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2008-03-20

»Japan hat seine Geschichte nie aufgearbeitet«

Kei, japanischer Anti-G8-Aktivist

Nach Heiligendamm kommt Sapporo. 2008 findet der G8-Gipfel in Japan statt. Vom 7. bis 9. Juli treffen sich die acht Staatschefs auf der nordjapanischen Insel Hokkaido. Japanische Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe »No G8! Action« touren derzeit für drei Wochen durch Euro­pa. Auf Veranstaltungen informieren sie über soziale Bewegungen in Japan, aber auch der wiedererstarkte japanische Na­tionalismus ist ein Thema. Kei, 31, betreibt einen Infoladen in Tokio, das »Irregular Rhythm Asylum« und ist Mitglied des Künstlerkollektivs »U-do-sha«. interview: juliane schumacher und sigrid oberer

Bild: Yasukuni-Schrein

Sie mobilisieren zum G8-Gipfel nach Japan. Waren Sie auch auf dem vorigen Gipfel in Heiligendamm?

Ja. Was mich am meisten erstaunt hat, war die Idee der Camps und auch, wie sie abgelaufen sind. Zusammen zu leben, Pläne für Aktionen zu machen und dann einfach zusammen loszugehen, um Straßen zu blockieren, das fand ich eine sehr gute und motivierende Erfahrung. Die Gruppe »No G8! Action« wurde während der Vorbereitungen für Heiligendamm gegründet, von so verschiedenen Gruppierungen wie Anarchisten, Kommunisten und Mitgliedern von Attac Japan. Zehn von uns sind nach Heiligendamm gefahren, die anderen haben parallel zum Gipfel Aktionen in Tokio gemacht.

Die Bewegung in Japan scheint etwas isoliert zu sein.

Es gab bisher tatsächlich kaum Kontakte zwischen den Bewegungen in Japan und Europa. Da Japan auch ein sehr hochindustrialisiertes Land ist, ist das eigentlich verwunderlich. Mir scheint, dass die Aktivisten in den westeuropäischen Staaten untereinander sehr enge Kontakte haben, und auch in die USA, nach Kanada und Lateinamerika bestehen seit Jahrzehnten Verbindungen. Aber der Blick auf und das Wissen über soziale Bewegungen in Japan existiert quasi nicht. Dabei gibt es gerade zu Deutschland und Italien ja durchaus Parallelen, was die Geschichte und die politische Situation angeht.

Wogegen werden sich die Proteste richten?

Armut, Prekarität und Obdachlosigkeit werden die Themen des ersten Protesttages sein. Seit den siebziger Jahren ist die Arbeitslosigkeit stark gestiegen. In einem Land, in dem es quasi keine soziale Absicherung gibt, ist Arbeitslosigkeit für die Betroffenen eine Katastrophe. In den großen Städten gibt es ganze »Dörfer« von Obdachlosen, die in selbstgebauten Zelten leben. Die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt betrifft auch junge Leute, selbst wenn sie gut ausgebildet sind. Es gibt eine große Anzahl junger Menschen, die von Gelegenheitsjobs leben und die sich keine Unterkunft leisten können. Daher kommt auch das Phänomen der »internet refugees«, junge Leute, die zwischen ihren schlecht bezahlten Jobs in Internet-Cafés gehen, um dort zu schlafen oder sich aufzuwärmen.

Gibt es Widerstand dagegen?

Es ist in den letzten Jahren einiges passiert. Seit drei Jahren findet der »Mayday Tokyo« statt, um auf das Thema Prekarität aufmerksam zu machen. An der Organisation waren auch Gruppen von Obdachlosen und prekär Beschäftigten beteiligt. Dieses Jahr wird der Mayday Tokyo auch der Startschuss für die Proteste gegen den G8-Gipfel sein – und leider wohl auch der Startschuss für die Repression von seiten der Polizei.

In den vergangenen Jahren wurde viel darüber diskutiert, dass der Nationalismus in Japan zugenommen hat. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat Japan voriges Jahr wieder ein Verteidigungsministerium bekommen.

Die Armee spielt in der öffentlichen Diskussion derzeit eine wichtige Rolle, nicht nur weil auch japanische Soldaten im Irak kämpfen und das in der Bevölkerung sehr umstritten ist. Die japanische Verfassung entstand nach dem Sieg über den Faschismus, und nach Artikel 9 ist die einzige Aufgabe der Armee, das Land gegen Angriffe zu verteidigen. Aber dieser Kontrollmechanismus der Verfassung wird immer weiter aufgeweicht. Man kann die Situation sehr gut mit Deutschland vergleichen, das auch Truppen nach Afghanistan geschickt hat und versucht, sich wieder seinen Platz als militärische Macht im Weltgeschehen zu erschleichen.

Dass der Nationalismus zugenommen hat, geht zum Teil aber auch auf den ultrakonservativen Junichiro Koizumi zurück, der von 2001 bis 2006 Premierminister war. Er hat nationalistischen und rechten Ideen zu einem starken Schub verholfen. Die Jugend hat ihn gefeiert wie einen Popstar. Er war auch einer der ersten, der damit Wahlkampf gemacht hat, den umstrittenen Yasukuni-Schrein besuchen zu wollen, wenn er gewählt wird. Aber der japanische Nationalismus geht viel weiter zurück.

