Schwärmereien verstellen Blick auf tatsächliche Herausforderungen
Atmosphärisch, taktisch und optisch – selbst akustisch – haben sich die G8-Gipfel-Proteste als echtes Husarenstück entpuppt. Zum unbeschwerten Frohlocken besteht dennoch kein Anlass. Zu sehr sind nicht nur im Vorfeld, sondern auch in Heiligendamm und Rostock all jene Schwächen, Befangenheiten und Defizite sichtbar geworden, welche die (bewegungspolitische) Linke hier zu Lande auszeichnen. Um so erstaunlicher ist, dass derzeit in etlichen Auswertungstexten tollkühne, mitunter kitschige Verklärungen die Runde machen.
Die Rede ist etwa von einer „Verschiebung des politischen Felds nach links“ (Thomas Seibert) oder der „Delegitimierung in der Aktion“ durch BlockG8 (Christoph Kleine) oder davon, dass die Bewegung in Heiligendamm einen Prozess der „Neuformierung“ durchlaufen habe (Benn Trott). Dies darf nicht unwidersprochen bleiben. Denn wer jetzt zweckoptimistischer, häufig postoperaistisch angehauchter Mythenbildung Vorschub leistet – aus Angst, der Erfolg könne „zerredet“ werden (Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t.), läuft Gefahr, an der Wirklichkeit vorbeizuschlittern und somit das zweifelsohne große Potential der G8-Proteste allenfalls bruchstückhaft auszuschöpfen.
Das weitestreichende Deutungsangebot in Sachen G8-Protest dürfte die von Thomas Seiberti und Werner Rätzii unabhängig voneinander ins Spiel gebrachte These einer „Linksverschiebung im politischen Spektrum“ (Werner Rätz) sein. Begründet wird dies erstens mit der großen Zahl vornehmlich junger AktivistInnen während der gesamten Aktionswoche, zweitens mit dem hohen Level medialer Aufmerksamkeit rund um den Gipfel und drittens mit dem Umstand, dass sich die unterschiedlichen Spektren und Module des G8-Protests trotz politischer Differenzen immer wieder solidarisch aufeinander bezogen hätten. Zudem gälte es, so Thomas Seibert, die erst jüngst über die Bühne gegangene Gründung der „(neo-)linkssozialistischen“ Partei Die Linke ebenfalls als bedeutsame Variable im Rahmen der aktuellen Entwicklung zu beachten.
So verlockend die Argumentation rüberkommen mag, sie ist aus mindestens zwei Gründen fragwürdig: Einerseits entwerfen Thomas Seibert und Werner Rätz – wie noch ausführlich gezeigt werden soll – ein in vielfacher Hinsicht geschöntes, mithin projektiv aufgeladenes Bild der zivilgesellschaftlichen und bewegungspolitischen Anti-G8-Landschaft. Andererseits ist ihre These der Verschiebung des politischen Felds nach links eine pure Kunstfigur. Denn eine empirisch fundierte Rückkoppelung mit den gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnissen in Deutschland bzw. Europa erfolgt nicht. Das aber wäre erforderlich, um überhaupt tragfähige Aussagen darüber treffen zu können, inwieweit die (behaupteten) Verschiebungen am linken Pol des politischen Feldes Anlass zu berechtigen Hoffnungen geben. Gemeinhin wird an dieser Stelle angemerkt, dass erfolgreiche Massenmobilisierungen a là Heiligendamm einen wichtigen Beitrag zur diskursiven Unterwanderung des herrschenden Meinungsklimas leisten und auf diese Weise Räume für emanzipatorische Weiterentwicklungen öffnen würden. Das ist sicherlich richtig, strittig ist allerdings, unter welchen Bedingungen es zu einer ‚Übersetzung’ diskursiver Punktsiege in handfeste Verbesserungen kommt.
