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2007-06-13

jungle world: Ulrich von Klinggräff: »Wir wurden geschubst, getreten und beleidigt«

Wer hat den ersten Stein geworfen? Nach den G8-Protesten in Rostock und Heiligendamm sind Teilnehmer und Beobachter nach Hause zurückgekehrt und erzählen vom »Krieg« (Bild). Doch die Frage, wer wann und wo angefangen, provoziert und eskaliert hat, wird höchst unterschiedlich beantwortet.

Der Berliner Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff, Mitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) und der Roten Hilfe, war als Angehöriger des Legal Teams bei den Protesten dabei. Mit ihm sprachen Jonny Weckerle und Deniz Yücel.

Wie war das Legal Team während der G8-Proteste organisiert?

Es bestand aus dem Ermittlungsausschuss, der die Namen der Inhaftierten aufgenommen hat, und dem Anwaltsteam, das die einzelnen Fälle bearbeitet hat. Wir waren mehr als 100 Anwälte und Anwältinnen, darunter auch Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland. Wir waren in einem angemieteten Haus untergebracht, haben aber auch versucht, vor Ort zu sein, also bei den Demonstrationen oder den Gefangenensammelstellen.

Konnten Sie ungestört arbeiten?

Unsere Erfahrungen sind ausgesprochen schlecht. Obwohl wir frühzeitig versucht hatten, mit der Polizei organisatorische Absprachen zu treffen, und sie auf das Recht jedes Festgenommenen hingewiesen haben, sofort Kontakt zu einem Anwalt zu erhalten, war es unglaublich schwierig und teilweise unmöglich, zu den Festgenommenen vorzudringen. Die Arbeitsbedingungen in den Ge­fangenensammelstellen waren fürchterlich, so mussten die dort eingesetzten KollegInnen ihre Schriftsätze draußen auf dem Bürgersteig hockend verfassen, weil uns kein Anwaltszimmer zur Verfügung gestellt wurde. Bei Demonstrationen gab es auch körperliche Übergriffe; wir wurden geschubst, bedroht und beleidigt.

Könnte man nicht dennoch sagen, dass die Polizei insgesamt in einer eher deeskalieren­den Weise vorgegangen ist?

Die Deeskalation erfolgte nur punktuell. Insgesamt aber hat die Polizei durchgängig ein Eskalationsprogramm verfolgt. Die Behauptung, dass sie erst nach den Ausschreitungen bei der großen Demonstration in Rostock von ihrer ursprünglichen Deeskalationsstrategie abgewichen sei, halte ich für eine Propagandageschichte. Auch am 2. Juni mussten wir seitens der Polizei Eskalation pur in allen Be­reichen erleben.

Immerhin konnten sich ungehindert zwei große vermummte Blöcke bilden, auch bei der Anreise gab es kaum Kontrollen …

So lange die Demonstration noch nicht am Kundgebungsort war, hat sich die Polizei in der Tat zurückhaltend gezeigt. Aber die anschließenden Jagd- und Prügelszenen, die insbesondere die berüchtigten Berliner Einheiten geliefert haben, hatten nichts mit polizeilicher Gefahrenabwehr oder versuchten Festnahmen zu tun. Da wurde keilförmig in völlig unbeteiligte Massen gegangen und wahllos geprügelt. Die Aus­einandersetzungen hätten zu einem frühen Zeitpunkt abgebrochen oder zumindest begrenzt werden können, wenn die Polizei zurückhaltender gewesen wäre.

Ging nicht die erste Eskalation vom Schwar­zen Block aus? Selbst von Leuten aus diesem Spektrum ist zu hören, sie hätten mit der Gewalt angefangen.

Die Informationen sind widersprüchlich, aber selbst wenn es so gewesen sein sollte, würde ich an der These festhalten, dass die Polizei am Endpunkt der Demonstration auf absolute Eskalation gesetzt hat. Die viel diskutierte Frage, wer angefangen hat, finde ich im Übrigen nicht entscheidend. Und diese Eskalationspolitik wurde auch in den folgenden Tagen deutlich.

Können Sie Beispiele nennen?

