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2003-07-25

Repressionen går vidare - Zwei Jahre Schwedisches Modell

Am 14. Juni jährt sich zum zweiten Mal das EU-Gipfeltreffen und der zeitgleiche Besuch des US-Präsidenten Bush im schwedischen Göteborg. Blickt man auf den Gipfel im Juni 2001 zurück, so verblast die Momentaufnahme des vielseitigen globalisierungskritischen Protestes hinter dem brutalen Vorgehen der schwedischen Polizei und der nachfolgenden Repressionswelle gegen AktivistInnen in Schweden und dem benachbarten Ausland. Was seitens der sozialdemokratischen Gastgeberregierung als schwedisches Modell angedacht war, nämlich ein Deeskalationskonzept, das einen "störungsfreien" Ablauf des Gipfeltreffens garantieren und trotzdem Platz für Proteste lassen sollte, endete mit über 250 Verletzte und mehr als 600 Verhaftungen bzw. Ingewahrsamnahmen, mit Schüssen auf DemonstrantInnen und mit in einer in Schweden nie da gewesenen Repressionswelle. Auch umfasst das schwedische Modell die Kriminalisierung der so genannten globalisierungskritischen Bewegung bzw. die Spaltung dieser in "Gut" und "Böse" und lässt ahnen, wie gut die Zusammenarbeit der Ermittlungs- und Strafinstitutionen auf EU-Ebene funktioniert.

Die letzten beißen die...

Prozesse in Schweden

Bisher sind in Schweden sechzig Urteile im Zusammenhang mit den so genannten "Göteborg-Krawallen" gefällt worden. Die meisten Prozesse endeten mit langen Haftstrafen bei der die durchschnittliche Haftdauer mittlerweile bei knapp einem Jahr liegt. Nur wenige Verfahren endeten mit Freispruch oder Einstellung.

Die ersten Prozesse gegen AktivistInnen fanden in Göteborg unmittelbar nach dem Gipfeltreffen statt. Betroffen waren Personen, die während des Gipfels verhaftet worden waren und zum Teil seitdem in Untersuchungshaft saßen. Das erste Urteil wurde am 16. Juli 2001 gefällt und brachte dem Deutschen Sebastian S. ein Jahr und acht Monate Gefängnis inklusive einem Einreiseverbot für zehn Jahre.

Die Prozesse wurden - wie in Schweden in erster Instanz üblich - vor Schöffengerichten verhandelt. Die harschen Urteile standen stark unter dem Einfluss der Diffamierungen durch Medien und Regierungsstellen. Oft nutzte die Staatsanwaltschaft die Gelegenheit und sorgte mit Videovorführungen, die Bilder von den Krawallen zeigten, aber in keinem Zusammenhang mit den gerade verhandelten Fällen standen, für die nötige Stimmung. Auch machten RichterInnen keinen Hehl aus dem Verurteilungswillen, sahen über Verfahrensfehler und Unstimmigkeiten bei Zeugenaussagen und Beweismaterial hinweg und ließen dem manipulativen Spiel der Staatsanwaltschaft seinen Raum.

Immer wieder tauchten in den Urteilsbegründungen politisierende Einlagen über die vermeintliche Gesinnung der Angeklagten auf, die meist auch eine härtere Strafe zur Folge hatten. Nicht nur deshalb sprechen schwedische ProzessbeobachterInnen von politisch motivierten Urteilen.

Die Göteborg-Urteile stellen einen Bruch in der schwedischen Rechtspraxis dar. War es seit Mitte der neunziger Jahre gang und gäbe, dass Urteile für den eher seltenen "våldsamt upplopp" (gewalttätiger Aufruhr), der schwedischen Variante des schweren Landfriedensbruchs, auf eine Bewährungsstrafe hinausliefen, so rechtfertigt dieser Paragraph nun langjährige Haftstrafen. Nur wenige der Anklagen im Zusammenhang mit den Ausschreitungen hatten nicht den "våldsamt upplopp" zum Gegenstand.

