http://de.indymedia.org/2007/06/185734.shtml
Die Zeit um die Gipfelproteste um Heiligendamm war geprägt von einem Medienhype, der uns die fantastischsten Dinge vermitteln sollte. Clowns greifen Polizisten mit Säure und Einwegspritzen an, der ominöse schwarze Block taucht zufällig immer dann auf, wenn die Bullen prügeln und Menschen bewaffnen sich mit Mollies und Wurfgeschossen, die mit Rasierklingen und Nägeln gespickt sind. Der Medienmaschinerie ist nichts zu schade, um den legitimen Widerstand gegen die Politik der G8 zu diffamieren. Hier eine Sammlung einiger Lügen, die den Weg in die Medien fanden oder dort entstanden.
Einige der folgenden Lügen sind inzwischen in manchem Medien korrigiert worden. Dennoch haben sie ihre Funktion erfüllt. Denn während die Falschmeldungen die großen Schlagzeilen beherrschten, mit denen ein verzerrtes Bild der Proteste vermittelt wurde, finden die Korrekturen kaum noch Beachtung. Es ist inzwischen offenkundig, dass die Polizei während der Gipfelproteste Falschmeldungen verbreitet hat, die von den Medien meist unkritisch übernommen wurden. Doch ist diese Tatsache nicht mehr wichtig: Ein Dementi oder eine Korrektur ist schnell gemacht, der Eindruck der Falschmeldung aber bleibt.
“Lasst uns den Krieg in diese Demo tragen”
Nach den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DemonstrantInnen am Samstag waren die Medien geprägt von der Gewaltdebatte. Der “schwarze Block” und “die Autonomen” mauserten sich einmal mehr zum undurchschaubaren Schreckgespenst und Buhmann. Die Frage, wer für die Ausschreitungen verantwortlich war, war so schnell beantwortet. Doch als ob die unkritische Übernahme von Polizeimeldungen nicht genug wäre, mussten weitere Manipulationen erfunden werden, um die Proteste zu diskreditieren.
Am Samstag um 18.41 Uhr heißt es in einer dpa-Meldung zur Rede des philippinischen Soziologieprofessors und Trägers des alternativen Nobelpreises, Walden Bello:
Um 17.30 Uhr werden die ersten Autos angezündet, während unweit vom Tatort auf der Kundgebungsbühne ein Redner die militante Szene noch mit klaren Worten aufstachelt: „Wir müssen den Krieg in diese Demonstration reintragen. Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts.”
Zum Zeitpunkt seiner Rede war die Polizei dabei, die Menge mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas auseinanderzutreiben. Für die Presseagentur war klar: Hier werden die “autonomen Randalierer” von der Bühne aus aufgehetzt. So begann die Meldung ihren Weg durch die großen Medien (BILD, Spiegel Online, Stuttgarter Nachrichten, n-tv.de).
Was aber hatte Walden Bello gesagt? Anhand von Videoaufnahmen, die auch bei Phoenix und im ZDF ausgestrahlt wurden, lässt sich dies leicht nachvollziehen:
Two years ago they said: “Do not bring the war into the discussions. Just fucus on poverty reduction.”, when we say: We have to bring the war right into this meeting. Because without peace there can be no justice. In other words: Let us raise the cry “The United States and Britain out of Iraq!”. Let us raise the cry: “NATO out of Afganistan!”.
Auch wenn die deutsche Übersetzung während der Demo Fehler enthielt, fand sich auch dort nichts, was eine Meldung wie die der dpa rechtfertigen würde. Dort hieß es:
Vor zwei Jahren hat es geheißen wir sollen den Krieg nicht in die Diskussionen mit reinbringen, wir sollen uns nur auf Armutsbekämpfung konzentrieren. Aber ich sage wir müssen den Krieg hier mit reinbringen, denn ohne Frieden kann es auch keine Armutsbekämpfung geben. Lasst den Ruf ertönen: USA raus aus Irak, USA raus aus Afghanistan!
