Viele Fragen und Widersprüche
Von Marius Heuser und Ulrich Rippert
7. Juni 2007
Die Gewalttätigkeiten auf der Großdemonstration gegen den G8-Gipfel am vergangenen Samstag in Rostock haben in Politik und Medien laute Rufe nach schärferen Polizeimaßnahmen ausgelöst. Viele Kommentatoren machen die Demonstranten und Organisatoren der Veranstaltung für die Ausschreitungen verantwortlich und rechtfertigen rückwirkend die vorangegangenen Einschränkungen des Demonstrationsrechts und der Versammlungsfreiheit.
So schreibt Reinhard Mohr auf Spiegel-Online, in seinen Augen seien eindeutig die Demonstranten für die Krawalle verantwortlich, weil sie sich nicht ausreichend von den Autonomen abgegrenzt hätten. Wer die gewählten Regierungschefs und G8-Teilnehmer "als Gangster und Verbrecher" bezeichne, müsse sich über Gewalt nicht wundern. Das schreibt ausgerechnet einer, der seine journalistische Karriere als Redakteur des Frankfurter Sponti-Hefts Pflasterstrand begann und die damaligen Straßenschlachten von Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit rechtfertigte.
Aber auch Michael Bauchmüller von der Süddeutschen Zeitung zieht eine direkte Linie von den brennenden Autos und maskierten Steinewerfern zu einer politischen Perspektive, die die bestehende Gesellschaftsordnung in Frage stellt. "All jene aber, die mit der G 8 das ganze System über den Haufen werfen wollen, [...] sollten in den nächsten Tagen zu Hause bleiben. Sie tragen Unfrieden in eine Welt, die gerade um eine bessere Zukunft ringt."
Die Straßenschlacht-Bilder und die Meldung von tausend Verletzten, darunter 430 Polizisten, gingen rund um die Welt und wurden eilfertig benutzt, jede grundlegende Kritik am Kapitalismus zu kriminalisieren. (Mittlerweile hat dpa allerdings gemeldet, dass von den 400 verwundeten und 30 schwer verwundeten Polizeibeamten lediglich zwei (!) ein Krankenhaus aufgesucht haben, und dies auch nur stationär. So schwer können die Verletzungen also nicht gewesen sein.) Kaum jemand in Politik und Medien war dagegen daran interessiert, genauer zu untersuchen, was in Rostock wirklich stattgefunden hat.
Fakt ist, dass die Demonstration sehr friedlich begann und mehrere Stunden lang, bis kurz vor dem Eintreffen auf dem Kundgebungsplatz am Hafen, eine Art Volksfest-Charakter mit Musik- und Kulturgruppen hatte. Die Demonstranten und die Organisatoren der Veranstaltung waren über das plötzliche Aufbrechen der Gewalt schockiert. Es gab vielfältige Bemühungen von Seiten der Demonstranten, beschwichtigend auf die Steinewerfer wie auch auf die Polizei einzuwirken.
Fakt ist aber auch, dass die Scharfmacher im Bundesinnenministerium - allen voran Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) - bereits seit Wochen derartige Ausschreitungen angekündigt hatten und noch am Abend der Demonstration, während die Filmberichte über brennende Autos und Straßenbarrikaden über alle Nachrichtensender liefen, eine weitere Aufrüstung der Polizei forderten. Mittlerweile schlagen CDU-Politiker den Einsatz der Spezialeinheit GSG9 auf Demonstrationen und die Ausrüstung der Polizei mit Gummigeschossen vor. Es wird nicht lange dauern, bis Schäuble einen weiteren Vorstoß unternimmt und erneut den Einsatz der Bundeswehr im Inneren fordert.
Beginnt man eine Untersuchung der Rostocker Ereignisse mit der Frage "Wem haben die Krawalle genutzt?", so sind die Demonstranten in jeder Hinsicht die negativ Betroffenen. Das Innenministerium dagegen nutzt die Ausschreitungen, um sowohl die bereits stattgefundenen Angriffe auf die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit (wie die Razzien gegen linke Organisationen und Globalisierungsgegner, deren Büros und Wohnungen Mitte Mai durchsucht wurden) im nachhinein zu rechtfertigen, als auch neue, noch weiterführende Angriffe und Polizeimaßnahmen vorzubereiten.
In diesem Zusammenhang müssen einige offensichtliche Widersprüche im Verhalten der Polizei und der staatlichen Sicherheitsbehörden untersucht werden.
