Die Medien haben aus den harmlosen Summit-Hoppern kriminelle Polit-Hooligans gemacht. Ein Sondertreffen der EU-Innenminister soll die Kriminalisierung der Gipfel-Gegner institutionalisieren. von verena herzog und stefanie kron
Europa rüstet sich für einen heißen Sommer. Glaubt man den Massenmedien und den europäischen Regierungen, bedroht ein neuer Typus des Terroristen die EU: der »grenzüberschreitende, kriminelle Polit-Hooligan«. So titelte die Wiener Zeitung am vergangenen Montag nach dem EU-Gipfel in Göteborg: »EU sucht Auswege gegen Gewalt«. Mit einer Bilanz von drei angeschossenen Jugendlichen, über 550 Festnahmen, zehn Abschiebungen per Charterflugzeug nach Hamburg und 51 in Untersuchungshaft genommenen Demonstranten wurden neue Standards für das Konzept der Inneren Sicherheit auf europäischer Ebene gesetzt.
Entgegen den Darstellungen der schwedischen Polizei, die behauptet, während der Proteste in Göteborg aus Notwehr geschossen zu haben, erklären EU-kritische Gruppierungen wie die Stockholmer Antifa AFA, die Sicherheitskräfte hätten ohne Anlass das Feuer auf die Demonstranten eröffnet. Außerdem seien die meisten Festnahmen schon vor den geplanten Gegenaktionen erfolgt. Auch der Berliner Rechtsanwalt Volker Ratzmann, der die sechs Berliner Aktivisten unter den Inhaftierten vertritt, gegen die unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs ermittelt wird, ist der Meinung, dass die Beweise gegen seine Mandanten »eher dünn« seien. Ein erster Haftprüfungstermin ist für den 29. Juni angesetzt.
Für viele Gipfel-Gegner aus EU-Staaten war die Reise allerdings schon kurz vor Göteborg beendet. Der deutsche BGS habe seinen schwedischen Kollegen »detaillierte Informationen« über sie zukommen lassen, die sie als bekannte Gewalttäter auswiesen, berichteten zehn nach Hamburg Abgeschobene. Zudem wurden vor allem Akten von Personen, deren Verfahren schon vor langer Zeit eingestellt worden waren oder mit einem Freispruch geendet hatten, an die schwedischen Behörden gesandt.
Die Reaktionen zahlreicher europäischer Regierungen auf die Ereignisse während des EU-Gipfels legen indes die Vermutung nahe, dass sie lediglich einen willkommenen Anlass boten, um sich, wie die Wiener Zeitung schreibt, »auf die Suche nach einer gemeinsamen Strategie gegen herumreisende Gewalttäter« zu begeben. Schweden und Österreich wollen das Demonstrationsrecht einschränken. Am 13. Juli wird eine Sondersitzung der EU-Innenminister stattfinden, bei der es vor allem darum gehen soll, wie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei verbessert und die Einreise von militanten Demonstranten verhindert werden kann.
Schließlich war Göteborg nur der Auftakt zu einer regelrechten Gipfelserie in Europa. »Zünden sie jetzt Salzburg an?« fragte besorgt die Welt am Sonntag. Denn am Wochenende tagt das Weltwirtschaftsforum Osteuropa, ein Ableger des Davoser Weltwirtschaftsforums, in der österreichischen Stadt. Auch das Treffen der G 8 am 20. bis 22. Juli im norditalienischen Genua rückt näher. Deshalb nimmt man, um die Demonstranten fernzuhalten, inzwischen sogar Einbußen beim sommerlichen Tourismusgeschäft in Kauf. Mit dem Beginn der ersten großen Reisewelle aus Deutschland am Montag dieser Woche hat die österreichische Regierung für sieben Tage die Schengener Abkommen außer Kraft gesetzt und lässt an den Grenzen zu Italien und der Bundesrepblik wieder Kontrollen durchführen. Dies sei »zwangsläufig Fol-
ge des linksextremistischen grenzüberschreitenden Gewalttourismus«, stimmte Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) der Entscheidung in Wien zu. In Salzburg selbst sind bis auf eine Demonstration am Samstag alle Kundgebungen verboten worden. Zudem denkt man laut darüber nach, die Polizei wie in Göteborg mit scharfer Munition auszurüsten.
