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2008-12-08

Vertrauensbonus für Polizei in Agenturmeldungen

Eine Diplomarbeit der Hochschule Bremen hat das hehre Ziel Objektivität mit der Realität der Agenturberichterstattung verglichen. Dazu untersuchte Christian Selz 476 Meldungen und Berichte von dpa, AP, AFP und ddp über die Proteste gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm vom 2. bis 8. Juni 2007. Der nüchtern präsentierte Befund: “Das Verhältnis der Agenturen zur Polizei war deutlich weniger distanziert als … zur Partei der Demonstranten.”

Bild: Heiligendamm 2007

Die im Studiengang Fachjournalistik erstellte Arbeit untersucht die Aussagen über beide Konfliktparteien mit dem methodischen Handwerkzeug der Inhaltsanalyse. Zunächst aber analysiert Selz die Ausgangsposition im publizistischen Ringen um die Darstellung der Ereignisse in der Öffentlichkeit und konstatiert einen deutlichen Vorteil der Polizei gegenüber den Gegnern des G-8-Gipfels – die staatliche Ordnungsmacht hatte mit ihrer Pressearbeit einen professionellen Zugang zu den Redaktionen, während die Gegenseite ihre Positionen aufgrund der eigenen heterogenen Zusammensetzung weit weniger eindeutig vermitteln konnte.

Nach der Untersuchung aller Aussagen in den Agenturdiensten kommt Selz zu dem Schluss, “dass das über die Nachrichtenagenturen vermittelte Bild der Demonstranten überwiegend negativ war.” Zwar “machten neutrale Beschreibungen (983) mehr als die Hälfte der gezählten Aussagen aus, der Wert der negativen Aussagen (559) überstieg den der positiven (169) aber deutlich”. Hingegen sei “die Polizei nur in 11 Prozent der Aussagen über sie aufgrund von zu hartem oder nicht deeskalierendem Vorgehen kritisiert” worden. Dieses generelle Bild fand der Autor in allen untersuchten Agenturdiensten vor, im Detail stellte er aber auch Unterschiede fest:

Selz untersuchte auch, wie oft beide Seiten zu Wort kamen, und stellte dabei eine “quantitative Ausgewogenheit” fest: Die Demonstranten kamen 506 Mal, die Polizei 500 Mal zu Wort. Bei der sprachlichen Präsentation der jeweiligen Aussagen stellt die Studie aber deutliche Unterschiede fest, wobei drei Distanzierungsklassen unterschieden werden. Eine “große Distanz” wurde etwa konstatiert, “wenn direkte oder indirekte Zitate mit stark distanzierenden Verben wie beispielsweise ‘behaupten’ verknüpft werden”. Weitere Indikatoren waren Attribute wie ‘angeblich’ und distanzierende Wendungen in Verbindung mit dem Konjunktiv. Als “mittlere Distanz” wurden unter anderem “Äußerungen in indirekter Rede und mit Verben wie ‘sagen’ oder ‘berichten’ verknüpfte Zitate” eingestuft. Eine “geringe Distanz” wurde angenommen bei “Umschreibungen von Sachverhalten im Indikativ…, bei denen sich die Umschreibung mit der Aussageabsicht des Urhebers deckt”.

Das in der Grafik zum Ausdruck kommende Ergebnis veranlasst den Autor zu dem Schluss, dass die Aussagen der Demonstranten “deutlich distanzierter” wiedergegeben worden seien als die der Polizei. Selz sieht damit eine seiner Ausgangsthesen bestätigt: “Die Polizei genoss in deutlich höherem Maße das Vertrauen der Nachrichtenagenturen als die Demonstranten.”

Zu einem interessanten Befund kommt die Differenzierung nach Meldungen und Zusammenfassung auf der einen und Korrespondentenberichten auf der anderen Seite: Mit Ausnahme von dpa zeigte sich hierbei, “dass die Demonstranten in einem Genre, das weniger auf die Pressearbeit der Konfliktparteien angewiesen ist, positiver dargestellt werden”. Auf der
anderen Seite zeigte sich für Nachrichten und Zusammenfassungen, dass diese Artikel wesentlich stärker von der Polizei-Pressestelle beeinflusst wurden.

Die Studie belegt den hohen Stellenwert des Nachrichtenwertes Gewalt für die Berichterstattung der Agenturen. Dies zeige sich bereits bei einer “einfachen Durchsuchung der Artikel nach den Schlagwörtern ‘Ausschreitungen’, ‘Krawalle’,
‘Straßenschlacht’, ‘Polizei angreifen’, ‘Gewalttäter’, ‘Gewaltbereite’ und ‘Militante’.” Die Nachrichtenagenturen, so resümiert Selz, hätten ein Interesse daran gehabt, ihre Bezieher mit dramatische Artikeln über den Konflikt zu beliefern, “obwohl sie
nicht über die Ressourcen verfügten, das Geschehen immer selbst zu beobachten oder Informationen stets zu überprüfen”.

Für künftige Studien hat der Verfasser gleich ein paar Hausaufgaben gestellt. Als eine der offenen Fragen nennt er “die nach den Gründen, die die Redakteure dazu bewogen haben, der Polizei mehr Glaubwürdigkeit beizumessen als den Demonstranten.” Selz fügt die Frage hinzu: “Warum griff die eigentlich selbstverständliche journalistische Gleichbehandlung von in einen Konflikt involvierten Parteien hier nicht?”

Source: http://www.agenturjournalismus.de/studie-selz.html