Satte 100.000 DemonstrantInnen haben die Organisatoren der G-8-Proteste im vergangenen Jahr rund um Heiligendamm erwartet. Gekommen sind zwar etwas weniger. Doch die Bewegung zog nach der Großdemonstration in Rostock und den Massenblockaden rund um Heiligendamm eine euphorische Bilanz: Erfolgreich vernetzt, Agenda mitbestimmt, Gipfel blockiert.
Ein Jahr später sind die Erwartungen um eine Potenz geringer: Zum diesjährigen G-8-Gipfel, der am Montag auf der japanischen Insel Hokkaido beginnt, rechnen die Veranstalter mit maximal 10.000 Gipfel-GegnerInnen. Und selbst das halten manche für zu optimistisch - schließlich gibt es in Japan keine Tradition der Gipfelproteste (siehe unten).
Aus Deutschland wird wohl nur rund ein Dutzend Aktivisten vor Ort sein. Neben einzelnen, die auf eigene Faust anreisen, sind vor allem Vertreter von Organistionen, die, wie Attac, gegen die G 8 protestieren oder, wie Oxfam, Wünsche an sie übergeben wollen. Die geringe Beteiligung liegt neben den eingeschränkten Prostetmöglichkeiten vor allem an der teuren und aufwendigen Anreise - und ist nicht ungewöhnlich: "Zu Gipfeln außerhalb von Europa haben wir noch nie mobilisiert", sagt etwa Attac-Sprecherin Frauke Distelrath.
Doch auch unabhängig vom bevorstehenden Gipfel stellt sich die Frage, was von der Euphorie und den hochfliegenden Erwartungen aus dem vergangenen Jahr geblieben ist. "Die Krise der Bewegung ist durch Heiligendamm nicht behoben worden", sagt etwa Thomas Seibert, Mitarbeiter der Hilfsorganistaion Medico International und Redakteur des linken Debattenblatts Fantomas. "Aber sie führt auch nicht zum Abschwung, sondern zu einer notwendigen Programm- und Strategiedebatte."
Die Einschätzungen zu den praktischen Konsequenzen der G-8-Proteste gehen auseinander. "Bündnispolitisch hatte Heiligendamm keine nennenswerte positive Wirkung", sagt Peter Wahl, Mitarbeiter bei der Organisation Weed und bis zum vergangenen Herbst zudem im Koordinierungskreis von Attac. Der Gewaltausbruch am Rande der Großdemonstration in Rostock erschwere künftige Kooperationen zwischen Gewerkschaften und NGOs auf der einen und linksradikalen Gruppen auf der anderen Seite. Dass Wahl und andere Attac-Vertreter die Gewalt klar verurteilten, kritisieren viele Autonome bis heute als "vorschnelle Distanzierung".
Im Gegensatz zu diesem Streit sieht Christoph Kleine, der für die Gruppe "Interventionistische Linke" zu den Demo-Organistoren gehörte, seit Rostock eine "neue Kultur der Zusammenarbeit", die durch die "unvermeidliche Auseinandersetzung" nach der Demonstration enstanden sei. Auch der Protestforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin hat eine "Öffnung der Gesprächskultur zwischen sehr unterschiedlichen Akteuren" beobachtet.
Einigkeit besteht über die positiven Nachwirkungen der Massenblockaden, mit denen über 10.000 Menschen zwei Tage lang die Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm dicht gemacht hatten. "Von solchen intensiven Erlebnissen bleibt auf jeden Fall etwas hängen", sagt Rucht. "Wenn Menschen gute Erfahrungen mit zivilem Ungehorsam machen, sind sie bereit, sich bei anderer Gelegenheit wieder zu beteiligen."
Ob das gelingt, kann sich beispielsweise beim 60. Geburtstag der Nato zeigen, der im kommenden Frühjahr in Straßburg und Kehl gefeiert werden soll. Ähnlich wie in Heiligendamm will ein Bündnis verschiedener linker Gruppen zu Blockaden aufrufen. Auch die deutsche Umweltbewegung will die Gipfel-Erfahrungen aufgreifen. Nachdem eine Klima-Demonstration im Dezember trotz der Aktualität des Thema noch unter mangelder Beteiligung litt, wurde die Szene zuletzt aktionistischer. Nach der Blockade eines Kohlezugs und der kurzzeitigen Besetzung eines Kohlekraftwerks-Bauplatzes findet im Augst ein Klima-Aktionscamp in Hamburg statt, bei dem weitere Protestformen diskutiert und erprobt werden sollen.
Solche Aktionsformen wird es wohl brauchen, um die Protestierer aus Heiligendamm wieder zu aktivieren. Denn ein Großteil der 15.000 meist jungen Aktivisten aus den G-8-Camps gehörte keiner formalen Organsation an. Und das hat sich bis heute kaum geändert. "Es ist niemandem gelungen, diese Gruppe an sich zu binden", stellt Protestforscher Rucht fest. "Sie setzen auf situatives Engagement ohne Verpflichtungen." Lediglich Attac hat seine Mitgliederzahl nach Heiligendamm um 2000 gesteigert und eine Jugendorgansation gegründet. Zugleich leidet das Netzwerk aber unter noch unter dem Rückzug seiner langjähringen Führungsfiguren Sven Giegold, Peter Wahl und Werner Rätz - und darunter, dass Globalisierungskritik mittlerweile Mainstream ist. Dass die Finanzmärkte "Monster" sind, sagt heute auch Bundespräsident Horst Köhler. Dass die G-8-Gipfel an Relevanz verlieren und ihre Versprechen nicht einhalten, erkennen auch konservative Medien. Beim Klima-Thema etwa geht nicht nur Greenpeace davon aus, dass es in Japan keine Fortschritte geben wird; auch die Bundesregierung heißt es lediglich, man "glaube nicht, dass wir hinter Heiligendamm zurückfallen".
Doch auch wenn die deutschen Globalisierungskritiker dem diesjährigen G-8-Gipfel in Japan keine sonderlich große Bedeutung beimessen - spätestens im nächsten Jahr dürfte sich das wieder ändern. Dann heißt ist als Gastgeber Italien an der Reihe. Erstmals seit Genua, das nach den von der Polizei brutal angegriffenen Massenprotesten im Jahr 2001 als Geburtsstunde der Globalisierungskritik in Europa gilt. Und wieder mit einem Ministerpräsidenten namens Silvio Berlusconi.
Source: www.taz.de