Traurige Berühmtheit erlangte der Prozess gegen acht Jugendliche, die am ersten Tag der Gipfels verhaftet und drei Monate lang in Untersuchungshaft gesteckt wurden. Ihnen wurde vorgeworfen die Ausschreitungen als "Verbindungszentrale" gesteuert zu haben. Die einzigen Beweise waren zwei SMS-Nachrichten, in denen aufgerufen wurde, den in der Hvitfeldska eingeschlossenen GenossInnen zur Hilfe zu eilen. Ein Göteborger Schöffengericht genügte dies für eine Verurteilung zu bis zu vier Jahren Haft. Ein einziger Empfänger einer dieser SMS-Nachrichten konnte ermittelt werden. Er erhielt letztendlich eine Verurteilung wegen Rädelsführerschaft, weil er durch bloßes Winken 500 AktivistInnen (!) befehligt haben soll. Zur Zeit sitzt er immer noch seine Haftstrafe von zwei Jahren und vier Monaten ab.

Im Januar 2002 kam es zu einer Wenden bei den Göteborg-Urteilen. Das in Stockholm angesiedelte schwedische Oberste Gericht überprüfte erstmalig ein im Zusammenhang mit dem EU-Gipfel gefälltes Urteil. Das Gericht beschränkte sich darauf das Strafmaß zu überprüfen, nicht jedoch die Beweislage und die Urteilsbegründung. In Folge dessen kam es zu mehreren Revisionsverfahren, die damit endeten, dass viele Haftstrafen erheblich gekürzt wurden. Gleichzeitig wurden aber auch die Urteilsbegründungen, die stellenweise auf Falschaussagen und auf manipulierten Beweismaterialien basieren, von höchster Instanz legitimiert. Auch kam dieser Schwenk in der Strafbemessung für viele Verurteilte zu spät, da er keinen Einfluss auf bereits rechtskräftig gewordene Urteile mehr hatte.

Während die ersten Prozesse anliefen, waren Polizei und Staatsanwaltschaft damit beschäftigt das umfangreiche Foto- und Filmmaterial, das zum größten Teil von der Polizei aufgenommen wurde, aber auch von JournalistInnen und Privatpersonen stammte, auszuwerten. Hierbei kam Software zum Einsatz, die für Ermittlungen im Bereich Kinderpornographie entwickelt wurde. So konnten Einzelpersonen trotz Vermummung in Aufnahmen von Menschenmengen ausfindig gemacht werden. Anhaltspunkte, nach denen die Software die Bilder absuchte, waren Auffälligkeiten der Bekleidung, wie z.B. Schuhe, Aufnäher, auffäliger Schmuck, aber auch eher kleinere Details wie Knöpfe, Reißverschlüsse und Etiketten an der Kleidung oder auch das Umkrempeln der Hose.

Als Folge der Ermittlungen kam es zu einer erneuten Repressionswelle mit mehreren Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in Schweden. Auch kam ein weiteres Werkzeug aus dem Arsenal der EU-Strafverfolgung zum Einsatz: Im Mai 2002, nachdem die schwedischen Ermittlungsbehörden bekannt gab, dass die Auswertung des Filmaterials von Göteborg beendet sei, trat der Göteborg Staatsanwalt Thomas Ahlstrand an die Öffentlichkeit und erklärte, dass sieben Deutsche identifiziert worden seien, die nun mit einer Anklageerhebung in ihrem Herkunftsland zu rechnen hätten. Später kamen zu den sieben Deutschen noch Personen aus Norwegen, Finnland, Dänemark und den Niederlanden hinzu, so dass es nun insgesamt achtzehn Anklageerhebungen außerhalb Schwedens geben sollte. Im Sommer/Herbst 2002 kam es dann zu den ersten Hausdurchsuchungen und Vorladungen in Deutschland.

Europäischer "Verfahrensexport"

In Berlin gab es bereits zwei Verurteilungen in Folge dieser deutsch-schwedischen Amtshilfe. So wurde Timm E. am 27. März diesen Jahres wegen schweren Landfriedensbruchs vom Landesgericht Moabit zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Anschließend zu einer Hausdurchsuchung in seiner Wohnung wurde Timm im Februar aufgrund angeblicher Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genommen und musste dort 34 Tage verbringen. Wäre Timm von einem schwedischen Gericht verurteilt worden, so kann sicherlich davon ausgegangen werden, dass es härter ausgefallen wäre. Vergleichbare Fälle in Schweden resultierten dort in zwei Jahren Haft ohne Bewährung. Dennoch ist dieses Urteil für Berliner Verhältnisse hart ausgefallen. Laut Angaben von ProzessbeobachterInnen und Timms Verteidiger sei bei dem Richter ein Verurteilungswille erkennbar gewesen. Darüber, ob das in dem Amtshilfegesuch seitens der schwedischen an die deutschen Ermittlungsbehörden angedeutete öffentliche Interesse an einer Verurteilung Einfluss auf den Prozess hatte, kann nur spekuliert werden. Fakt ist aber, dass Staatsanwalt Ahlstrand den Deutschen die schwedische Rechtspraxis übertrieben hart dargestellt hat. Dies musste er gegenüber schwedischen Medien einräumen.