Am Sonntag Nachmittag, fast einen Tag nach der Falschmeldung, reagierte die dpa dann auf eine Presseerklärung von Attac, behielt den Fehler aber im Grunde genommen bei. In der Agenturmeldung von 15.59 Uhr hieß es:
Der Aufruf zum “Krieg”, mit dem ein Redner während der Krawalle am Samstag in Rostock die militante Szene angestachelt hatte, war nach Darstellung der Protest-Organisatoren ein Übersetzungsfehler. Der zitierte Redner Walden Bello habe in seiner englischsprachigen Rede dazu aufrufen wollen, gegen den Krieg im Irak zu protestieren, teilte die globalisierungskritische Organisation Attac am Sonntag mit. In der deutschen Übersetzung wurde daraus: “Wir müssen den Krieg in diese Demonstration reintragen. Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts.”
Wie sich leicht nachprüfen lässt, ist auch diese Aussage falsch. Die Sätze Bellos wurden nicht in dieser Form übersetzt. Auf den Websites einiger Zeitungen ist der Fehler bis heute nicht korrigiert worden. Und auch dort, wo dies geschah, ist der Zweck trotzdem erreicht worden: Es sind die sich überschlagenden Meldungen im Medienhype, die hängenbleiben, nicht der Korrekturen, die einige Tage später (wenn überhaupt und häufig an wenig prominenten Stellen) veröffentlicht werden.
Mehr: Video bei Spiegel Online, Chronologie einer Falschmeldung
Manipulierte Verletztenzahlen der Polizei
Nach den Straßenschlachten von Mittwoch, die es sogar schafften, in einem Boulevardblatt mit dem letzten Libanonkrieg verglichen zu werden, machte eine Meldung von über 400 verletzten Polizeibeamten die Runde, davon 30 bis 41 schwer. Einige Tage später relativierte sich diese Zahl: Recherchen der Tageszeitung junge Welt ergaben, dass sich am Dienstag noch ein Polizeibeamter in stationärer Behandlung befand. “Ein weiterer war bereits am Vortag entlassen worden. Bis auf diese beiden war kein einziger Polizist in ein Krankenhaus eingeliefert worden.”
“Autonome” werfen mit Rasierklingen gespickte Wurfgeschosse
Am 04.06. berichtet der Tagesspiegel davon, dass von Demonstrierenden “Früchte und andere weiche Wurfgeschosse eingesetzt” worden wären, “die mit Rasierklingen und den Klingen von Tapeziermessern gespickt waren” zitiert die Zeitung einen “hochrangigen Sicherheitsexperten”. “Bei mehreren Beamten sei beim Aufprall dieser präparierten Geschosse die Uniform durchtrennt worden.” Es ist an Adsurdität kaum zu überbieten, eine solche Meldung in einer halbwegs seriösen Zeitung zu veröffentlichen, doch wundert nach den offenen Lügen der Polizei und der unkritischen Übernahme durch die Medien kaum noch etwas. Zumindest scheint diese Falschmeldung nicht die große Runde gemacht zu haben.
Migrationsdemo: Vermummte als Grund für Polizeischikanen und Demoverbot
An der Demonstration des Migrationsaktionstags nahmen mehrere tausend Menschen teil. Sie startete am Flüchtlingslager Satower Straße und sollte mit einer Abschlusskundgebung im Stadthafen enden. Dazu kam es jedoch nicht, weil die Polizei den Demonstrationszug stundenlang aufhielt und schließlich nicht über die angemeldetete Route durch die Innenstadt ziehen ließ. Wie kam es dazu? Glaubt man der Polizei (was große Medien und Agenturen wie z.B. Reuters, Stern, NDR, Heute, Handelsblatt und auch die taz (2) unkritisch taten), dann geschah dies mit zwei Begründungen: Angeblich habe sich eine Gruppe von 2.000 bis 2.500 Vermummten in dem Aufzug befunden (die Zahlen variieren), die Steine und Flaschen geschmissen hätten, hieß es von Seiten der Polizei einerseits. Die andere Begründung war an Lächerlichkeit kaum zu überbieten: Die Demonstration sei zu groß. Sie sei nur für 2.000 Menschen angemeldet worden, es befänden sich aber über 10.000 Menschen in der Demo. Deshalb dürfe nicht durch die Innenstadt gelaufen werden, in der nur zwei Tage zuvor 80.000 Menschen demonstriert hatten.
