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Über die Notwendigkeit einer Wiederentdeckungak - analyse & kritik - 20.1.2006 Globale Landwirtschaft und die Macht kapitalistischer Agrarindustrie So erfreulich die Tatsache an sich war, es hatte etwas Eigentümliches, streckenweise auch Befremdliches, mit welcher Ausführlichkeit und freimütigen Sachlichkeit (nicht nur) die Mainstream-Medien dem Themenkomplex globale Landwirtschaft vor und während der WTO-Tagung in Hongkong im Dezember 2005 Aufmerksamkeit zollten. Kaum zu übersehen war allerdings auch, dass dies ohne nennenswertes Zutun größerer Teile der Bewegungslinken erfolgt ist. Vielmehr blieb es hier zu Lande (wie bereits in den vergangenen Jahren) vor allem attac und Resten der BUKO, einigen wenigen NGOs sowie kleinbäuerlichen Zusammenschlüssen, z.B. der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft, überlassen, diesbezüglich überhaupt so etwas wie kritische Öffentlichkeit herzustellen, mithin zu simulieren. Die Zeiten scheinen längst vergessen, als sich ganze Generationen junger Linker nicht zuletzt an der so genannten Hungerfrage (und somit an der Macht kapitalistischer Agrarindustrie) politisierten, meist sogar radikalisierten. Exemplarisch erwähnt seien in dieser Hinsicht der 1975 erstmalig veröffentlichte Klassiker "Vom Mythos des Hungers", die Film-Doku "Septemberweizen" über die (mittlerweile verblichene) Marktmacht von Getreidehändlern und das heute noch (in vielen Abschnitten) aktuelle BUKO-Handbuch "Wer Hunger pflanzt und Überschuss erntet" (1987). Eingebettet sind diese Aufklärungsbemühungen stets in konkrete politische Arbeit gewesen, nicht nur kampagnenförmig, etwa durch die von der BUKO lancierte Kampagne "Stoppt Futtermittelimporte", sondern auch praktisch-solidarisch, sei es beim Brigadeneinsatz auf dem Feld in Nicaragua oder durch den Aufbau direkter Vermarktungsstrukturen für Kaffee und andere Produkte (Stichwort: Sandino-Dröhnung). Politischer Höhepunkt dürfte die Anti-IWF-Kampagne 1988 gewesen sein; die unmittelbaren Auswirkungen der IWF-Strukturanpassungs- programme wurden seinerzeit insbesondere anhand der (Ernährungs-) Situation sowohl von Kleinbauern und -bäuerinnen als auch der subalternen Klassen in den Städten bzw. slum-cities verdeutlicht. 30 Mio. Hungertote sind eine politische Herausforderung Erstens gilt es weiterhin, die barbarische, jede konkrete Vorstellungskraft sprengende Zahl von jährlich ca. 30 Mio. Hungertoten weltweit als politische Herausforderung zu be- greifen, sie taugt nicht als diskursiver Einsatz, weder um Aktivismus zu erpressen, noch politische Indifferenz zu recht- fertigen. Zweitens: Landwirtschaft ist im globalen Maßstab immer noch die dominante Realität schlechthin - konkreter: Weltweit lebt etwas mehr als die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung von der Landwirtschaft, ob als (subsistenzorientierte) Kleinbäuerinnen und -bauern oder als LandarbeiterInnen. Drittens steht globale Landwirtschaft für zahlreiche weitere Problemkomplexe. Beispielhaft genannt seien nur die massiven ökologischen (und somit sozialen) Verwerfungen im Zuge kapitalistischer Agrarindustrie oder Landflucht, zu deren Kehrseiten unter anderem die Existenz gigantischer, jeder Beschreibung spottender slum-cities im globalen Süden gehört (s.u.). Für das Recht auf Ernährungssouveränität 1. Seit den frühen 1980er Jahren hat der IWF im Rahmen seiner Strukturanpassungsprogramme zahlreiche Länder des globalen Südens zur Reduzierung von Lebensmittelsubventionen, zur weitgehenden Aufgabe staatlicher Infrastrukturleistungen im landwirtschaft- lichen Sektor (z.B. staatliche Vertriebsstrukturen, von denen vor allem Kleinbauern und -bäuerinnen profitiert haben), zur umfas- senden Öffnung ihrer Agrarmärkte und zur Ausrichtung landwirt- schaftlicher Produktion auf cash-crop-Exportprodukte wie z.B. Kakao, Zuckerrohr oder Baumwolle gezwungen (hinter Letzterem stand das