Der zweite Prozess fand am 20. Mai wieder vor dem Landesgericht Moabit statt. Das Urteil endete recht glimpflich: Der zur Tatzeit siebzehnjährige Angeklagte wurde wegen Sachbeschädigung zur Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs verurteilt. Angeklagt war er aber wegen schweren Landfriedensbruch. Bemerkenswert bei diesem Fall ist, dass der Verurteilte weder in Göteborg selbst noch auf der Hin- oder Rückfahrt kontrolliert, geschweige denn in Gewahrsam genommen wurde.

In Bremen kam es im August 2001 auch zu einer Hausdurchsuchung und Anklageerhebung, die diesen Mai mit einem Strafbefehl endete. Der Beschuldigte wurde wegen schweren Landfriedensbruch und Körperverletzung zu einem Jahr Haft auf drei Jahre Bewährung verurteilt.

In Deutschland kamen zu den sieben Ermittlungsverfahren bzw. Anklageerhebungen als unmittelbare Folge der schwedischen Untersuchungen noch weitere Verfahren hinzu. Mittlerweile sind mindestens zwölf Personen ins Visier deutscher Ermittlungsbehörden geraten. Die zusätzlichen Verfahren lassen sich auf Ermittlungen des Landeskriminalamts (LKA) Berlin zurückführen, dass eigenständig die Ermittlungen wegen Göteborg weiterführt(e). Einerseits setzten die Ermittler bei den in Göteborg selbst Verhafteten an. So wurden Verbindungsnachweise von deutschen Mobiltelefonunternehmen herangezogen, um die "Reisegruppe" der Betroffenen zu ermitteln. Anderseits scheint das LKA Berlin schwedisches Beweismaterial mit eigenen Datensätzen abgeglichen zu haben.

Der "Export" von Anklagen setzt unter anderem voraus, dass die vermeintliche Straftat in beiden Ländern gleichwertig strafbar sein muss. In einem Fall misslang dieser Transfer. Der Aktivist T. aus Frankfurt a.M. wird verdächtigt an einem Ausbruchsversuch aus der Hvitfeldska-Schule, die als Unterkunft diente und bereits am ersten Tag des Gipfeltreffens von Polizei umstellt und später gestürmt wurde, teilgenommen zu haben. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft beantragte eine Hausdurchsuchung, was aber über zwei richterliche Instanzen abgelehnt wurde. Die Untersuchungsrichter sahen in dem schwedischen Beweismaterial keine individuelle Beteiligung von T. an einem schweren Landfriedensbruch.

Diese Nichtübertragbarkeit kann aber auch zum Bumerang werden. Gegen den niederländischen Aktivisten Maarten B. aus Amsterdam liegt ein Auslieferungsantrag der schwedischen Justiz vor. Maarten soll in Göteborg einen Polizeibeamten angegriffen haben und an einen schweren Landfriedensbruch beteiligt gewesen sein. Einen dem Landfriendensbruch vergleichbaren Straftatbestand gibt es in den Niederlanden aber nicht. Wahrscheinlich aus diesem Grund strebt die schwedische Justiz eine Auslieferung nach Schweden an, die dazu führte, dass Maarten am 4. Juni einen Tag in Untersuchungshaft genommen wurde. Eine Haftprüfung konstatierte, dass keine Fluchtgefahr vorliege, so dass Maarten unter Meldeauflagen auf freien Fuß auf ein Verhör durch die schwedische Staatsanwaltschaft in den Niederlanden warten kann. Eine Auslieferung Maartens nach Schweden würde vor dem Hintergrund der bisherigen schwedischen Rechtssprechung trotz hinlänglichen Entlastungsmaterials einer Verurteilung gleichkommen.

