GipfelstuermerInnen bringen Koeln zum "brummen" (EXPRESS 30.5.99)
Mit der Demonstration "Gegen das Europa der Herrschenden - Stoppt den NATO-Angriffskrieg", einem internationalen Gegenkongres vom 4. bis 5. Juni und einigen spektakulaeren Aktionen wurde der Gipfel der EU-Kriegstreiber im Koelner Guerzenich empfindlich gestoert. Trotz massiver Polizeipraesenz, ueber die sich selbst die Koelner Lokalpresse mokierte, gelang es, den Protest gegen die Herausbildung der EU zu einer neuen militaerischen Supermacht und gegen die Verwaltung von Verarmung und Umweltzerstoerung auf die Strase zu tragen.
Hoehepunkt der Aktionstage war die Demonstration am 3. 6., an der sich mehr als 4000 Menschen aus antifaschistischen und internationalistischen Gruppen, Fluechtlingsinitiativen, ein europaweiter Frauen-/Lesbenblock, Studierendenvertretungen und linke Organisationen beteiligten. Auf Transparenten wandte mensch sich u. a. "Gegen jeden nationalen Konsens" und warb fuer langen Atem beim Widerstand gegen das menschenfeindliche System: "Auch Rom wurde nicht an einem Tag zerstoert, EU-Gipfel angreifen und linksradikalen Widerstand in Europa aufbauen". Eine Delegation der "Internationalen Karawane fuer Solidaritaet und Widerstand" (ICC) aus Indien und Mexiko machte auf der Demo auf die Auswirkungen der Weltwirtschaft und auf die Machenschaften europaeischer Konzerne in ihren Heimatlaendern aufmerksam, u. a. auf die Verbreitung von patentiertem genmanipuliertem Saatgut, das die kleinbaeuerliche Landwirtschaft in den Ruin treibt. Verschiedene Redebeitraege setzten sich auf der Auftakt- und Abschluskundgebung auf dem - von der Polizei zwangsweise zugewiesenen Ebertplatz - mit Aspekten des Herrschaftssystems EU auseinander. So forderte u. a. Jutta Ditfurth (OEkologische Linke) zum Widerstand gegen den NATO-Krieg in Jugoslawien auf und dazu, "dieses Land, dieses Herrschaftssystem zu destabilisieren, wo immer wir es treffen."
8300 PolizistInnen waren an diesem Tag im Einsatz. Im Vorfeld hatte es Drohungen mit Polizeispalieren, Verbote von Demonstrationsrouten und Kundgebungsplaetzen gegeben. Selbst Pfeifkonzerte wollte die Polizeifuehrung unterbinden. Seit Monaten war ueber lokale Medien gegen die ueber 60 aufrufenden Organisationen der Demo am 3. Juni gehetzt worden. Das "Bundesweite Linksradikale Buendnis gegen die EU- und Weltwirtschaftsgipfel" wehrte sich in einer Erklaerung dagegen: "Wer angesichts von Millionen Hungertoten, globaler Umweltzerstoerung, Krieg, freiem Fall der Lebensqualitaet von immer mehr Menschen etc. keine Verbesserungsvorschlaege fuer die bestehende weltwirtschaftliche Ordnung unterbreitet, sondern diese grundsaetzlich in Frage stellt, mus in den Augen der Profiteure des Bestehenden kriminell oder verrueckt sein."
Die Besorgnis ueber drohende Polizeiuebergriffe war durch die Angriffe auf den "Antifablock" waehrend der Vor-Gipfel-Demo am 29.5. genaehrt worden. Die knapp tausend TeilnehmerInnen waren von der Polizei mehrfach eingekesselt und Schlagstockeinsaetzen ausgesetzt worden. Nur innerhalb massiver Polizeiketten hatte dieser Teil der Euromarsch-Demo weiterlaufen koennen. Mitverantwortlich dafuer war auch ein Teil der Demonstrationsleitung, die den sozialdemokratisch gepraegten restlichen Demozug einfach weiterlaufen lies und sich von den Antifas entsolidarisierte. Man wollte sich wohl die unpolitische Volksfeststimmung unter den 15.000 ueberwiegend aus Frankreich, Italien und Spanien Angereisten nicht stoeren lassen, die sich teilweise in die Einkaufsstrasen der Koelner Innenstadt verduennisierten. So lauschten am Ende einige tausend Rest-DemonstrantInnen der Abschluskundgebung am Rudolfplatz, waehrend der Antifablock noch immer in einem Polizeikessel am Koelner Dom stand.