Interesse, dass die betroffenen Länder die für ihre Schulden- tilgung erforderlichen Devisen verdienen mögen). Im Gegenzug haben die EU und die USA das genutzt, ihre systematisch erzeugten Agrar-Überschüsse loszuschlagen: Mittels Exportsubventionen wurden die Märkte der betreffenden Länder mit Getreide, Milchprodukten, Zucker, Fleisch etc. zu Dumpingpreisen überschwemmt. Folge war, dass viele Kleinbauern und -bäuerinnen (auch aus anderen Ländern des globalen Südens) ihre Produkte nicht mehr losschlagen konnten und Pleite machten. (vgl. ak 500) 2. Das im Rahmen der WTO 1995 abgeschlossene Agrarabkommen hat die durch den IWF hervorgebrachten Verhältnisse einerseits im globalen Maßstab verankert, andererseits vertieft und unumkehrbar gemacht. Ein einfaches Beispiel möge dieses Zusammenspiel illustrieren: Zwischen 1990 und 2000 wurden die Zölle auf landwirtschaftliche Produkte in den Ländern des globalen Südens von 30 Prozent auf 18 Prozent gesenkt: Diese Reduzierungen waren zu 66 Prozent IWF- Vorgaben, zu 25 Prozent dem WTO-Agrarabkommen und zu 10 Prozent anderen Freihandelsabkommen geschuldet. 3. Sämtliche Phasen der Agrar-Wertschöpfungskette sind von jeweils wenigen transnationalen Konzernen bestimmt - mit katastrophalen Auswirkungen für die kleinbäuerlichen ProduzentInnen: 4. Durch gezielte Ausweitung der auf Großplantagen betriebenen Exportproduktion (s.o.), Übertage-Goldabbau, Ölpipelines, Großstaudämme etc. - alles Maßnahmen, die nicht selten im Namen von IWF und Weltbank erfolgen - werden Kleinbauern und -bäuerinnen systematisch von ihrem Land vertrieben. Ohnehin bestehende Verteilungsungerechtigkeiten in Sachen Land werden dadurch ver- schärft, zumal IWF und Weltbank nichts unversucht lassen, um- fassende Landreformen aus prinzipiellen (d.h. politischen) Gründen zu verhindern. Im Zangengriff von IWF, WTO und transnationaler Konzerne 1. Hunger: Etwa 850 Mio. Menschen hungern weltweit, ca. 30 Mio. sterben jährlich, davon ungefähr 6 Mio. Kinder. Weitere Konse- quenzen sind unter anderem Kleinwüchsigkeit, Blindheit und stark eingeschränkte Arbeitsfähigkeit. 80 Prozent der Hungernden sind (landlose) Klein(st)bauern und -bäuerinnen, 20 Prozent lebt in der Stadt, meist Menschen, die vom Land geflohen sind. Hunger ist stets das Ergebnis komplexer Prozesse, auf keinen Fall sollte er als Mengenproblem beschrieben werden (Stichwort: "Vom Mythos des Hungers"). 2. Die in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten forcierten Umstrukturierungsprozesse in der Landwirtschaft enden immer häufiger im weitgehenden Verlust kleinbäuerlicher Existenzgrund- lagen und somit in (absoluter) Armut. Das gilt - bei allen Niveau- Unterschieden - für Kleinbauern und -bäuerinnen im Süden genauso wie im Norden. Denn überall stehen diese unter massivem Konkur- renzdruck; auch in der EU ist das endgültige Aus für die Mehrzahl kleinbäuerlicher Betriebe nur noch eine Frage der Zeit. Dies sich in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, ist wichtig. Denn der eigentliche Interessensgegensatz verläuft nicht - wie immer wieder suggeriert - zwischen Norden und Süden, sondern zwischen einer- seits agrarindustrieller und andererseits kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Während z.B. in der EU ein Großteil der Agrar- Subventionen in die Taschen agrarindustrieller Großbetriebe und der weiterverarbeitenden Nahrungsmittelindustrie (Molkereien, Zuckerraffinerien, Schlachtereien etc.) fließt, sind es im Süden allenfalls die großen cash-crop-Plantagenbesitzer, die von Marktöffnungen im Norden profitieren. Letzteres ist z.B. auf dem Zuckerweltmarkt zu beobachten: Dort stehen sich brasilianische Zuckerbarone und kleinbäuerliche ZuckerproduzentInnen (unter ande- rem aus zahlreichen afrikanischen Ländern) unversöhnlich gegen- über. Derartige Süd-Süd-Interessensgegensätze zu betonen, heißt im übrigen nicht, die Tatsache zu leugnen, dass die KonsumentInnen im Norden hochgradig von den Machtungleichgewichten auf den globalen Agrarmärkten profitieren, nicht zuletzt in Gestalt niedriger Preise. 