zusatzstrafe, wonach die seit Genua trotz laufender Ermittlungen mehrfach ausgezeichneten und beförderten Beamten ihre Führungspositionen aufgeben müssen und für fünf Jahre keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden dürfen.
Beispielhaft für die mit Hilfe der Politik verweigerte Aufarbeitung des Polizeieinsatzes in Genua steht Gianni De Gennaro, der im Juli 2001 das Amt des Polizeichefs innehatte und erst vor wenigen Monaten vom Vorwurf der Anstiftung zur Falschaussage im Diaz-Prozess freigesprochen wurde. Er blieb bis 2007 Polizeichef, wurde in den darauffolgenden Jahren von den wechselnden Regierungsmehrheiten in Rom mit verschiedensten Führungsaufgaben betraut und ist derzeit als Staatssekretär für den Geheimdienst zuständig. De Gennaro bekundete nach dem Kassationsurteil Mitleid mit seinen ehemaligen Kollegen. Tatsächlich sind die entlassenen Beamten, die den Überfall auf die Diaz-Schule leiteten, die einzigen, die persönliche Konsequenzen für ihr Verhalten zu tragen haben. Die 400 Beamten, die den Einsatz ausführten und auf die schlafenden Demonstrantinnen und Demonstranten einknüppelten, blieben ungestraft. Der Carabiniere Mario Placanica wurde vom Vorwurf des Mordes an Carlo Giuliani freigesprochen, weil ihm zugestanden wurde, den jungen Demonstranten »in Notwehr« erschossen zu haben. Und die Beamten, die wegen Misshandlungen von G8-Gegnern in der Polizeikaserne Bolzaneto verurteilt wurden, mussten ihre Strafen wegen Verjährung nicht antreten. Keiner der damals zuständigen Minister wurde wegen seiner politischen Verantwortung zur Rechenschaft gezogen, selbst linksliberale Politiker verhinderten später die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Gianfranco Fini, der 2001 Außenminister war und sich als postfaschistischer Hardliner in der Einsatzzentrale im Polizeipräsidium von Genua aufhielt, gilt inzwischen als geläuterter demokratischer Parlamentspräsident, obwohl er sich bis heute über seine damalige Rolle ausschweigt. Polizeilicher Korpsgeist und politische Komplizenschaft über alle Lager hinweg sorgten dafür, dass lebensgefährliche Polizeiübergriffe ungestraft blieben und sich jederzeit wiederholen können. Denn weder wurde in den vergangenen elf Jahren die Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte durchgesetzt noch ein Folterverbot eingeführt, das die Verjährung solcher verbrecherischer Polizeipraktiken unmöglich machen würde.
Andererseits wird in den vergangenen Jahren immer häufiger auf jenen Paragraphen 419 der faschistischen Strafordnung zurückgegriffen, mit dem eine einfache Sachbeschädigung zur staatsfeindlichen Aktion erklärt werden kann. Die blutige Repression in Genua hat 2001 eine wachsende antagonistische Bewegung jäh gestoppt und zerschlagen. Mit der exemplarischen Verurteilung von zehn ehemaligen Aktivistinnen und Aktivsten scheint die Drohung ausgesprochen, politischen und sozialen Protest zukünftig zur »Plünderung und Verwüstung« zu deklarieren und zwecks Abschreckung mit hohen Haftstrafen zu belegen. Die empörten und wütenden Reaktionen auf die Urteile, die in den sozialen Medien veröffentlicht wurden, lassen erahnen, dass die verhinderte politische Auseinandersetzung bereits in den für den Herbst angekündigten Protesten wieder beginnen könnte.
Source: http://jungle-world.com/artikel/2012/29/45895.html