Bilanzversuch zu den Aktivitäten rund um Flucht und Migration in der Anti-G8-Mobilisierung
Im Rahmen der Anti-G8-Mobilisierung im Juni in Rostock und Heiligendamm gab es ein vielgestaltiges Programm zu Flucht und Migration, sowohl auf aktionistischer als auch auf inhaltlicher Ebene. Die Bandbreite reichte von Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen bis hin zu Vernetzungstreffen, Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen. Im wesentlichen waren drei Ziele mit den Bemühungen verbunden, dieses umfangreiche Programm dort stattfinden zu lassen:
- 1.eine stärkere Verankerung dieser Thematik in der gesamten Protestbewegung;
- 2.Ansätze transnationaler Vernetzung aufzugreifen und zu vertiefen;
- 3.einen Bündelungspunkt für die oftmals sehr zersplittert erscheinenden antirassistischen Netzwerke zu schaffen.
Während zu den ersten beiden Punkten eine ziemlich erfolgreiche Umsetzung gelungen ist, fällt die Bilanz zum dritten Punkt doch eher kritisch aus.
Erfolgreich in der Gesamtbewegung verankert ...
Von verschiedenen NGOs und attac über die aktiveren gewerkschaftlichen und Partei-Jugendverbände bis hin zum linksradikalen Dissent-Netzwerk - quer durch das gesamte Protestspektrum gab es in der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel eine überraschend große Akzeptanz bis Offenheit für das Thema Flucht und Migration. Das lag zum einen daran, dass einzelne Gruppen aus dem NoLager-Netzwerk und von kein mensch ist illegal den Anspruch auf eigenständige Thematisierung sehr frühzeitig eingebracht hatten. Bereits im Frühjahr 2006, zur ersten Aktionskonferenz in Rostock, stand der Vorschlag für eine Extra-Demonstration zum Migrationsthema im Raum.
Zum zweiten überzeugte die „inhaltliche Brücke“: denn die strukturellen Hintergründe von Flucht und Migration sind oftmals in der zerstörerischen Politik der G8 zu finden. Insofern können Flüchtlinge und MigrantInnen diese Zustände aus direkter eigener Erfahrung kritisieren. Zudem sind es wiederum die G8-Staaten, die ein globales Migrationsregime hochrüsten und damit die Verantwortung tragen für die vielen tausend Toten an den Außengrenzen.
Und schließlich dürfte entscheidenden Einfluss gehabt haben, was einleitend im Aufruf zum 4. Juni-Aktionstag formuliert wurde: "Bewegungen und Kämpfe von Flüchtlingen und MigrantInnen verstärken sich überall auf der Welt. In San Diego oder Ceuta werden Grenzen unterlaufen, in Los Angeles oder Brüssel Legalisierung eingefordert, in Hamburg oder Bamako sich Abschiebungen widersetzt, in London oder Woomera in Abschiebungsknästen rebelliert, in El Ejido oder Seoul gegen Prekarisierung gekämpft. Niemand kann mehr die globale Dimension und wachsende Bedeutung von migrantischen und Flüchtlingskämpfen ignorieren...".
Und dass die entsprechenden Forderungen nach globaler Bewegungs- freiheit und gleichen Rechten breiter denn je zumindest zur Kenntnis genommen und von großen Teilen der Protestbewegung auch mitgetragen werden, hat sich in Rostock auf verschiedenen Ebenen niederge- schlagen: so in der Gestaltung der Demonstrationsspitze einer der zwei Marschrouten auf der Großdemo am 2. Juni oder im Eröffnungsbeitrag auf dem Alternativgipfel, vor allem aber in der großartigen Beteiligung am Migrationsaktionstag am 4. Juni. Mit nahezu 10.000 TeilnehmerInnen wurde die 4.6.-Demonstration zur zweitgrößten Manifestation der gesamten Aktionswoche! Und dieser tolle Mobilisierungserfolg ist auch dadurch nicht zu schmälern, dass die Demonstration im weiteren Verlauf abgebrochen werden musste, weil die Polizei die angemeldete Route durch die Stadt kurzfristig verweigerte und es eine erneute Eskalation an diesem Tag unbedingt zu vermeiden galt.
Transnationale Vernetzung vertieft ...
Unter inhaltlicher Bezugnahme auf internationale Konferenzen und Aktionstage im letzten Jahr sowie mit den dabei entwickelten Kontakten wurde im Vorfeld der Anti-G8-Woche für Sonntag, den 3. Juni, zu einem transnationalen Netzwerktreffen zu Flucht und Migration aufgerufen. Über 200 Interessierte haben letztlich an dieser Tagung teilgenommen, und die Zusammensetzung war in der Tat transnational, zumal es durch finanzielle Mittel des Alternativ- gipfels möglich war, AktivistInnen aus mehreren afrikanischen und osteuropäischen Ländern nach Rostock einzuladen. In den Arbeits- gruppen ging es nicht allein um Informationsaustausch sondern auch um konkrete Kampagnen und Projekte, um vor dem Hintergrund einer zunehmenden Externalisierungspolitik der EU-Migrationskontrolle z.B. gegen bestimmte Rückführungsprogramme nach Afrika oder gegen die neuen Lager in Osteuropa zu intervenieren. So wurde ein für Mitte August in der Ukraine geplantes Noborder-Camp bekannt gemacht, das in Transkarpatien unmittelbar an der neuen Außengrenze der EU stattfinden soll. Und es wurden weitere Verabredungen getroffen, um der Vorverlagerung des EU-Grenzregimes nach Nordafrika entgegen- zuwirken, u.a. bei anstehenden EU-Afrikanischen Regierungs- konferenzen im Rahmen der portugiesischen EU-Präsidentschaft.
