Jamal Jumaa / ROSSO
Anfang Dezember 2006 stattete die „Anti-G8-Info-Tour“ auch
Palästina einen Besuch ab und lieferte dabei ein Musterbeispiel an Ignoranz und
„alternativem“, bürgerlich-zivilgesellschaftlichem Sendungsbewusstsein. Die
Aktivisten der palästinensischen Kampagne gegen den Apartheidwall waren –
vorsichtig ausgedrückt – wenig amüsiert und der Koordinator der Kampagne, Jamal
Jumaa, verfasste eine Antwort, die dieses Verhalten nicht nur kritisiert,
sondern Informationen und Einschätzungen zu den wunden Punkten im Verhältnis deutsche
und palästinensische Linke liefert. Ein Beitrag zur Annäherung des
"Nordens" und des "Südens der Welt".
Anfang Dezember 2006 stattete die „Anti-G8-Info-Tour“ auch
Palästina einen Besuch ab und lieferte dabei ein Musterbeispiel an Ignoranz und
„alternativem“, bürgerlich-zivilgesellschaftlichem Sendungsbewusstsein. Das ist
gerade bei Leuten, die ansonsten so viel Wert auf „undogmatisches“ und
„anti-hierarchisches“ Denken und Handeln legen, ebenso peinlich wie viel
sagend.
Dokumentiert wird dieses Scheitern beim viel beschworenen
„Dialog mit dem Süden der Welt“ (bei dem eigentlich die „Stimmen aus dem Süden
mehr Gehör bekommen“ sollten und nicht die aus dem imperialistischen „Norden“!)
durch ihren eigenen Bericht auf http://info.gipfelsoli.org/Newsletter/107.html.
Dank des informationsgesellschaftlichen „globalen Dorfes“ lasen den auch die
Aktivisten der palästinensischen Kampagne gegen den Apartheidwall und waren –
vorsichtig ausgedrückt – wenig amüsiert. Erfreulicherweise schluckten sie ihren
Ärger nicht herunter, sondern verfassten – in Gestalt des Koordinators dieser
gewaltfreien Grassroots-Kampagne, Jamal Jumaa – die folgende Antwort, die vor
kurzem in englischer Sprache in der Anti-G8-Mailinglist des Dissent-Spektrums
zirkulierte, dort allerdings bislang mit Schweigen übergangen wurde. Um die
Verständigung mit der radikalen und basisdemokratischen Linken im Trikont zu
fördern, haben wir sie ins Deutsche übersetzt.
(Weitergehend Interessierte finden übrigens ein deutschsprachiges Interview mit Jamal Jumaa unter http://antifa.unihannover.tripod.com/Jamal_Jumaa_zur_Mauer.htm)
Eine Antwort aus Palästina auf die „Anti-G8-Info-Tour“
Liebe Freunde aus Deutschland,
Grüße von der palästinensischen Basiskampagne gegen den Apartheidwall!
Wir waren das Ziel / Objekt eurer „Info-Tour“ nach Palästina
und drei von uns haben ein oder zwei Stunden mit euch verbracht, um mit euch
die G8-Mobilisierung zu diskutieren. Ich schätze wir hätten uns die Zeit sparen
sollen. Ich schätze ihr hättet eure Zeit und euer Geld sparen können, und
einfach von vornherein nicht kommen sollen, wenn es überhaupt eure Absicht war,
diejenigen einzubinden, die in erster Linie von der Besatzung betroffen sind (wie
ihr es in Eurer Auswertung behauptet, siehe http://info.gipfelsoli.org/Newsletter/107.html).
Euer Bericht zeigt deutlich, dass ihr nicht in der Lage wart, die Kämpfe des
palästinensischen Volkes ernst zu nehmen, geschweige denn zu verstehen. Wenn
unser politisches Verständnis und unser Handeln von euren Bemühungen abhinge,
wäre euer Bericht ausreichend, um auch diejenigen palästinensischen
Organisationen zu entmutigen, die seit Jahren in Protestaktionen gegen
internationale Gipfeltreffen involviert sind.
Zum Glück ist das palästinensische politische Bewusstsein
viel tiefer, viel verständiger und hat leider lange genug Erfahrung mit
kolonialistischen Geisteshaltungen (mindsets) innerhalb des westlichen
„globalen Aktivismus“, um zu wissen, das es seinen eigenen Weg gehen muss, in
Zusammenarbeit mit all denen, die zu echter Solidarität, Respekt und
Gleichberechtigung fähig sind und auf diese bauen.
Nach einem langatmigen Bericht von Treffen mit israelischen
Gruppen, in dem ihr deren tiefes Verständnis für Veganismus und Tierrechte
lobpreist, fangt ihr an eure Meinung zum palästinensischen Kampf zu äußern.
