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2007-06-01

Zeit: Spiel ohne Grenzen

© DIE ZEIT, 31.05.2007 Nr. 23

Von Stefanie Flamm

Delegierter, Polizist oder Demonstrant: Mecklenburg-Vorpommern kennt nur noch Gäste und macht aus dem G8-Treffen ein Festival für alle.

Es scheint zwischen Wismar und Stralsund nur noch zwei Gastwirte zu geben, denen der G8-Gipfel gestohlen bleiben kann. Der eine heißt Olaf Micheel. Er ist der Inhaber des Kulturhauses in Trinwillershagen, in dem Angela Merkel vergangenen Sommer George Bush mit einem gegrillten Wildschwein überraschte. Micheel, der nun regelmäßig große Gruppen mit »Wildschwein à la Bush« bewirtet, glaubt nicht, dass sich der Erfolg noch steigern lässt. Er fliegt nächste Woche nach Mallorca.

Der andere Gipfel-Muffel ist ein Hotelier aus Kühlungsborn. Er ärgert sich seit Wochen schwarz darüber, dass das Auswärtige Amt bei ihm mehr Zimmer reserviert hat, als am Ende genommen wurden. Unter normalen Umständen wäre er Anfang Juni ausgebucht. Unter normalen Umständen müsste er sich auch keine Gedanken darüber machen, wie seine Kinder durch die Bannmeile zur Schule kommen und ob er genug Vorräte eingelagert hat, falls die Polizei alle Zufahrtswege sperrt. »Von mir aus könnten Merkel und ihre Freunde sich auf einem Ozeandampfer treffen«, sagt er. »Da stören sie wenigstens keinen.«

Bis vor ein paar Wochen haben noch viele so geredet. Der Gipfel in Heiligendamm war den Leuten lästig und auch ein wenig unheimlich. Fast 100 Millionen Euro sollte er kosten. Und was würde er bringen? Schlechte Nachrichten und einen hässlichen Zaun um ein Grandhotel herum, das sich sowieso schon abschottet. 100.000 möglicherweise gewaltbereite Demonstranten. 16.000 Polizisten und 1100 Soldaten. Die Mecklenburger fanden das wenig verlockend.

Wer dieser Tage die Küste entlangfährt, bekommt nicht nur an jeder Ecke G8-Bier, G8-Kuchen, G8-T-Shirts angeboten. Im Drogeriemarkt in Bad Doberan werden noch schnell die Decken gestrichen. Die Chefin des Lokals unterm Leuchtturm in Rerik hat ihre Tochter aus der Schule genommen, damit sie ihr die Speisekarte übersetzt. Auch die Verkäuferinnen in den Läden der Yachthafenresidenz bei Warnemünde pauken Vokabeln. Wie man hört, sollen im Säulenpalast auf der Hohen Düne die Mitglieder der US-amerikanischen Delegation absteigen. Denen müsse man schon ein »richtiges Verkaufsgespräch« bieten, sagen sie.

Die Direktorin Ute Rieger steht strahlend in der Lobby, an deren Ende man durch eine riesige Fensterfront auf die Segelschiffe am Pier schaut. Sie könne es selbst nicht fassen, sagt Rieger. Vor einem Jahr hätte sie ihre Mitarbeiter wohl noch in einen Sprachkurs prügeln müssen. Heute stünden sie mit Vokabelkarten im Laden! Manchmal glaubt Rieger, G8 habe jetzt schon mehr gebracht als jedes Motivationstraining. »Die Leute sind total engagiert.«

Ein heftiger Wind hat die letzten Regenwolken vom Himmel über Steffenshagen geputzt, als die Turmuhr der gotischen Backsteinkirche zwei schlägt und der Konditor Frank Röntgen von seiner Sekretärin endlich einen Kaffee bekommt. Er nippt kurz daran und pikt einmal mit der Gabel in das Sanddorntörtchen, das ihm heute das Mittagessen ersetzt. Dann lehnt er sich wieder in seinem Schreibtischstuhl zurück. Die Kornfelder hinter seinem Fenster leuchten phosphorgrün. Ab und an fährt ein Polizeiwagen vorbei. Die genauen Zahlen habe er nicht im Kopf, sagt Röntgen. Aber sie kalkulierten im Moment in Tonnen. Seine Kaffeehauskette Classic Café wird das Pressezentrum mit Kuchen beliefern und die Staatsgäste im Kempinski mit Weißbrot. Außerdem plant er eine Sonderedition Petits Fours in den Nationalfarben aller G8-Staaten. Diese »Gipfeltörtchen« liegen ihm am Herzen.