Nicht nur die deutsche, sondern auch die spanische und die italienische Regierung begrüßten den ungewöhnlichen Umgang mit den Schengener Abkommen. Die Spanier, die erst Anfang 2002 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen werden, verkündeten, dass auch sie während des EU-Gipfels wieder die Ausweispapiere der Einreisenden verlangen werden. Ganz besonders interessiert an den Erfahrungen der österreichischen Behörden mit den temporären Grenzkontrollen ist jedoch Italien. Am Montag nach dem Gipfel in Schweden überlegte die neue Regierung von Silvio Berlusconi sogar kurzzeitig, den bevorstehenden G 8-Gipfel auf einem Militärstützpunkt stattfinden zu lassen oder die Teilnehmer auf einem Luxusdampfer übers Mittelmeer zu schippern.
Die italienischen Behörden jedenfalls rechnen mit dem Schlimmsten. So berichtet die Welt am Sonntag von angeblichen Erkenntnissen des italienischen Geheimdienstes, dass »die Politik-Hooligans sogar einzelne Polizisten als Geiseln nehmen wollen«, um sie anschließend als »menschliche Schutzschilde« einzusetzen. Und nach Angaben der genuesischen Zeitung Secolo XIX wurden im Rahmen der Gipfelvorbereitungen 200 so genannte Body Bags bestellt, und ein 500 Quadratmeter großer Kühlraum wurde als Leichenhalle angemietet.
Man wolle sich doch nicht durch ein »ideologisches Tuttifrutti« die Arbeit »eines ganzen Jahres und Investitionen von 100 Millionen Euro zerstören« lassen, polterte Genuas Bürgermeister, Giuseppe Pericu. Vor allem aber möchte sich Berlusconi bei der Zusammenkunft der G 8-Regierungschefs im barocken Pallazzo Ducale im historischen Zentrum von Genua seinen glamourösen ersten Auftritt auf dem internationalen politischen Parkett nicht nehmen lassen. Das Treffen werde um jeden Preis in Genua stattfinden, versicherte Innenminister Claudio Scajola, und zwar unterm Einsatz von 20 000 Polizisten, 15 Armeehubschraubern, vier Militärflugzeugen und sieben Schiffen der Marine. Für gewöhnliche Reisende wird die Stadt nahezu hermetisch abgeriegelt sein.
Was Pericu despektierlich als ideologischen Fruchtsalat bezeichnet, ist tatsächlich eine äußerst heterogene Sammlung von Globalisierungsgegnern. Und nur zaghaft beginnt sich auch in Deutschland eine Debatte über die politischen Differenzen zu entwickeln. Denn während die einen den Neoliberalismus nur als eine Variante der grundsätzlich in Frage zu stellenden kapitalistischen Herrschaftsform betrachten, geht es den anderen um mehr oder weniger radikale Reformen am bestehenden System.
Stellvertretend für diese zweite Gruppe steht das von linkskeynesianistischen Intellektuellen ins Leben gerufene und inzwischen auch in der Bundesrepublik aktive europäische Netzwerk Attac. Um die weltweit wachsende soziale Ungleichheit zu bekämpfen, soll nach Meinung von Attac der Nationalstaat als politisches Regulativ gegenüber den internationalen Finanzmärkten gestärkt werden.
Eine anti-institutionalistische und staatskritische Strömung, zu deren bekanntesten Vertretern das Nord-Süd-Netzwerk People Globals Action (PGA) zählt, macht sich hingegen für die weltweite Vernetzung lokaler Kämpfe stark. Auch die Berliner Gruppen Fels oder Schall & Rauch fassen ihre Kritik weiter als Attac. Sie sehen das neoliberale Projekt als eine umfassende kapitalistische Inwertsetzung aller Lebensbereiche. Zudem will man den Widerstand gegen die vorherrschende Politik um eine grundsätzliche Auseinandersetzung über das Verhältnis von Staat und Ökonomie erweitern.
Die hysterische Mobilmachung gegen das Bedrohungsszenario »krimineller Extremisten, die politische Gipfeltreffen für ihre Verbrechen« nutzen, wie Beckstein meint, beschränkt sich unterdessen nicht mehr auf die so genannten Summit-Hopper. Nachdem der Bundesnachrichtendienst (BND) die groteske Vermutung äußerte, der Islamist Ussama Bin Laden unterstütze europäische Neonazi- und Skinheadgruppen, damit diese Anschläge in Genua ausführen, kündigte das US-amerikanische Verteidigungsministerium an, »jeden Pflasterstein in Genua mit eigenen Militärsatelliten zu überwachen«.
[http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/27/12a.htm]