De facto wurde am 4. Juni das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt. Während die Organisatoren der Demonstration alles dafür taten, jeglicher Provokation aus dem Weg zu gehen (was mit erstaunlicher Disziplin innerhalb der Demo auch gelang), setzte die Polizei alles daran, die Lage zu eskalieren. Im nachhinein berichteten RAV und Legal Team, dass selbst der örtliche, von der Kavala während der Demo entmachtete, Gesamteinsatzleiter die Demonstration als nicht gewalttätig einschätzte und keine Vermummung erkennen konnte. Was aber im Gedächtnis bleibt, sind die von der Polizei lancierten Falschmeldungen der Presse.
Blockaden: Steinewerfen als Grund für Polizeigewalt
Nach den Ausschreitungen von Samstag und den erfolgreichen Blockaden der Landwege nach Heiligendamm am Mittwoch stellte sich das durch die Gewaltdebatte der Tage zuvor geprägte Bild der GipfelstürmerInnen in der Presse sehr einfach dar: Während viele Menschen friedlich (und damit legitim) demonstrieren wollten, befanden sich unter ihnen einige hundert “Gewalttäter”, die den gesamten Protest diskreditieren würden. Immer dann, wenn die Polizei mit Gewalt gegen DemonstrantInnen vorging, hatte dies einen einfachen Grund: Es waren “Vermummte”, “Autonome” oder gar der “schwarze Block” anwesend, die (grundlos) Steine und Flaschen auf die Polizei warfen und/oder sich mit Steinen und Molotovcocktails eindeckten.
So auch im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen mit der Polizei auf dem Weg zur Ostblockade bei Börgerende. Anders als bei den anderen Blockaden war dieser Marsch durch die Felder nicht ohne Hindernisse zu machen. Bei der Überquerung zweier Straßen, die vor dem Blockadeziel lagen, ging die Polizei unverzüglich brutal gegen die DemonstrantInnen vor. Schon an der ersten Straße steckten viele beim “Durchfließen” der Polizeiketten Tonfaschläge und Pfefferspray ein und sahen sich mit einem Wasserwerfer konfrontiert. Bei der zweiten Straße, die kurzzeitig besetzt wurde, schritt ohne zu zögern eine USK-Einheit aus Bayern ein und prügelte die auf der Straße sitzenden von der Straße. Dabei kam es zu Verletzungen. Ein Wasserwerfer schoß immer wieder aus nächster Nähe auf die BlockiererInnen.
In der Tagesschau (und vermutlich auch bei Anderen) wurde dann so berichtet: Während Bilder von einem Wasserwerfereinsatz ab von der Straße gezeigt werden (auch wenn ein NDR-Team beim Knüppelansatz in der Nähe war und immer wieder mit “Presse!”-Rufen aufmerksam gemacht wurde), erklärt die Stimme im Off: “Schließlich kommt es am Nachmittag doch noch zu Krawallen. Einige Demonstranten hatten mit Steinen geworfen, woraufhin die Polizei Wasserwerfer einsetzte.”
Bei der Aktion gingen keinerlei Angriffe von den DemonstrantInnen aus. Die Polizei räumte sie mit Tritten, Schlägen und Knüppeleinsatz brutal von der Straße. Die Begründung, es hätte Stein- oder Flaschenwürfe gegeben, wird in verschiedenen Medien im Zusammenhang mit Polizeigewalt wiederholt.
Agents Provocateurs sind “Autonome”
An der Blockaden des Osttores wurde am Mittwoch eine Gruppe von Zivilbeamten der Polizei aus Bremen enttarnt, die versucht hatte, DemonstrantInnen dazu aufzustacheln, die Polizei anzugreifen. Sie waren schwarz gekleidet, um später auch ja dem Bild “der Autonomen” zu entsprechen. Als sei der Einsatz solcher Agents Provocateurs nicht schon Skandal genug, setzten RTL Aktuell und ZDF Heute noch einen drauf: Sie zeigten Bilder von der erfolgreichen Enttarnung eines der bezahlten Provokateure und sagten sinngemäß, Vermummte seien von Ordnern und friedlichen Demonstranten zurückgehalten worden, als sie Steine schmeißen wollten. Dass es sich bei den “Vermummten” um Polizeibeamte handelte wird geflissentlich übergangen. Hauptsache es passt in die medial vermittelte Spaltung zwischen “friedlichen” und “gewaltbereiten” DemonstrantInnen.
Don’t believe the hype!
http://de.indymedia.org/2007/06/185734.shtml