Röntgen schlüpft in den weißen Kittel, ohne den niemand, auch er nicht, in die Backstube hinter seinem Büro vordringen darf. Dort liegen die Prototypen auf Stahlblechen, die so sauber sind, dass die Decke sich darin spiegelt: Biskuitboden, Sahne-Marzipan-Nuss-Füllung und buntes Esspapier obendrauf. Röntgen rückt seine Brille zurecht. Man dürfe sich nichts vormachen. Die meisten Menschen, die während des Gipfels nach Heiligendamm und Umgebung kämen, seien zum ersten Mal an der deutschen Ostseeküste. »Und wenn die dann bei mir süße Stückchen mit ihrer Flagge finden, freuen die sich. Und wenn einer dann 1000 für zu Hause haben will, bin ich darauf vorbereitet.«

Ein Souvenir mit fremden Fahnen, das ist originell. Doch was wären die Alternativen? Die Schönheiten Mecklenburgs – dunkelrote Backsteinkirchen, einsame Dörfer, sanfte Dünen und Küsten, die dramatisch zum Meer hin abfallen – lassen sich nicht gut auf Esspapier drucken. Strandkörbe und Möwen gibt es auch anderswo. »Wir haben einfach noch keinen richtigen Imageträger«, sagt Röntgen. Vielleicht weil das Image ein zwiespältiges ist. Mecklenburg-Vorpommern hat nicht nur eine wunderschöne, gut besuchte Küste, sondern auch sehr strukturschwache Gegenden. Dort beträgt die Arbeitslosigkeit über 20 Prozent, die Jugend wandert ab. Und die Bilder aus dem Jahr 1992, als in Rostock ein Asylbewerberheim brannte und Nachbarn klatschend zusahen, sind noch nicht überall vergessen. So kommt es zu der grotesken Situation, dass Mecklenburg-Vorpommern - mit 13,7 Millionen Übernachtungen im Sommer eines der beliebtesten deutschen Reiseziele - im Ausland als Destination nahezu unbekannt ist. Als Röntgen vergangenes Jahr im Österreichurlaub jemandem erzählte, er sei von der Ostsee, habe der gefragt: Russland oder Polen? »Und das war kein Scherz.«

Albrecht Kurbjuhn holt die Fotos hervor, die er von den Vorbesitzern des Hotels Polarstern in Kühlungsborn geerbt hat. Sie stammen aus der Kaiserzeit, als sich im Nachbarort Heiligendamm die europäische Prominenz vom Leben erholte – Lord Nelson, General Blücher, die russische Zarenfamilie. Auch Kühlungsborn muss sehr mondän gewesen sein. Die Fotos zeigen Großfamilien, die im Sonntagsstaat vorm Kurpavillon posieren, Damen mit unglaublichen Hüten, aber auch Gecken mit gezwirbelten Schnurrbärten und großäugige Mädchen in Charlestonkleidern, die immer Zigaretten hatten, aber nie Feuer. Die Demimonde, die ordentliche Bürger im Urlaub gern um sich haben, weil man hinterher so lustige Geschichten über sie erzählen kann.

Heute lebt die Küste vor allem von Ostdeutschen, die schon immer hierherkommen, und von ehemaligen Nordseeurlaubern aus Nordrhein-Westfalen. In der Vorsaison sieht man viel graues Haar, über kahle Hinterköpfe gekämmte Strähnen und rüstige Ehepaare, die im Partnerlook über die Uferpromenade marschieren. Wer hier jetzt einen Kinderwagen schiebt, fällt schon auf. Der Ferrari-Fahrer aus Hamburg, der seit Neuestem alle paar Wochen über die A20 nach Kühlungsborn brettert, um im Restaurant des Hotels Polarstern 600 Gramm Steak und eine Flasche Wein zu bestellen, hat es sogar zum Stadtgespräch gebracht. Leute, die es krachen lassen, sind hier noch selten. »Wir hatten solche Steaks gar nicht im Angebot«, sagt Kurbjuhn. Nach dem zweiten Besuch des Mannes hat er gleich die Speisekarte geändert.