Dass es sich mitnichten um einen Automatismus handelt, zeigt insbesondere die lateinamerikanische Erfahrung (welche auch deshalb interessant ist, weil die sozialen Bewegungen in Lateinamerika den wohl stärksten Flügel innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung verkörpern): Mit tendenzieller Ausnahme von Bolivien und Venezuela hat bislang keine der Mitte-Links-Regierungen die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, und das obwohl sämtliche von ihnen unter anti-neoliberalen Vorzeichen an die Macht gelangt sind. Zwar ist es zu einer gewissen Rehabilitierung staatlicher Regulierung gekommen, d.h. Sozialprogramme wurden neu aufgelegt, staatliche Nachfragepolitiken angekurbelt, regionale Wirtschaftsbündnisse aus der Taufe gehoben etc., doch all dies sind (bislang) Tropfen auf den heißen Stein geblieben, vorsichtige Versuche, zumindest die wüstesten Auswirkungen von zwei Dekaden neoliberaler Umstrukturierungspolitik einzudämmen. Im Kern sind hingegen wesentliche Elemente der neoliberalen Agenda fortgeführt worden: Weder wurden Marktöffnungen, Zollsenkungen oder Privatisierungen rückgängig gemacht noch die systematische Exportförderung aufgegeben. Insbesondere liegt weiterhin eine hohe Priorität auf orthodoxer bzw. restriktiver Geldmengenpolitik, also jenen Maßnahmen, die in Europa als „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ bekannt geworden sind (Inflationsbekämpfung, ausgeglichene Haushaltsführung, Erzielung von Leistungsbilanzüberschüssen etc.).
Dass sich die überwiegend von sozialen Bewegungen ins Amt gespülten Mitte-Links-Regierungen nur mit aller größter Mühe zu nicht- marktradikalen Wirtschaftspolitiken durchringen können (von mehr ganz zu schweigen), hat in erster Linie mit den berühmt-berüchtigten Sachzwängen des Weltmarktes zu tun. Denn immer noch sind die meisten Länder Lateinamerikas
a) hochverschuldet,
b) auf vielfältige Weise in die globalen Warenströme integriert,
c) vertraglich an transnationale Konzerne gebunden und
d) auf frisches Kapital aus dem Ausland angewiesen.
Das lässt nicht nur die Handlungsspielräume zusammenschnurren, sondern auch begründete Zweifel daran aufkommen, ob es wirklich gerechtfertigt ist, von einem Ende neoliberaler Hegemonie in Lateinamerika zu sprechen:
„Im gegenwärtigen Moment ist ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen zwischen einer unüberschaubaren Schwächung neoliberaler Impulse in den Bereichen der Kultur, des öffentlichen Bewusstseins und der Politik einerseits, und zur gleichen Zeit deren eingewurzelter Fortdauer auf dem entscheidenden Terrain der Wirtschaft und des ‚Policy-Making’ andererseits festzustellen“ (Atilio Boróniii).
Zurück nach Deutschland, wo ebenfalls eine komplexe, ja widersprüchliche Konstellation herrscht: Einerseits hat die Diskurshoheit des Neoliberalismus in den vergangenen Jahren reichlich Blessuren davongetragen – und es spricht vieles dafür, dass dieser Prozess durch die G8-Proteste neuen Schwung erhalten hat. Andererseits scheint das neoliberale Regime fester denn je im Sattel zu sitzen: Nicht nur auf der internationalen Ebene, wo sich Deutschland, um nur einige Beispiele zu nennen, unverdrossen für Patentschutz, Investitionssicherheit und offene Märkte ins Zeug legt – mit verheerenden Konsequenzen insbesondere im Süden des Globus. Nein, auch hier zu Lande geht die neoliberale Ummodellierung der Gesellschaft unvermindert weiter – und das unter Zustimmung beträchtlicher Teile der Bevölkerung. Beispiele aus jüngerer Zeit sind etwa die Privatisierung der Bahn, die erfolgreiche Etablierung von Niedriglohnsektoren oder die völlige Umkrempelung des Bildungssektors.
Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte deutlich werden, weshalb romantische, autosuggestiv unterwanderte Multitude-Schmonzetten schlicht in die Irre führen. Markantestes Beispiel dürfte in dieser Hinsicht die Abschlusserklärung der dritten Rostocker Aktionskonferenz gewesen sein, wo es allen Ernstes heißt: „Während ihre Zeit abläuft, fängt unsere gerade erst an. (...) Heiligendamm wird ein Anfang sein. Unser Anfang.“ Erforderlich ist stattdessen, Bestimmungen des politischen Feldes stets mit der Analyse gesamtgesellschaftlicher Dynamiken, mithin Kräfteverhältnisse zu verknüpfen. Dies umfasst auch die Bereitschaft, Dinge ungeschminkt beim Namen zu nennen, etwa dass die (globale) Linke – allen punktuellen Erfolgen zum Trotz – in der Defensive steckt. Ansonsten wird es kaum gelingen, einen angemessenen Umgang mit den anstehenden Herausforderungen zu finden. Beispielsweise mit der Frage, ob und wie es in Zeiten des zugespitzten Erwerbsarbeitszwangs gelingen kann, die durch die G8-Proteste (wieder) auf den Geschmack gekommenen älteren Semester (30 Jahre + X) niedrigschwellig in langfristige Organisierungsprozesse einzubinden. Politische Auseinandersetzungen unter expliziter Berücksichtigung der eigenen Marginalität zu führen, hat im Übrigen nichts mit Negativismus oder Selbstentmächtigung zu tun. Einerseits weil auch aus der Defensive heraus Einfluss geltend gemacht werden kann – der Begriff des Kräfteverhältnisses sagt es bereits. Andererseits weil jeder Phase der Schwäche konstitutiv eine Phase der Stärke vorausgegangen ist, und umgekehrt. Erinnert sei etwa, dass die neoliberale Globalisierungsoffensive ursprünglich eine Reaktion auf die in den 1970er Jahren entstandene Profitabilitätskrise des Kapitals war – was seinerseits viel mit Druck und (Verhandlungs-)Macht nicht nur der Länder des Südens, sondern auch der (organisierten) ArbeiterInnenschaft im Norden zu tun hatte.
Die mit mehr oder weniger Schmackes artikulierte These einer in der Luft liegenden Linksverschiebung kommt auch in überaus optimistischen Bewertungen der medialen Geschehnisse vor und während des Gipfels zum Ausdruck. Selbst Ulrich Brand vertritt in seiner ansonsten eher nüchternen Analyse der G8-Proteste die Einschätzung (ak 518), dass im Laufe der Mobilisierung „wie selten zuvor über die Anliegen der linken Bewegungen und NGOs informiert (wurde): über vielfältige Triebkräfte und Auswirkungen der kapitalistischen Globalisierung, über konkrete Kampagnen und Alternativen.“ Ins gleiche Horn stößt das Editorial der aktuellen Ausgabe des elektronischen Rundbriefs der internationalen ATTAC-Bewegung (Sand im Getriebe): „Noch nie wurden in Vorbereitung auf das G8-Treffen globalisierungskritische Themen in einer solchen Breite und manchmal auch Tiefe bis hinein in den Mainstream diskutiert.“
Sicherlich, es lässt sich schlechterdings leugnen, dass der Gipfel, mithin die Gipfelproteste im Frühsommer eine verblüffende Karriere zum medialen Shootingstar durchlaufen haben. Doch dies sollte nicht vergessen machen, dass sich nicht nur das mediale Interesse lange in äußerst überschaubaren Grenzen gehalten hat. Noch im April grassierte bei zahlreichen OrganisatorInnen die Angst, einige der hochgesteckten Ziele – insbesondere die Marke von 100.000 TeilnehmerInnen auf der Auftaktdemo am 2. Juni – könnten auf blamable Weise verfehlt werden. Zum Durchbruch ist es indessen erst durch die Hausdurchsuchungen am 9. Mai sowie die zeitgleiche Verfügung einer kundgebungsfreien Zone rund um den Sicherheitszaun nebst Sternmarsch-Verbot gekommen. Denn erst jener Doppel-Anschlag auf die zivilen und politischen Grundrechte ist es gewesen, welcher relevante Teile nicht nur der linken Öffentlichkeit, sondern auch der Medien auf Trab in Sachen G8 gebracht hat.
Der G8-Protest hat es demnach nicht durch Inhalte in die Schlagzeilen geschafft, ausschlaggebend ist vielmehr der Versuch des Staates gewesen, die Äußerung von Inhalten zu sabotieren. Unverblümter, ja schmählicher hätte die derzeitige Gebrechlichkeit der Linken nicht auf den Punkt gebracht werden können: Statt die neoliberale und imperiale Globalisierung – verstanden als zeitgenössische Form des Kapitalismus – in der Öffentlichkeit einer grundlegenden Kritik zu unterziehen, geisterte der G8-Protest ungewollterweise unter Schlagworten wie ‚Geruchsproben’, ‚Präventivhaft’ oder ‚Demoverbote’ durch den Raum. Offensivkraft konnte folglich nur noch darüber entfaltet werden, dass der bürgerliche Staat mit kräftiger Unterstützung durch die Medien – allen voran der taz – zur Einhaltung seiner eigenen Spielregeln aufgefordert wurde.