Wie ist es zu erklären, dass die Polizei seit Wochen vor "autonomen Krawall- machern" warnt, aber dann auf einem der beiden Demonstrations- züge eine geschlossene Formation des "schwarzen Blocks" unbehelligt aufmarschieren kann? Warum wurde dieser "schwarze Block" nicht, wie sonst üblich, durch erfahrene Polizeieinheiten begleitet? Warum wurde ein Polizeifahrzeug demonstrativ und provokativ mitten auf dem Kundgebungsplatz abgestellt? Mehreren Augenzeugenberichten zufolge waren die Attacken einiger Mitglieder des "schwarzen Blocks" auf dieses Fahrzeug der Auslöser für das Eingreifen der Polizei. Warum wurde nicht auf die Versammlungsleitung gehört, die von der Veranstaltungsbühne aus die Einsatzkräfte mehrmals und nachdrücklich aufforderte, das Fahrzeug vom Kundgebungsplatz zu entfernen?
Warum wurden bereits während dem friedlichen Verlauf der Demonstration vor allem Fotojournalisten von Polizeieinheiten behindert und attackiert? Was gab es zu verheimlichen?
Es ist bekannt, dass staatliche Behörden seit Jahresbeginn verstärkt V-Leute in die "gewaltbereite Autonomenbewegung" eingeschleust haben. Der Spiegel nimmt in seiner Ausgabe vom 14. Mai mit folgenden Worten auf diese Entwicklung Bezug: "Anfang des Jahres erklärte das Bundesamt für Verfassungsschutz die Globalisierungskritiker zum ‚operativen Beschaffungsschwerpunkt’. Sämtliche Vorbereitungstreffen werden beobachtet, die beteiligten Gruppen durch V-Leute unterwandert."
Eine knappe Woche vor der Demonstration berichtete die Bild -Zeitung über "geheime Polizeipläne" in der Vorbereitung auf den G8-Gepfel. Als ersten Punkt eines Drei-Punkte-Plans nennt Bild : "Bereits seit Längerem eingeschleuste V-Leute des Verfassungsschutzes sollen frühzeitig Hinweise auf geplante Störaktionen geben..." (Bild vom 29. Mai 07)
Die Frage stellt sich also: Wie viele V-Leute hatten die Sicherheitskräfte unter den Mitgliedern des "Schwarzen Blocks"? Welche Informationen über Gewalttaten bekam die Einsatzleitung durch diese V-Leute, und warum wurden die Gewalttaten nicht verhindert. Waren V-Leute an Ausschreitungen beteiligt und in welchem Umfang?
Das sind Fragen, die von den Sicherheitsorganen unbedingt beantwortet werden müssen. Angesichts der hohen Zahl der Verletzten - auch unter den zum Teil sehr jungen Polizisten - muss geklärt werden, welche Rolle die V-Leute gespielt haben. Niemand sollte sagen, das Handeln von V-Leuten als Agents provocateurs sei ausgeschlossen.
Genua 2001
Die Ereignisse vom G8-Gipfel in Genua 2001 sind vielen noch in guter Erinnerung. Damals kam der junge Demonstrant Carlo Giuliani (23) ums Leben. Seine Familie und andere Opfer haben jahrelang für die Aufklärung der Umstände, die zu seinem Tod führten, kämpfen müssen. Schließlich stellte die italienische Staatsanwaltschaft fest, dass die Ausschreitungen vor allem von einem aus etwa 200 Personen bestehenden harten Kern ausgegangen waren, der zu einem beträchtlichen Teil aus getarnten Polizisten und von der Polizei angeheuerten Rechtsextremen bestand. Die Provokateure sprachen sich mit der Polizei ab, mischten sich als Anarchisten verkleidet unter die friedlichen Demonstranten und begingen von dort aus Straftaten.
Während die Randalierer von der Polizei weitestgehend unbehelligt blieben, wurden die Ausschreitungen in Genua zum Vorwand genommen, mit äußerster Brutalität gegen die Masse der Demonstranten vorzugehen. Mittlerweile ist die damalige Polizeiprovokation gut dokumentiert. Es gibt zahllose Berichte von massiver Gewalt, die von der Polizei ausging. Carlo Guiliani wurde von einem Polizisten erschossen. Besonders übel war auch der Überfall auf die Pascoli-Schule, wo hunderte Demonstranten im Schlaf überrascht und zusammengeschlagen wurden. Einige mussten anschließend auf Intensivstationen in Krankenhäusern behandelt werden.
Die Vorwände, mit denen die Polizei ihr Vorgehen gegen die Schule rechtfertigte, wurden von der Staatsanwaltschaft vollständig widerlegt. Polizisten hatten selbst Molotow-Cocktails mitgebracht, die sie später als Beweis für die Gewaltbereitschaft der Schlafenden vorlegten.