Er schenkt Sekt aus. Es ist sein Geburtstag, der fünfzigste. Die schmale Lobby des Polarstern versinkt in einem Blumenmeer, in dem komplett verglasten Wintergarten dahinter beugt sich eine illustre Runde aus Hotelierskollegen, Ärzten, Lokalpolitikern und Geschäftsleuten übers Buffet. Die Frauen sind schon ein bisschen lustig, in den Revers der Männer steckt das Rädchen, an dem sich die Mitglieder des Rotary-Clubs erkennen. Sie sprechen, natürlich, über den Gipfel und die »große Chance«, die darin läge. Nur eine Blumenhändlerin schimpft über die vielen Polizisten in den Straßen. Man habe ja schon Angst, mal ohne Sicherheitsgurt zu fahren. Einer Ärztin tun »die Jungs« leid. »Die haben ja noch gar nichts zu tun.«

Kurbjuhn glaubt, viel mehr Fremdsprachen auf den Straßen zu hören als früher. Das sei ein gutes Zeichen. »Wenn wir mehr Ausländer hier haben, wird es auch für Deutsche interessanter.« Er schenkt noch mal Sekt nach. Der Politologe, der bis vor 15 Jahren in einem Frankfurter Rüstungskonzern gearbeitet hat, ist kein Investor im üblichen Sinne. Er ist ein Enthusiast. Schon während der ersten Ferien, die er nach der Wende in Kühlungsborn verbrachte, hat er sich in den Ort verliebt und in die Vorstellung, was man daraus alles machen könnte. Er war begeistert von den alten Kurhäusern mit ihren hölzernen Veranden, den verwitterten Grandhotels, von dem Wind, der einem an heißen Tagen das Hirn durchpustet.

Als seine Firma 1992 in Schwierigkeiten geriet, begann er mit Frau und Töchtern im damals noch maroden Polarstern ein neues Leben als Wirt. Es ist nicht das erste Haus am Platze und auch nicht das zweite, aber das lebendigste. Kurbjuhn, der den Titel »Botschafter des schottischen Whiskys« trägt, macht sich gelegentlich einen Spaß daraus, im Restaurant im Kilt zu bedienen. Im Winter lädt er ausländische Künstler ins Polarstern, damit sie dem Haus ein wenig Internationalität geben. Vom G8Gipfel erhofft er sich einen ähnlichen Effekt: Er soll die Mecklenburger Bucht wieder zu einer Gegend machen, auf die die Welt schaut und in der die Welt verkehrt.

An einer Wand hängt eine Skizze von seinem Lieblingsprojekt: ein voll verglastes Spa, das die Seebrücke von Kühlungsborn krönen soll. Es hat die Form eines geschliffenen Diamanten und würde in Dubai sicher nicht auffallen. Doch im grundsoliden Kühlungsborn – passt das? Kurbjuhn lächelt. Es soll gar nicht passen, es soll den Ort verändern. Viele Jahre lang tingelte er mit den Plänen von Behörde zu Behörde. Kurz vor dem Gipfel hat er die Baugenehmigung erhalten. Fehlt nur noch ein Investor, dem ein Spiegelglasdiamant auf der Seebrücke 34 Millionen Euro wert ist. Doch Kurbjuhn ist zuversichtlich, dass er bald einen findet.

Auch in Bützow, einer ehemaligen Hugenottenstadt, gut 30 Kilometer landeinwärts, gehen die Dinge voran. Der Wasseranschluss ist schon gelegt, die Rohre wurden desinfiziert. André Harder sagt, sie seien gut in der Zeit. Er lehnt sein Fahrrad an ein Schild mit der Aufschrift »Gute Nacht G8«. Auf der 23 Hektar großen Wiese dahinter werden vom Wochenende an etwa 15000 Gipfel-Kritiker ihre Zelte aufschlagen. Harders Agentur »v.i.p.büro«, die letztes Jahr in Rostock eine große Anti-NPD-Demonstration organisierte, ist die Veranstalterin. Der Autohändler nebenan hat vorsichtshalber schon einmal die Schaufenster verrammelt. Harder grinst. Es sei doch immer dasselbe: »Dort, wo es nie regnet, haben die Menschen die meisten Schirme.« Denn dass hier in Bützow, so weit ab vom Gipfel, irgendetwas passiere, halte er für ausgeschlossen. »Die Radikalen wollen näher an den Zaun.« Vielleicht ist ihnen Harders Konzept auch zu unpolitisch. Viele Livekonzerte sind geplant, gemeinsames Brotbacken, Paddeltouren und Nachtwanderungen. Ein paar der älteren Teilnehmer haben angekündigt, dass sie ihre Gitarren mitbringen. Eine schöne Vorstellung, findet Harder. »In gewisser Weise ist Woodstock unser Vorbild.« Und wenn es nun in der linken Szene heiße, er vermarkte den Protest als Freizeitspaß, störe er sich nur an dem Wort »vermarkten«. Denn Geld verdienten sie hier wirklich nicht. Ein Tagesticket koste zehn Euro. Familien, die eine ganze Woche blieben, zahlten nur 150 Euro. »Da haben wir uns auf die schwäbische Sparsamkeit eingerichtet.« In Süddeutschland seien ja gerade Pfingstferien. Denn auch wenn Harder kein guter Geschäftsmann sein will, ein Regionalpatriot ist er schon. Es würde ihn freuen, wenn »die Leute nächstes Jahr als Urlauber zurückkämen.«