Die aus hegemonialer Sicht äußerst nützliche Degradierung globalisierungskritischer Inhalte zu bloßem Zierrat hat ihren Höhepunkt während der Gipfelwoche selbst erreicht. Deutlich ist das nicht zuletzt an den drei thematischen Aktionstagen (Globale Landwirtschaft, Migration und Krieg/Folter) geworden, welche im diskursiven Geknatter um die Auseinandersetzungen am 2. Juni, die permanenten Polizeiübergriffe und die bevorstehenden Blockaden sang- und klanglos untergegangen sind (was allerdings ihre bewegungsinterne Bedeutsamkeit kaum geschmälert hat).
Unter den liberalen Meinungsführern ist es vor allem die Süddeutsche Zeitung gewesen, welche besagte Diskrepanz gleichsam in Reinform verkörperte: Einerseits haben sich Heribert Prantl & Co. in immer neuen Anläufen für ein in jedweder Hinsicht starkes Demonstrationsrecht ins Zeug geworfen – Höhepunkt dürfte ein Leitkommentar am Dienstag, den 5. Juni, gewesen sein, welcher den Blockaden ihren demokratietheoretischen Vorab-Segen erteilte. Andererseits wurde an gleicher Stelle bereits am 4. Juni klar gestellt, was von den DemonstrantInnen zu halten sei: „Außer Utopien aber haben die Kritiker nicht viel anzubieten.“ Entsprechend unbeeindruckt hat sich die traditionell marktradikal aufgestellte Süddeutschen Zeitung von globalisierungskritischen Perspektiven gezeigt.
Und doch – es hat auch in der Mainstreampresse etliche Artikel gegeben, die sich – jedenfalls vordergründig – mit globalisierungskritischen Themen befasst haben. Was hat es mit ihnen auf sich? Drei Antworten:
a) Heiner Geissler hat recht: Globalisierungskritik ist schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen – allerdings jeder antikapitalistischen Stoßrichtung beraubt. Beispielhaft sei die Titelgeschichte des Spiegel vom 4. Juni erwähnt: Unter der Überschrift „Gipfel der Ungerechtigkeit“ wird dort auf der Basis zahlreicher Beispiele Klartext geredet: „Der moderne Kapitalismus (...) hat den Wohlstand vermehrt, zugleich vertieft er die ökonomische Spaltung der Gesellschaft. Eine weltweite Klassengesellschaft formiert sich, ihre Mitglieder leben zuweilen in direkter Nachbarschaft.“ Einziger Haken: Auf der Ebene der Schlussfolgerungen wird’s mager, dort wird gefordert, was auch Neu-Attacie Heiner Geissler will: Einen Global Marshall Plan, finanziert durch eine internationale Börsenumsatzsteuer und eine Kerosinsteuer. Aus linker Perspektive sind derartige Artikel hochgradig ambivalent: Einerseits artikuliert sich in ihnen kritisches Bewussstein, auf dem sich aufbauen lässt. Andererseits wird der Horizont von vorneherein auf die Grenzen des herrschenden status quo eingeengt, weiterreichende Perspektiven können so gar nicht erst entstehen. Sie sind mit anderen Worten keinen Deut weniger problematisch als die von Bono & Co. organisierten Life8-Konzerte und sollten deshalb zumindest nicht umstandslos auf der Habenseite globalisierungskritischer Berichterstattung verbucht werden.
b) Noch problematischer sind jene Beiträge, die dem äußeren Anschein nach als Globalisierungskritik daherkommen, de facto jedoch etwas völlig anderes sind. Verwiesen sei auf eine von Spiegel TV und ZDF produzierte DVD, die just jener Spiegelausgabe beigelegt war, in der auch oben besagte Titelgeschichte erschienen ist (4. Juni): Denn unter dem vermeintlich kritischen Titel „Wettlauf um die Welt“ wird dort nicht weniger als ein widerwärtiges sozialdarwinistisches Kriegsszenario heraufbeschworen: „Deutschland exportiert soviel wie nie zuvor, muss aber jeden Tag um den Vorsprung kämpfen. (...) Millionen Menschen nehmen Teil am Wettkampf um die Welt, am Kampf um Wohlstand. Und es ist nicht sicher, dass der vorn bleibt, der bislang vorn war. (...) Die armen Länder sind auf dem Vormarsch, eine Herausforderung. Die Globalisierung kennt kein Pardon.“ Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass der Spiegel etwa 7 Millionen LeserInnen erreicht!