An dem linken Gegenkongres vom 4. bis 5. Juni beteiligten sich ca. 250 Personen. Er hatte kurzfristig in das Buergerzentrum "Alte Feuerwache" (BAF) verlegt werden muessen, weil die Unileitung die vom AStA fuer den Kongres beantragten Raeume an der Universitaet nur gegen eine Kaution von 50.000 DM hatte herausruecken wollen. Im Kontrast dazu hatte im Vorfeld des Gipfels Anfang Mai eine Pro-EU-Werbeveranstaltung sogar den Senatssaal im Uni-Hauptgebaeude benutzen duerfen. In der BAF beschaeftigten sich TeilnehmerInnen aus verschiedenen europaeischen Laendern mit den unterschiedlichen Aspekten der europaeischen Integration, mit der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung, der Naturzerstoerung durch EU-Projekte, mit europaeischer Bevoelkerungspolitik und Bioethik und mit neuen europaweiten UEberwachungstechnologien. Mit ca. 120 TeilnehmerInnen am besten besucht war die u. a. vom Antifaschismusreferat organisierte Streit-Veranstaltung ("Antinational, sozialrevolutionaer und nationale Befreiung - ein Widerspruch?") am Abend des 5.6. Sie setzte sich kritisch und kontrovers mit der Rolle des Nationalismus in Befreiungsbewegungen und mit dem Nationalismus und voelkischen Tendenzen besonders innerhalb der deutschen ArbeiterInnenbewegungen und innerhalb traditioneller linker Organisationen auseinander. Die Ergebnisse des Kongresses werden demnaechst in einem Reader oeffentlich zugaenglich gemacht werden.
Rund um diese Aktivitaeten gab es einige "Nadelstich"-Aktionen gegen die offizielle Gipfelinszenierung: So eine voruebergehene Besetzung eines Zeitarbeits-Bueros, mit der auf die Verbreitung des niederlaendischen "Polder"-Modells aufmerksam gemacht werden sollte. Das "Polder"-Modell ist ein staatliches Foerderprogramm fuer Jobs, die durch ihre niedrige Entlohnung unter der "Wasserlinie" der Existenzsicherung liegen. Es gilt als Vorbild fuer die EU-weiten "Buendnisse fuer Arbeit", die die deutsche Ratspraesidentschaft in ihrer Amtsperiode auf den Weg bringen will. Am Freitagmorgen blockierten Mitglieder aus Anti-Gentechgruppen, OEkoreferaten und anwesende indische BaeuerInnen das Max-Planck-Institut in Koeln-Vogelsang. Das MPI ist ein Gentechnik-Forschungszentrum mit weltweiter Bedeutung, von dem die Agroindustrie und die Lebensmittelkonzerne wichtige Forschungsergebnisse fuer ihr umweltzerstoererisches Gewerbe beziehen. Der von Institutschef Saedler angebotene Dialog endete ergebnislos und mit einem Hinauswurf der OEko-AktivistInnen aus dem Institutsgelaende. Die "Karawane fuer die Rechte der Fluechtlinge und MigrantInnen" besetzte am 4. Juni das Parteibuero der Koelner Buendnisgruenen am Ebertplatz und begann mit einem Hungerstreik gegen die rotgruene Abschiebepolitik.
Zu einem Polizeieinsatz kam es zum Abschlus der Antigipfel-Aktionen schlieslich noch nach einer friedlich verlaufenden Aktion auf der Domplatte. Knapp hundert Personen hatten innerhalb der "Sondernutzungszone" rund um Dom und Hauptbahnhof vorgefuehrt, was dort an "unnormalen" Aktivitaeten alles grundsaetzlich verboten ist: Sich versammeln, ziellos Herumhaengen, Singen und Betteln. Als sich die Versammlung aufloeste und sich die TeilnehmerInnen durch die Hohe Strase entfernen wollte, kam es zu einem Knueppeleinsatz der herbeigeeilten Polizei und zu etwa 60 wahllos durchgefuehrten Festnahmen. In die speziell fuer die Gipfel bereitgestellten Kaefige in der Polizeikaserne Bruehl wurde alles hineingeschafft, was irgendwie verdaechtig - d. h. schwarz gekleidet - aussah, und seien es auch eine Reihe von zufaellig anwesenden Wochenend-EinkaeuferInnen.