Die Behauptung, in Deutschland sei ein derart ungesetzliches Verhalten der Sicherheitskräfte nicht möglich, stimmt nicht. Bereits Ende der sechziger Jahre lieferte der V-Mann Peter Urbach Bomben und Waffen an Personen aus der Berliner APO (Außerparlamentarische Opposition), die später zu den Gründungsmitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) gehörten. Zehn Jahre später sprengte ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes ein Loch in die Außenmauer der Justizvollzugsanstalt Celle mit dem Ziel, einen Befreiungsversuch für das RAF-Mitglied Sigurd Debus vorzutäuschen und dadurch einen V-Mann in die RAF einzuschleusen.
Auch Einsätze von Polizisten als Agents provocateurs auf Demonstrationen hat es hierzulande bereits gegeben. Als im Mai 1993 Kalibergarbeiter aus Bischofferode vor dem Treuhand-Gebäude gegen die Schließung ihrer Zeche protestierten, mischten sich Polizisten als Autonome verkleidet in die Demonstration und warfen von dort aus Flaschen und Steine auf ihre Kollegen in Uniform. Als einige Arbeiter die Randalierer stoppten und der Polizei übergeben wollten, zeigte diese kein Interesse, gegen sie vorzugehen. Stattdessen schnappten sich die Beamten willkürlich Arbeiter aus der Menge und schlugen sie brutal zusammen. Auch im Zusammenhang mit den Anti-Atom-Protesten in Gorleben kam es immer wieder zu gezielten Provokationen.
Augenzeugenberichte
In diesen Zusammenhang müssen Augenzeugenberichte von Demonstranten in Rostock sehr ernst genommen werden. Auf der Internetplattform indymedia haben sich mehrere Demonstrationsteilnehmer zu Wort gemeldet und ihre Erlebnisse und Beobachtungen geschildert. In nahezu allen Berichten wird betont, dass die Demonstration zu Beginn über weite Strecken ausgesprochen ruhig und friedlich verlief. Gleichzeitig haben mehrere Demonstranten unabhängig von einander beobachtet, dass unter den Mitgliedern des "schwarzen Blocks" Teilnehmer waren, die sich von den anderen Autonomen unterschieden und in Kontakt mit den Einsatzkräften der Polizei zu stehen schienen.
So berichtet Rainer Zwanzleitner auf indymedia folgendes: "Wir waren beim Demozug, der aus Richtung Hamburger Straße kam, ziemlich an der Spitze. Als wir den Stadthafen erreichten, haben wir beobachtet, wie die vor einem Bauzaun postierten Polizisten (ca. 10-20) wie auf Kommando anfingen, sich in großer Gelassenheit die Helme aufzusetzen, Handschuhe anzuziehen, sich also einsatzfertig zu machen. Bis dahin hat es keinerlei Zwischenfälle gegeben."
Aus Angst vor einem Polizeieinsatz habe er sich mit seiner Gruppe von dieser Polizeikette entfernt und etwas weiter in Richtung Kundgebungsbühne bewegt. "Von dort konnten wir beobachten, dass die Polizisten sich in Richtung Demospitze in Bewegung setzten. Ungefähr zeitgleich stürmten mehrere Polizeieinheiten aus Richtung Innenstadt in die Demonstration, die vom Bahnhof gekommen war." Die Schlusskundgebung habe bereits begonnen und nach etwa 10 bis 15 Minuten habe ein Mitglied der Veranstaltungsleitung über Mikrofon die Polizei aufgefordert, die provokativen Einsätze zu unterlassen und sich zurückzuziehen.
Doch das Gegenteil habe stattgefunden. Ein Polizeihubschrauber habe direkt über der Kundgebungsbühne gekreist, und zwar so tief, dass der Motorlärm durch die Lautsprecheranlage über den ganzen Platz verbreitet wurde und die Veranstaltungsleitung nicht mehr zu verstehen war.
"Als es ruhiger wurde, haben wir den Kundgebungsplatz am Hafen verlassen und sind in Richtung Fußgängerzone gegangen. Was wir auf dem Weg dahin sahen, war ein einziges Polizeilager. Überall standen Einsatzfahrzeuge." Am Universitätsplatz sei erneut eine bedrohliche Situation entstanden.