c) Wann immer die bewegungspolitische Linke in den Blickfang der Mainstream-Medien geraten ist, erfolgte dies im Format der zoologischen Reportage: Im Vordergrund standen weniger politische Inhalte, vielmehr drehte sich alles um selbstgebaute Duschen, die Organisation von Volksküchen oder das Beziehungs- und Sexualleben einzelner ProtagonistInnen. Zugestanden, Selbstorganisation bzw. alternative Formen der Soziabiltät sind ein elementarer Bestandteil im Ringen um eine andere Welt – genauso wie die Reportage eine ehrwürdige Rolle im Journalismus spielt. Wo all dies jedoch zum Substitut sachlicher Berichterstattung gerinnt – einfach deshalb, weil linke Inhalte nicht als respektabel, ja satisfaktionsfähig gelten, handelt es sich um eine unmissverständliche Aussage über aktuelle Kräfteverhältnisse in der diskursiven Arena.
Lange Rede, kurzer Sinn: Es wäre krude, das mediale Geschehen auf Massenbetrug und Manipulation zu reduzieren, wie das unter simplifizierten Rückgriff auf Theodor H. Adorno und Max Horkheimer zuweilen geschieht. Fakt bleibt aber auch: Medien im Kapitalismus sind „Bewusstseinsindustrie“ (Hans Magnus Enzensberger/1970). Einer ihrer wesentlichen Funktionen ist es, Massenloyalität, Konsumorientierung und Akzeptanz der vorgeblichen Imperative kapitalistischer, sexistischer etc. Vergesellschaftung herzustellen. Aufklärung im emphatischen Sinne wird also keineswegs groß geschrieben, ungleich wichtiger sind Storys, in denen Elemente wie Spannung, Gewalt oder Moral den Takt vorgeben. Die G8-Gipfel-Woche war für den medialen Mainstream deswegen ein gefundenes Fressen – mit den Blockaden als unerwartetes, aber durchaus medienkompatibles Happy End! Auch nach dem G8-Gipfel gibt es folglich keinen Grund – allen medialen Streicheleinheiten zum Trotz, einseitig auf Repräsentation in den Mainstreammedien zu setzen. Vielmehr gilt weiterhin, die Spreu vom Weizen zu trennen – beispielhaft sei die Afrika-Berichterstattung in der taz erwähnt, die nicht nur anlässlich des G8-Gipfels ausgesprochen instruktiv gewesen ist. Losgelöst davon bleibt die Frage von Gegenöffentlichkeit und eigener Medien-Infrastruktur unverändert virulent.
Es ist bereits angeklungen: Die These der Linksverschiebung des politischen Feldes ist eng verzahnt mit der These einer Neuformierung der Linken, wie sie sich im Zuge der Gipfelproteste angebahnt habe. Einer der diesbezüglich entschiedensten ProtagonistInnen ist Benn Trottiv: „Die Aktionstage in Rostock und um Heiligendamm waren mehr als der Ausdruck von ‚Einheit in Verschiedenheit’, sie verkörperten vielmehr ein ‚Anders-Werden’. Durch Koordinierung, Kooperation und die ständige Suche nach Gemeinsamkeit sind wir zu einer wirklichen ‚Bewegung der Bewegungen’ geworden – mehr als nur die Summe unserer Einzelteile (eigene Übersetzung).“ Keine Frage: Unter sozialen, politischen und atmosphärischen Gesichtspunkten ist die Gipfelwoche für viele AktivistInnen eine ungemein inspirierende, ja betörende Massen- bzw. Kollektiverfahrung gewesen. Dennoch spricht vieles dafür, dass der bewegungspolitische Raum steiniger, banaler und widersprüchlicher ist, als es Benn Trotts (postoperaistisch) aufgeblähte Begrifflichkeit Glauben machen möchte. Gerade in strategischer Hinsicht sollte dies auf keinen Fall aus dem Blick geraten:
a) Bezogen auf die Größe des Ereignisses haben bis zum Schluss verdammt wenige Leute bzw. Gruppen verbindlich Verantwortung für die praktischen Organisierung der Proteste übernommen. Nicht minder problematisch war, dass der Anteil älterer AktivistInnen überproportional hoch gewesen ist, zumindest dürfte der Altersdurchschnitt in den einzelnen Vorbereitungsmodulen durchgehend um 10-15 Jahre höher gelegen haben als später auf der Straße bzw. im Feld. Dieser auch aus anderen Teilbereichsbewegungen hinlänglich bekannte Umstand – größte Ausnahme dürfte weiterhin die Antifa sein – verweist darauf, dass sich die materiellen und soziokulturellen Bedingungen bewegungspolitischer Arbeit in den vergangenen 20 Jahren grundlegend geändert haben: Erstens reduziert die Umwandlung der Hochschulen in neoliberale Dienstleistungsbetriebe die zeitlichen und mentalen Freiräume für politischen Aktivismus im Rahmen des Studiums enorm. Zweitens ist es kaum noch möglich, eine Nischenexistenz als Berufsdemonstrant zu führen – irgendwo im Niemandsland zwischen besetztem Haus, kollektivem Betrieb und Arbeitsamt. Drittens stehen unqualifizierte Jobverhältnisse auch in linken Zusammenhängen immer niedriger im Kur, denn die Lust auf anspruchsvolle und somit umfassende Erwerbsarbeit wächst – sicherlich auch deshalb, weil kaum noch jemand auf Beschäftigungsmöglichkeiten im Zuge revolutionärer Umwälzungen zu hoffen wagt (eine mittlerweile kaum noch nachvollziehbare Überlegung). Kurzum: Vieles deutet darauf hin, dass heutzutage sowohl jüngere als auch ältere AktivistInnen politisch weniger organisiert sind als einst. Hiermit muss ein angemessener Umgang gefunden werden.
b) Die viel beschworene ‚Bewegung der Bewegungen’ war in Heiligendamm alles andere als heterogen, bestenfalls hat sie einen schwachen Abglanz von der tatsächlichen, das heißt der globalen Bewegungsvielfalt rübergebracht. Darauf hat vornehmlich (und mit Nachdruck) der indische Aktivist Jai Sen hingewiesen (ak 518): „Wir und unsere TheoretikerInnen nennen unsere Bewegung gerne ‚Globalisierung von unten’. Aber wir kommen gar nicht von unten, eher aus der Mitte. Die, die die Welt wirklich von unten bewegen, sind andere, z.B. die MigrantInnen auf der ganzen Welt. Oder die Bewegungen wie die in Bolivien.“ Freilich, es ist niemandes Schuld, dass bei den Gipfelprotesten keine FischerInnenkarawane aus Ghana aufgeschlagen ist. Und doch, es besteht diesbezüglich ein gravierendes Problem. Das wurde spätestens daran ersichtlich, dass es im Zuge der G8-Mobilisierung lediglich ansatzweise gelungen ist, Brücken zu hiesigen Kämpfen zu bauen, ob zu selbstorganisierten Erwerbslosengruppen, zu Obdachloseninitiativen oder zu (übrig gebliebenen) AktivistInnen aus dem Gate-Gourmet-, dem Siemens- oder dem Opel-Streik. Die Formierung einer pluralen und interventionsfähigen Linken ist mit anderen Worten kein Selbstläufer, wie etwa Benn Trott mit seiner stürmischen These vermuten lässt, wonach die globalisierungskritische Bewegung in Heiligendamm ihre neu gewonnene Stärke als „ernstzunehmender sozialer Akteur“ unter Beweis gestellt habe – einschließlich der „Fähigkeit, die Richtung globaler Ereignisse und Politiken zu beeinflussen (eigene Übersetzung).“ Es handelt sich vielmehr um einen langfristigen und äußerst komplexen Organisierungsprozess, der größtenteils noch nicht einmal begonnen wurde!