3. Sowohl die radikalen Marktöffnungen als auch die Ausrichtung landwirtschaftlicher Produktion auf cash-crop-Exportprodukte haben die Importabhängigkeit der betroffenen Länder massiv erhöht: So ist z.B. in Kenia der Wert der Nahrungsmittelimporte in den ersten drei Jahren nach In-Kraft-Treten des WTO-Agrarabkommens um 30 Prozent gewachsen, in Indien sogar um 168 Prozent. Faktisch heißt das, dass aus vielen Nettoexporteuren Nettoimporteure in Sachen Nahrung geworden sind. Da im Gegenzug jedoch der Wert für die meisten cash-crop-Produkte auf den Weltmärkten massiv gesunken ist (Stichwort: terms of trade), müssen viele Länder mittlerweile beträchtliche Summen ihrer Devisen-Exportgewinne für Nahrungsim- porte aufwenden. Hinsichtlich cash-crop-Produktion sei noch angemerkt, dass deren Nutzen für die Bevölkerung tendenziell gleich Null ist. Erstens werden auf den Plantagen nur wenige und obendrein schlecht bezahlte Arbeitsplätze geschaffen, zweitens ist das Land nicht für kleinbäuerliche Nahrungsmittelproduktion verfügbar und drittens kommen die dort erwirtschafteten Gewinne vornehmlich den Plantagenbesitzern zu Gute. Die gerne zitierten trickle-down-Effekte zu Gunsten allgemeiner Infrastrukturent- wicklung u.ä. fallen demgegenüber eher läppisch aus. 4. Nahrungsmittelproduktion und -zubereitung ist auf das Aller- engste mit patriarchalen Geschlechterverhältnissen verschränkt. Konkret: Auf lokaler Ebene sind es weltweit überwiegend Frauen, die mit Nahrungsdingen zu schaffen haben. Sämtliche der hier ge- schilderten (Negativ-)Entwicklungen müssen demnach insbesondere von Frauen aufgefangen werden, sind also ohne Verschiebungen in den patriarchalen Geschlechterverhältnissen nicht denkbar. Erschwert wird die Gesamtsituation außerdem durch oftmals klas- sisch-sexistische Verhältnisse; z.B. dürfen Frauen vielerorts weder Land besitzen noch Kleinkredite aufnehmen. 5. Es ist in jüngerer Zeit vor allem Mike Davis gewesen, der die Entstehung riesiger slum-cities mit weltweit knapp 1 Mrd. (sic) BewohnerInnen auf die insbesondere durch IWF und WTO hervorge- rufene Abwanderung überflüssiger landwirtschaftlicher Arbeits- kräfte zurückgeführt hat - ein Prozess, der laut Davis auch unab- hängig davon stattfindet, dass die Städte schon lange ihren Status als Jobmaschinen eingebüßt haben. Samir Amin, Direktor des Dritte Welt Forums in Dakar, wird diesbezüglich noch deutlicher: "Eine Forcierung der Kapitalisierung der Landwirtschaft wird nämlich nichts weniger als den sozialen Genozid der Hälfte der Menschheit nach sich ziehen. Für sie gäbe es keinen Platz mehr." Das mögen zwar drastische Worte sein, sie verweisen aber darauf, dass Land- flucht im 21. Jahrhunderts anders als im Europa des 19. Jahr- hundert keinesfalls bedeutet (mit tendenzieller Ausnahme von China), automatisch ein neues Auskommen zu finden. Solcherart Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen, ist wichtig. Denn sie machen deutlich, dass die "Verteidigung" kleinbäuerlicher Landwirtschaft nichts mit rückwärts gewandter Romantisierung bäuerlicher Lebensart zu tun hat (wie in linken Zusammenhängen gerne kolpor- tiert), stattdessen jedoch mit praktischen Fragen des nackten Überlebens. 6. Industrialisierte Landwirtschaft schlägt auch ökologisch negativ zu Buche (inklusive sozialer Rückkoppelungseffekte wie Landflucht etc.). Stellvertretend seien genannt: Bodenerosion bzw. Bodenauslaugung, Versteppung, Wasserverschmutzung, Senkung des Grundwasserspiegels, Verlust von Biodiversität, Qualitätsverlust der Nahrungsmittel (nebst gesundheitlicher Folgekosten) und Wald- rodungen. Schätzungen vermuten, dass z.B. in Indien jeder US- Dollar, der aus Agrarexporten erzielt wird, einen ökologischen Schaden von etwa fünf bis zehn US-Doller verursacht. |
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