Insofern will er das Gleiche wie die Kurbjuhns, Röntgens und viele andere: Menschen für das Land begeistern, die hier vorher nie hingefahren wären. Und weil die meisten Gäste, die dieser Tage erwartet werden, zur Fraktion der Gipfelkritiker gehört, ist es nicht nur freundlich, sondern sehr klug vom regionalen Tourismusverband, dass er auch die in sein Marketingkonzept integriert hat. So findet man in der offiziellen G8Servicebroschüre neben Hotel- und Restaurantempfehlungen, Stadtplänen und landeskundlichen Aufsätzen auch die Sammelpunkte der Demonstranten, die Termine der Kundgebungen und eine Ankündigung für das große »Deine Stimme gegen die Armut«-Konzert am 6. Juni im Rostocker IGA-Park. Und irgendwann fragt man sich, ob die Mecklenburger das politische Ereignis nicht längst umgedeutet haben in ein riesiges Festival, auf dessen zahllosen Bühnen sich jeder präsentieren kann, der Lust dazu hat.

Ein kühler Wind weht über die Warnow in Richtung Ostsee, auf den Bierbänken an Deck der MS Stubnitz im Stadthafen von Rostock drehen zwei Punks Zigaretten, Ky und Ricardo. Ein Mann mit Dreadlocks verschwindet mit einem Videobeamer im Bauch des letzten Schiffes, das von der DDR-Hochseefischereiflotte übrig geblieben ist. Eine Künstlergruppe hat es 1992 gekauft und mit den Jahren in einen »Kulturraum« verwandelt, der den ganzen Sommer über auf Ost- und Nordsee fährt, um in den großen Hafenstädten Musiker, Performancekünstler für ein paar Tage oder Wochen an Bord einzuladen. Und eigentlich, sagt Ky, wären sie auch schon längst wieder unterwegs. Doch jetzt ist G8. Von Freitag an gibt es an Deck Tag und Nacht »Musix und Drinx«, unter Deck findet jeden Abend eine andere Veranstaltung statt: Poetry Slams, Ska-Konzerte, Diskussionen.

Der riesige Kahn verschlucke im Jahr fast eine Million Euro, sagt Ricardo. Und die müssten irgendwie verdient werden. Aber ums Geld geht es nur am Rande. Auch die punkige Stubnitz-Crew hat die Gipfel-Krankheit. Der Geschäftsführer Urs Blaser, ein Mittvierziger mit kurzen Haaren und Nickelbrille, redet vor lauter Vorfreunde schon wie ein Minister: »Wir wollen auch in dieser exponierten Zeit unsere Verantwortung als kultureller Veranstalter wahrnehmen und Rostock als weltoffene, freundliche Stadt präsentieren.«

Doch was passiert, wenn es zu Ausschreitungen kommt und das Urlaubsland Mecklenburg-Vorpommern schon wieder hässliche Bilder in die Welt funkt? Schon vor ein paar Wochen hat die Polizei die Bewohner von Steffenshagen behutsam darauf vorbereitet, dass in dem kleinen Dorf südlich von Heiligendamm die Bannmeile endet. Mit einem »Zusammenstoß von Demonstranten und Unformierten« sei durchaus zu rechnen. Als der Konditor Frank Röntgen das hörte, war sein erster Gedanke: »Mensch, da machste Buffet.« Vom 4. Juni an will er auf dem Parkplatz zwischen Konditorei und Dorfanger rund um die Uhr belegte Brötchen und Gulaschsuppe verkaufen – an hungrige Polizisten und die Globalisierungsgegner aus dem Attac-Camp im Nachbardorf. Das einzige Problem: Er hat gehört, die jungen Leute äßen kein Fleisch.