Ihr sagt: „Wir waren nicht in der Lage basisdemokratische,
anarchistische oder kommunistische Gruppen in Ramallah und Jenin zu treffen.“
Nun, ihr habt eine Menge Zeit im Koordinationsbüro einer basisdemokratischen /
Grasswurzel-Kampagne damit verbracht, zwei ihrer wichtigsten Aktivisten zu
treffen. Ihr offensichtlich nicht, aber andere mögen daran interessiert sein zu
erfahren, dass die Kampagne auf dem Kampf von Dutzenden lokaler Komitees
basiert, die sich im Widerstand gegen den Apartheidwall gebildet haben.
Ihr habt keine kommunistischen Gruppen gefunden? Nun, das
ist merkwürdig, wenn man berücksichtigt, dass Kommunismus und Sozialismus in
Palästina eine Tradition von fast 100 Jahren haben und den größten Teil ihrer
Geschichte über die Vision für unseren Kampf geliefert haben. Wenn ihr für eine
halbe Stunde die Geschichte unseres Kampfes studiert hättet, bevor ihr hier her
kamt, oder einen palästinensischen Flüchtling in Deutschland gefragt hättet,
hättet ihr die Namen von und Kontakte zu den palästinensischen kommunistischen
und sozialistischen Parteien erhalten. (Nebenbei, ihr braucht keine „Refugee
Chair Games“ ((#Reisen nach Jerusalem#)) mit Palästinensern zu spielen. Sie
wissen, was es heißt ein Flüchtling zu sein, da sie die größte und langlebigste
Flüchtlingsgemeinschaft der Welt sind. Ferner sollten dies auch die Leute in
Beer Sheva wissen, da sie der Grund für die Diaspora von zwei Drittel unserer
Leute sind.) Anarchisten zu finden – da geben wir euch Recht – wäre etwas
schwieriger gewesen. Ihr hättet zur Birzeit Universität gehen sollen, um eine
kleine Gruppe zu finden. Anarchismus hat keine tief verwurzelte Geschichte im
palästinensischen Kampf.
Eure Beurteilung unseres Kampfes setzt sich dann fort: „Die
Besatzung scheint keinen Platz für nicht-institutionale Bewegungen zu lassen.“
Habt ihr euch jemals bemüht, euch zu fragen, auf welcher Art von Bewegung die
erste und auch die zweite Intifada basierte? Habt ihr euch jemals bemüht, euch
zu fragen, wie Dörfer sich selbst organisierten, in Demonstrationen gegen die
Besetzung, die Mauer und all die Formen der Unterdrückung, der Enteignung und
Vertreibung? Wenn es eine Sache gibt, die unseren Widerstand nun seit fast 60
Jahren antreibt, dann ist es die nicht-institutionale Standfestigkeit und
Entschlossenheit unserer Leute nicht aufzugeben.
Um eure allumfassende „Analyse“ unserer Bewegungen und des
palästinensischen Bewusstseins zu beenden, führt ihr aus, dass ihr keine
Organisationen oder Gruppen finden konntet, die „an einem globaleren
Blickwinkel des Konflikts arbeiten oder sogar offen für andere globale Themen
sind“. Das ist schade. Ihr hättet vor dem erstbestem Flüchtlingslager stoppen
(es gibt eine ganze Reihe überall in der West Bank und im Gaza-Streifen, auch
in Ramallah und Jenin) und einen Schuljungen fragen sollen, was er über die
USA, Europa und die UN denkt. Er hätte euch eine ziemlich klare Beschreibung
der Rolle, die diese Mächte spielen, gegeben. Palästinenser finden globale
Politik auf ihrem Abendbrottisch, wenn das Geld nicht für etwas besseres reicht,
da die USA und die EU uns Sanktionen auflegen, offenbar weil wir die
demokratischen Wahlen durchführten, zu denen sie uns aufgefordert haben. Sie
sehen die UN Nahrungsmittel verteilen anstatt an ihren eigenen Resolutionen und
internationalen Gesetze festzuhalten. Sie sind geboren in einem „globaleren
Blickwinkel“ der Besatzung, die von einem komplizierten System globaler Mächte
gestützt wird.
Wir sind nicht offen für andere „globale Themen“? Ich bin
mir nicht sicher, was diese Themen sind. Nein, Veganismus ist kein Thema hier.
Wir versuchen immer noch minimale Rechte für Menschen durchzusetzen – und
teilen dies mit der großen Mehrheit der Menschen in der Welt. Der
palästinensische Kampf hat eine lange und gemeinsame Geschichte mit
lateinamerikanischen Bewegungen. Die PLO hat vor langer Zeit eine
Solidaritätserklärung mit dem südafrikanischem Kampf gegen die Apartheid
herausgegeben, die besagt, dass „Palästina solange nicht frei sein wie
Südafrika nicht frei ist“. (Und die Südafrikanischen Bewegungen erinnern sich
heute dankbar daran.) Heute schließen sich palästinensische Gruppen, Parteien
und Organisationen den Aufrufen für Ernährungssouveränität an und unterstützen
viele verschiedene Kämpfe der Unterdrückten.