Welche Rolle spielt dabei der japanische ­Faschismus?

Eine bedeutsame. Die japanische Gesellschaft versucht noch immer, ihre faschistische Geschichte zu verdecken, indem sie sie als einen Versuch darstellt, die asiatischen Länder von westlichen Mächten zu befreien. Es ist nicht unüblich, dass japanische Staatsangestellte so weit gehen, die Massaker zu leugnen, die die japanische Armee in der chinesischen Stadt Nanjing verübt hat, oder die Beteiligung der japanischen Regierung an den so genannten comfort stations, Lagern, in denen Frauen aus den eingenommenen Gebieten auf den Philippinen, Korea oder Taiwan gezwungen wurden, als Prostituierte für japanische Soldaten zu arbeiten. Japan hat sich nie wirklich entschuldigt für das, was es getan hat, oder seine Geschichte aufgearbeitet, noch hat das Land den Betroffenen je eine angemessene Entschädigung bezahlt. Stattdessen erweisen hohe Staatsbeamte, Nationalisten und Rechtsextreme jedes Jahr am 15. August dem Yasukuni-Schrein die Ehre.

Warum spielt dieser Schrein so eine große Rolle? Als Koizumi ihn offiziell als Premierminister besuchte, gab es einen Aufschrei in Korea und China.

Dem Glauben nach ist der Schrein der Hort von 2,5 Millionen »Heldenseelen«, die seit dem späten 19. Jahrhundert für ihr Land, Japan, in den Krieg gezogen und gefallen sind. Auf den Listen, die die im Schrein verehrten Toten aufführen, stehen auch 14 hoch dekorierte Generäle aus dem Zweiten Weltkrieg, die als Kriegsverbrecher Klasse A verurteilt und hingerichtet wurden. Der Schrein symbolisiert die Verknüpfung zwischen der Shinto-Religion als Staatsreligion und dem japanischen Kaiser, der früher als gottgleich verehrt wurde. Diese Verknüpfung ist weit älter als das faschistische Regime, aber sie spielte im japanischen Faschismus eine große Rolle.

Ist der Schrein deshalb immer wieder Treffpunkt von rechtsextremen Gruppierungen?

Verschiedene Gruppen kommen dorthin, um den »Heldenseelen« die Ehre zu erweisen: Hinterbliebenen- und Veteranenverbände, Nationalisten, Rechtsextreme. Auch die Uyoku beteiligen sich an der Gedächtnisfeier für die toten Soldaten. Uyoku steht für ultrarechte Gruppierungen und Parteien, umfasst aber eine Vielzahl an Lebensstilen und Politikformen. Einige Uyoku-Gruppen haben ihre Wurzeln in der japanischen Mafia, der Yakuza, die werden daher kaum von der Polizei belästigt. Manche beziehen sich auf den deutschen Nationalsozialismus, andere verkleiden sich als Kamikaze. Die meisten Uyoku verehren den Kaiser noch immer als gottgleich.

Welche anderen sozialen Bewegungen spielen in Japan eine Rolle?

Sehr große Bewegungen sind in Japan die gegen Militarismus und die gegen die US-Militärbasen. Diese Gruppen waren es auch, die hauptsächlich die letzten G8-Proteste organisiert und getragen haben, 2000 in Okinawa. Aber es ist immer notwendig, sich die Gruppen genau anzusehen, die bei diesen Bewegungen mitmachen. Manche sind einfach nur gegen US-Einrichtungen, kritisieren Militarismus aber nicht generell als ein Teil von Herrschaftsverhältnissen. Während der Demonstrationen gegen den Irak-Krieg 2003 hat ein Teil dieser »Antimilitaristen« mit den Obrigkeiten und der Polizei kooperiert, um gemeinsam gegen Gruppen vorzugehen, die direkte Aktionen planten. Mit solchen Gruppen zusammenzuarbeiten, ist unmöglich.

Sind an der Organisation der G8-Proteste auch Studierendengruppen beteiligt?

Es gibt in Japan seit dem vergangenen Jahr eine neue Studierendenbewegung, die sich als undogmatisch-links versteht und die die Proteste mitorganisiert. In der Geschichte der japanischen Studierendenbewegung gibt es sehr viele Parallelen zu Europa, 1968 gab es auch in Japan große Studentenproteste. Teilweise schlossen sich auch die Arbeiter an, im Oktober 1968 legten die Proteste Tokio für Tage lahm. Aber ab Anfang der sieb­ziger Jahre nahmen studentische Bewegungen ab, es gab kaum noch große Aktionen, Universitätsbesetzungen oder Streiks. 1971 wurde die United Red Army gegründet, das Äquivalent zur RAF. Für die Bewegung war das ein Desaster, sie wurde von internen Streits zerrissen. Dennoch haben die studentischen Streiks der siebziger Jahre den Universitäten ein paar autonome Räume verschafft – vor allem in den selbst­organi­sierten Studentenwohnheimen.

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Source: www.jungle-world.com