"Eine Gruppe von vielleicht 20 bis 30 schwarz gekleideter Demonstranten kam auf den Platz, gefolgt von Polizeikräften. Ein Teil dieser Demonstranten blieb auf dem Platz, einige zogen in Richtung Rathaus weiter. Dann sahen wir 3 oder 4 ebenfalls schwarz gekleidete Typen, die sich aber vom üblichen Bild von ‚Autonomen’ stark unterschieden: Sie waren auffallend groß, vollkommen gleich gekleidet (dünne Nylonanoraks, gleiche Hosen und waren vermummt). Unter der dünnen Oberbekleidung konnte man Körperschutzteile erkennen. Und noch etwas war auffällig: gegen die Richtung der anderen verließen sie den Platz, voll vermummt Richtung Westen, genau in die Richtung von Polizeikräften, die gerade anrückten. Wo sie geblieben sind konnten wir nicht beobachten." (http://de.indymedia.org/2007/06/180968.shtml)
Andere Teilnehmer der Demonstration berichten, ihnen sei aufgefallen, dass von Mitgliedern des "schwarzen Blocks" politische Informationen in Form von Flugblättern und Flyern schroff zurückgewiesen wurden. "Das kenne ich nicht von autonomen Linken... Ich hatte den Eindruck, dass irgendwas mit den Leuten komisch ist, sie kamen mir nicht vor wie Linke, auch nicht wie linke Autonome," berichtet eine Demonstrantin unter dem Namen Anna Ungehorsam.
"Einsatztechnische Dummheit"
Aber nicht nur Demonstranten kritisieren das provokative Verhalten der Polizei. Im Deutschlandradio Kultur bezeichnete der Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber das Vorgehen der Beamten als "einsatztechnische Dummheit". Die Polizei sei nach einer veralteten Taktik vorgegangen und habe unverhältnismäßig reagiert, sagte Sieber.
Auf die Frage, wie die gewalttätigen Ausschreitungen entstanden seien, antwortete er: "Es ist so: Eine Eskalation bestand ja bereits, lange bevor das richtig anfing dort in Rostock. Was jeder sehen konnte, dass Polizeibeamte doch in sehr ungewöhnlicher Ausrüstung antraten, die konnte man glatt mit Marines im Irak verwechseln auf den ersten Blick."
Auf die Nachfrage des Reporters, ob er tatsächlich der Auffassung sei, die Eskalation sei von der Polizei ausgegangen, wiederholte Sieber, die Eskalation habe bereits vorher stattgefunden: "Man hat äußerste Gefährdung vorgegeben oder tatsächlich empfunden, man hat zu Sicherheitsmaßnahmen gegriffen, die weit in die Rechte von Menschen eingriffen. Das nenne ich bereits eine Eskalation, das war höchste Eskalationsstufe eigentlich überhaupt."
Die Demonstration sei anfangs friedlich gewesen. "Wir hatten zwei Beobachter vor Ort, die gaben per Telefon durch, ‚das ist eine Stimmung hier wie bei der Loveparade’", meinte Sieber. "Richtig los ging es ja eigentlich erst, als ein Polizeiwagen beschädigt wurde. Und da ist doch sehr vieles passiert, was man unter Polizeibeamten als unverhältnismäßige Reaktion bezeichnen würde."
Sieber kritisierte, dass die Sicherheitskräfte fast ausschließlich "im geschlossenen Einsatz" vorgegangen seien. Solche Personeneinsätze "im geschlossenen Verband, also als Kette, als Stoßtrupp" seien völlig veraltet und würden "ungefähr seit den 70er Jahren einfach als einsatztechnische Dummheit bezeichnet". In Rostock sei eigentlich "alles lehrbuchgerecht so gemacht worden, wie es nicht sein soll. Und die Beamten lernen das natürlich auch auf der Polizeiakademie, dass man es so nicht macht." Daher sei "dieser Einsatz von vornherein eigentlich daneben" gewesen.
Auf die nochmalige Nachfrage des überraschten Reporters, ob er wirklich der Einsatzleitung Vorwürfe mache, sagte Sieber: "Nein, das ist kein Vorwurf, das ist ja womöglich sogar auch politisch so gewollt."
Genau das ist die Frage: Waren die Ausschreitungen politisch gewollt, weil die Bilder über brennende Autos und steinewerfende Randalierer vortrefflich dazu dienen, die bereits erfolgten Angriffe auf das Demonstrationsrecht zu rechtfertigen und neue Angriffe auf demokratische Rechte vorzubereiten?
Eine Untersuchung ist notwendig, um herauszufinden, ob die Krawalle das Ergebnis eines geplanten Manövers waren, wobei V-Leute als Agents provocateurs im "schwarzen Block" auftraten, die Polizei in geschlossenen Formationen reagierte und die Einsatzleitung neben mehreren Hundert verletzten Demonstranten fast eine halbe Hundertschaft verletzter Polizeibeamter in Kauf nahm.
Wir appellieren an alle Leser, die an der Demonstration teilgenommen und wichtige, aufschlussreiche Beobachtungen gemacht haben, mit der Redaktion in Kontakt zu treten und uns ihre Information zukommen zu lassen.
[http://www.wsws.org/de/2007/jun2007/rost-j07.shtml]