Wenn ihr den Aktivisten in unserem Büro zugehört hättet,
hättet ihr erfahren, dass wir uns an den letzten G8-Protesten in Schottland und
den WTO-Protesten in Hongkong beteiligt haben. Ihr hättet erfahren können, dass
ein Aktivist unserer Kampagne - ohne unsere Hilfe – während seines Besuchs in Deutschland
und Österreich bereits diskutiert und Beziehungen aufgebaut hat, um das
G8-Treffen in Deutschland vorzubereiten.
Ihr könntet euch erinnert haben, dass die Aktivisten mit
euch Möglichkeiten diskutierten, die Themen Krieg und Besetzung innerhalb des
weiteren Kontextes von Anti-Militarismus und Anti-Globalisierung zu
integrieren, anstatt „direkte Aktion“ aus Deutschland zu importieren. (Wir
wissen selbst eine Menge über direkte Aktionen, unabhängig davon, wie wir es
hier nennen). Wir haben Analysen und Einsichten in diese Dynamiken. Wir leben
in einem System von „globalisierter Besatzung“. Im Falle, dass ihr jemals daran
interessiert wärt, könnten wir euch dieses Konzept detaillierter erklären.
Aber all das konnte wohl nicht in euer – anscheinend
voreingenommenes – Bild, von dem was Palästinenser sind und denken, passen.
In eurem Bericht übergeht ihr dies, um euch eingehend mit
unseren „Sorgen“ über euch zu befassen, weil ihr mit „pro-zionistischen“
Gruppen zusammen arbeitet, die sich nicht gegen die Siedlungen in der West-Bank
aussprechen. Ihr denkt ernsthaft, wir sollten eine „Koordination“ (wie ihr in
unserem Büro vorgeschlagen habt) mit Gruppen akzeptieren, die glauben es sei
das Recht der jüdischen (oder irgendwelcher anderen) Leute, unser Land zu
stehlen und zu kolonialisieren, unsere Leute zu vertreiben und unsere
Gesellschaft zu zerstören? Aber ihr habt es auch diesmal falsch verstanden,
unsere Sorgen gehen sehr viel weiter. Wie können wir mit Leuten
zusammenarbeiten, die sich dem Recht auf Rückkehr der Mehrheit unserer Leute
widersetzen, die seit 60 Jahren darum kämpfen, in ihre Heimat, in ihre Häuser
zurückzukehren und ihr Eigentum zurückzubekommen? Wie können wir mit Leuten
zusammen arbeiten, die an einen „jüdischen Staat“ glauben, der notwendigerweise
20% seiner Bevölkerung – die einheimischen Palästinenser, die sich der
Vertreibung erfolgreich widersetzt haben – zu Bürgern dritter Klasse
degradiert?
Offensichtlich kamt ihr hier her, um Clowns und Samba Bands
und „Refugee Chair Games“ nach Palästina zu bringen. Palästinenser haben eine
Geschichte von basisdemokratischem / Graswurzel-Kampf und direkter Aktion und
wir freuen uns, unsere Erfahrungen in gegenseitiger Solidarität mit Menschen im
Kampf auszutauschen. Aber wir sind nicht dazu da, um uns belehren zu lassen.
Vielleicht haben die Israelis in Sderot und Kiryat eurer Analyse der globalen
Politik aufmerksamer zugehört. Hätten sie je versucht, die Bedeutung und Folgen
ihrer Innenpolitik, die auf unserem Land ausgetragen wird, zuzugeben, wäre dies
sehr viel hilfreicher für uns alle gewesen. Am Ende all dessen, haben wir
allerdings doch noch etwas mehr über globale Politik gelernt. Euer Bericht ist
ein extremes Beispiel in welchem Grade Kolonialismus und Rassismus nicht nur
ein System von Institutionen ist, die auf der ganzen Welt ausbeuten, vertreiben
und besetzen, sondern wie tief sie auch im Bewusstsein von vielen verwurzelt
sind, die vorgeben dieses System zu bekämpfen.
Willkommen in Palästina und fröhliche Weihnachten,
Jamal Jumaa
(Koordinator der basisdemokratischen palästinensischen Kampagne gegen den Apartheidwall – www.stopthewall.org)
Übersetzung: Robin Hood
((Vorbemerkung und Einfügung in doppelten Klammern: * Rosso))
Robin Hood und * Rosso waren Mitglieder der Antifa-AG der
Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jährigem Bestehen Ende Oktober 2006
aufgelöst hat (siehe: http://antifa.unihannover.tripod.com/Aktuell.html).
Die Website der ehemaligen Antifa Uni Hannover (http://antifa.unihannover.tripod.com)
besteht aber weiter und bietet zahlreiche, wöchentlich neue Übersetzungen von
Interviews, Kommentaren, Berichten etc. zu den sozialen, antikolonialen und
antiimperialistischen Kämpfen sowie den Debatten der Linken in aller Welt.
Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen wegen Referaten zur politischen und sozialen Entwicklung in Italien (oder in Palästina) ab jetzt mit einer Mail an: negroamaro@mymail.ch