Bei der Demonstration für die Rechte von MigrantInnen am Montag in Rostock, an der etwa 10 000 Leute teilnahmen, wurden nach einem insgesamt völlig friedlichen Verlauf Wasserwerfer aufgefahren. Der Einsatzleiter teilte uns verzweifelt mit, er habe Anweisung erhalten, die Demo aufzulösen. Die inhaltlich falsche und juristisch unhaltbare Begründung lautete, dass es zu viele Teilnehmer seien. Der Einsatzleiter vor Ort hat versucht, bei »Kavala«, der zentralen Einsatzleitung der Polizei, zu intervenieren und das Versammlungsrecht durchzusetzen, aber vergeblich. Die­ses Beispiel zeigt, dass es auch vernünftige Polizisten gab. Aber sie wurden regelmäßig zurückgepfiffen.

Hinzu kommt, dass die Eingriffsschwelle oft sehr niedrig war. So wurde jemand, der in der Nähe einer Gefangenensammel­stelle ein Transparent mit der Aufschrift »Free all prisoners now« im Auto hatte, wegen Aufruf zur Gefangenenbefreiung in Gewahrsam genommen, was später richter­lich gebilligt wurde. Ein Mandant von mir wurde fest­genommen, weil er am Strand vor Polizisten und Journalisten symbolisch ein wenig im Sand am Zaun gegraben hat. Ihm wurde vorgeworfen, einen Tunnel gegraben zu haben.

Dafür wurde bei der Demonstration in Rostock der massenhafte Verstoß gegen das Vermummungsverbot geduldet. Gab es da Absprachen zwischen Demoveranstaltern und Polizei?

Von Absprachen weiß ich nichts. Die Vermummung wurde anfangs wohl ge­mäß dem Opportunitätsprinzip geduldet. Der Gesetzesverstoß dürfte also gegen die mögliche Gefährdung anderer Demonstranten und das De­mons­tra­tionsrecht abgewogen worden sein.

Widerspricht das nicht Ihrer These, die Polizei habe auf »Eskalation pur« gesetzt?

Nein. Die Einsatzleiter vor Ort haben sich an einzelnen Punkten deeskalierend verhalten. Aber das waren Ausnah­men. Die Gesamtstrategie der »Kavala« hingegen war auf Eskalation ausgerich­tet.

Auch bei den Blockaden in Heiligendamm?

Dort scheint es sehr unterschiedlich abgelaufen zu sein. An den Stellen, an denen ich war, war die Polizei recht zu­rückhaltend, von Kollegen weiß ich aber, dass es andernorts zu massiver Gewaltanwendung gekommen ist.

Und Eskalation sollte man nicht verkürzt begreifen. Eskalation ist nicht nur der Einsatz von Wasserwerfern und Knüppeln, Eskalation sind auch Wanderkessel, die ständige Überwachung mit Hubschraubern oder die gezielt Falschmeldungen verbreitende Me­dien­politik der Polizei.

Wissen Sie etwas von Agents provo­cateurs?

Die Polizei hat inzwischen zugegeben, dass sie Zivilbeamte im Outfit des Schwar­zen Blocks eingesetzt hat. Bestritten wird nur, dass es sich dabei um Provokateure handelte. Aber wir haben viele Berichte, dass diese Gruppe von etwa fünf Provokateuren versucht hat, Leute zu Straftaten aufzuwiegeln.

Wird sich das auf Prozesse auswirken?

Eine unmittelbare Auswirkung erwarte ich nicht, aber ich hoffe, dass dies die öffentliche Wahrnehmung der Vorgänge in Rostock beeinflussen wird. Eine diffe­renzierte Schuldzuweisung und eine we­niger hysterisierte und verzerrte Darstellung der Geschehnisse ist Voraussetzung für ein faires Verfahren. Das kann den Angeklagten zugute kommen.

Können Sie etwas zu den hohen Zahlen sagen, mit denen beide Seiten ihre Verletzten von Rostock beziffern?

Die Zahlen lassen sich kaum verifizieren, aber mit Sicherheit kann man sagen, dass die Angaben über verletzte und schwer verletzte Polizisten schlicht unzutreffend sind. Demonstranten hingegen können viel eher von prügelnden Polizisten verletzt werden. Auch die Behauptung, die »Clowns Army« hätte Spritzpistolen mit ätzender Flüssigkeit eingesetzt, halte ich für eine komplette Ente. Mit solchen Pressemitteilungen wollte man eine aggressive Stimmung erzeugen. Und das gehörte zur Eskalationsstrategie.

Hätten Sie auch eine Kritik an den ­Demonstranten?

Ich trete als Vertreter einer Anwaltsgruppe auf, deren Anliegen es ist, Bürgerrechte zu verteidigen und auszuweiten. Unsere Aufgabe ist es, über die staatlichen Übergriffe zu sprechen, die wir beobachtet haben und nicht über individuelle Gewalt.

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