Dass die Göteborg-Repression über die schwedischen Staatsgrenzen hinweg geschwappt ist, bedeutet nicht, dass das juristische Nachspiel in Schweden vorbei wäre. Noch immer beschäftigt das Kapitel Göteborg die schwedischen Gerichte. Ebenso sind die Ermittlung in Schweden noch nicht abgeschlossen. Laut schwedischen Berichten sind Polizei und Staatsanwaltschaft in Göteborg wieder damit beschäftigt, weitere Personen zu identifizieren und Anklagen anzustreben.

Den massenhaften Verurteilungen von AktivistInnen steht die so gut wie nicht erfolgte juristische Aufarbeitung des Polizeieinsatzes gegenüber. Bis dato sind keine Urteile gegen Polizeibeamte gefällt worden. Es gab mehrere Versuche sowohl einzelne Beamte als auch spezielle Einsätze juristisch anzugehen. Insgesamt wurden nach dem Gipfel 170 Anzeigen gegen PolizistInnen eingereicht. Nur ein Verfahren kam bisher über das Stadium der Voruntersuchung hinaus. Angeklagt waren vier Einsatzleiter, die vor Ort die Stürmung der Schillerska Schule, leiteten. Die Schillerska war eine weitere Schule, die von der Gemeinde als Unterkunft zur Verfügung gestellt wurde und am Ende des Gipfels von einer mit Maschinengewehren bewaffnete Antiterror-Einheit der Polizei gestürmt wurde, da die Polizei Hinweise erhalten haben soll, dass sich dort ein mit "mehreren Handfeuerwaffen" bewaffneter "deutscher Terrorist" aufhalten sollte. Waffen oder Terroristen konnten nicht ausfindig gemacht werden. Vorgeworfen wurde den Einsatzleitern Freiheitsberaubung, da sie während des Einsatzes 48 schwedische StaatsbürgerInnen länger als nötig festgehalten haben sollen. Das Verfahren endete mit Freispruch.

Die Ermitllungen betreffend der Schüsse auf DemonstrantInnen verliefen ebenfalls im Sande. Zwar wurde in den Vorermittlungen konstatiert, dass die Polizisten, die die Schüsse abfeuerten, nicht in Notwehr handelten, trotzdem wurde am 28. Mai 2003 die Vorermittlung gegen die Schützen zum dritten Mal eingestellt.

Internationale Solidarität vs. Internationale Amtshilfe

Auf EU-Ebene betrachtet gibt Göteborg einen Vorgeschmack, wie in Zukunft die Zusammenarbeit zwischen den Ermittlungsbehörden aussehen wird. Hier gilt es dieser neuen Form der Repression etwas entgegen zusetzen. Es hat sich gezeigt, das es nicht mehr ausreicht international zu einschlägigen 'Events' wie Gipfeltreffen zu mobilisieren und bestenfalls ein mehrsprachig besetztes Rechtshilfe-Notfalltelefon vor Ort einzurichten. Während es für staatlichen Institutionen fast schon nur eines Telefonates bedarf, um ihre Repression zu globalisieren, scheitert es bei uns oft an grundlegend Sachen, wie sprachliche Barrieren oder Unkenntnis von AnsprechpartnerInnen. Ein erster Schritt könnte die Verbesserung der Vernetzung von Antirepressionsstrukturen und des Informationenaustausch über nationalstaatliche Grenzen hinaus sein.
Spendenkonto für die in Deutschland Betroffenen:

Rote Hilfe e.V., Berliner Bank, K.-Nr.: 718 959 9699, BLZ 100 200 00, Stichwort "Göteborg"

Spendenkonto in Schweden:

K.-Inh.: "Nisse Lätts Minnesfond", Bank: PostGirot, SE-105 00 Stockholm, K.-Nr.: 276 02-2 SWIFT-Code: PGS ISESS Stichwort: "Gothenburg Solidarity"

(Dieser Artikel erschien im Bremer Kassiber Nr.53/Juli 2003 - Stadtzeitung für Politik, Alltag, Revolution.)

[Ermittlungsausschuss Bremen, eabremen(ät)nadir.org, c/o Infoladen, St. Pauli-Str. 10/12, 28203 Bremen]


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