c) Dass die G8-Proteste relativ koordiniert – Stichwort: Gesamtchoreografie des Widerstands – und obendrein strömungsübergreifend von statten gegangen sind, dürfte nicht zuletzt mit der Existenz des Hannoveraner G8-Koordinierungskreises zu tun gehabt haben – einschließlich der von ihm initiierten Aktionskonferenzen. Entsprechend positiv fällt auch die Bewertung der generellen Bündnispolitik aus: Ulrich Brand sieht zum Beispiel jene „Pluralität“ verwirklicht, „die Bewegungen heute benötigen: gegenseitige Bezugnahme aufeinander, gemeinsames Tun, aber auch Streit und markierte Differenz.“ Thomas Seibert stößt ins gleiche Horn (ak 518), er will sogar „die Reife einer Neuformierung“ ausgemacht haben, „in der sich eine weit vorangeschrittene, wenn auch noch nicht abgeschlossene (Selbst-)Kritik des Linksradikalismus der 1970er - 1990 Jahre mit strategischen Reflexionen auflädt, die ihren Bezugspunkt in den Ereignissen von Seattle und Genua finden.“ Indes: Auch in dieser Hinsicht scheint es angebracht, den Ball ungleich flacher zu halten: Erstens weil nur ein Bruchteil der AktivistInnen aus den jeweiligen Spektren tatsächlich an der Bündnisarbeit beteiligt war. Zweitens weil überall dort, wo eigene Interessen auf dem Spiel standen, diese ohne größeres Fackeln durchgesetzt wurden. Beispielhaft erwähnt sei das hochgradig umstrittene Grönemeyer-Konzert, die eigenwillige Terminierung des Alternativgipfels trotz unmissverständlicher und breiter Kritik oder der Wille zur offensiven Auseinandersetzung mit der Polizei im Rahmen der spektrenübergreifenden Großdemo am 2. Juni. Drittens weil entscheidende Diskussionen um des lieben Friedens willen unter den Teppich gekehrt wurden – jüngstes und wohl wichtigstes Beispiel dürfte die vehemente BUKO-Kritik am so genannten G8-Forderungspapier der NGOs gewesen sein. Viertens weil es in vielen Fragen bis zum Schluss nicht möglich war, wirkliches Einverständnis (geschweige denn Verstehen) zu erzielen; dies betraf vor allem Fragen rund um die Schule bzw. die Camps. Fünftens weil es in entscheidenden Momenten wie z.B. nach den Auseinandersetzungen am 2. Juni von VertreterInnen des moderaten Spektrums zu krassen Beleidigungen und Respektlosigkeiten gekommen ist (inklusive systematischer Verniedlichung der Polizeigewalt). Und sechstens weil sich nicht zuletzt anhand des Themenkomplexes ‚Militanz’ bzw. ‚Gewalt’ tief reichende Gräben aufgetan haben (verwiesen sei nur auf die derzeit sehr lebendig geführte Debatte in linksradikalen Zusammenhängenv). Mit anderen Worten: So erfolgreich die Bündnisarbeit faktisch gewesen sein mag, es muss noch viel passieren, bis zu Recht von einer diesbezüglich veränderten Kultur gesprochen werden kann. Denn klar ist auch: Auf der Grundlage des bislang Erreichten wäre eine längerfristige, d.h. mehrjährige Kooperation schlicht nicht möglich.
Bei aller Skepsis – die Gipfelproteste haben sich durch dreierlei ausgezeichnet: Sie haben erstens (was keinesfalls selbstverständlich ist) Inspiration und Politik kurzgeschlossen, in dieser Hinsicht hat Alex Foti bereits passende Worte gefundenvi: „Das Kaleidoskop der Emotionen und Inspirationen, die in Rostock herumschwirrten, auf den Demos, Aktionen, Camps, Medien- und Kunstzentren, lässt sich nicht einfach beschreiben. Es war ein manischer Rausch, eine unglaubliche Darbietung radikaler und post-nationaler Solidarität.“ Sie haben zweitens eine angemessene Vorstellung davon vermittelt, welche enormen Potentiale das Handeln in der Masse birgt – dies ist zweifelsohne das besondere Verdienst von BlockG8 gewesen. Und sie haben drittens auf überzeugende Weise dargeboten, inwieweit Bündnispolitik Dinge ermöglicht, die ansonsten kaum erreichbar gewesen wären. Die entscheidende Herausforderung wird es nun sein, diese Erfahrungen und Einsichten in alltagstaugliche Politik zu übersetzen – unter realistischer Berücksichtigung der herrschenden Kräfteverhältnisse.
Gregor Samsa (NoLager Bremen)