Jedenfalls ist es über diese Arbeitsgruppen sowie weitere Diskussionen im Rahmen des Alternativgipfels gelungen, die Anti-G8-Mobilisierung dafür zu nutzen, die Kontakte insbesondere zu den afrikanischen AktivistInnen auszubauen. Schon in den Wochen darauf hat sich gezeigt, dass beispielsweise der Informationsfluss über neue Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen in Marokko sehr viel schneller und verbindlicher geworden ist.
... aber Antirassistische Bündelung ziemlich misslungen
Die Idee kam früh, schon Ende 2005, und sie war und blieb ambitioniert: Im Rahmen der Mobilisierungstage gegen den G8 eine Demonstration zu Migration auf die Beine zu stellen, die 5-stellig ausfallen soll - also 10.000 plus!
Das wäre für hiesige Verhältnisse geradezu sensationell gewesen, und angesichts einer Anti-Ra-Szene, die sich "zwischen Vielfalt und (vor allem) Zersplitterung" bewegt, ein enormer Bündelungserfolg, der absehbar zu keinem anderen Anlass erreichbar sein dürfte. Wenige Wochen vor dem G8 erschien dieser Anspruch aber als reine Illusion, denn die gesamte Anti-G8-Vorbereitung gestaltete sich äußerst zäh, und in die spezielle Vorbereitung zum Migrationsaktionstag hatten sich auch im Endspurt kaum neue Gruppen eingeklinkt.
Dass die 10.000er-Demo dann dennoch nahezu gelungen ist, dass und wie viele Leute sich am 4. Juni beteiligt haben (schon vor der großen Demo fanden verschiedenen Kundgebungen in Rostock statt, so blockierten morgens 2.000 Leute die lokale Ausländerbehörde, eine weitere Kundgebung zum Gedenken an das 1992er-Pogrom fand mit 2500 TeilnehmerInnen in Rostock-Lichtenhagen statt und an einer Aktion zu Ausbeutung migrantischer Arbeit vor einer Lidl-Filiale nahmen weitere 300 Leute teil) bleibt zunächst ein riesiger Erfolg. Dass auf der Demo aber über weite Strecken keine Transparente zu sehen waren, ist eines der Anzeichen dafür, dass aus längerfristig arbeitenden lokalen Antira-Zusammenhängen relativ wenige beteiligt waren. Die Masse der DemonstrantInnen kam aus den Anti-G8-Camps, aus klarer Solidarität oder gar Überzeugung für die Forderungen nach globaler Bewegungsfreiheit und gleichen Rechten für alle! Wie bereits oben ausgeführt, erscheint das Thema Flucht und Migration insofern besser verankert denn je.
Demgegenüber konnte m.E. der Anspruch, mit diesem Migrations- aktionstag eine Bündelung der verschiedensten Antira-Netzwerke zu ermöglichen, so gut wie gar nicht umgesetzt werden. Die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen war in den drei Wochen vor dem G8 durch die BRD gezogen und dann offensichtlich zu erschöpft, um am 4.6. nochmals stärker präsent zu sein oder gar zu mobilisieren. Auch von den 2000 Beteiligten, und darunter ja vor allem migrantischen Jugendlichen, die noch im November 2006 so eindrucksvoll in Nürnberg für das Bleiberecht demonstriert hatten, waren in meiner Wahrnehmung nur wenige in Rostock dabei. Und auch aus den kein mensch ist illegal-Strukturen waren, um ein 3. Beispiel aufzumachen, zahlreiche Initiativen gar nicht erst oder maximal mit zuguckenden Einzelpersonen angereist. Dasselbe galt dann umso mehr für migrantische Vereine oder auch das Mobilisierungspotential der Flüchtlingsräte, die jeweils im frühen Vorfeld angesprochen worden waren, sich aber offensichtlich ebenfalls entschlossen hatten, dass ihnen dieser Aktionstag (geographisch und inhaltlich?) zu weit weg ist.
Davon ausgehend, dass "wir als antirassistische Bewegung" in vielen Regionen dezentral Demonstrationen mit mehreren hundert Beteiligten immer wieder hinkriegen und somit BRD-weit durchaus ein Gesamtpoten- tial von einigen tausend demonstrationswilligen Antiras existiert, konnte für Rostock am 4.6. allenfalls ein Bruchteil mobilisiert werden.
Das heißt, dass sich selbst zu einem medienwirksamen Anlass wie dem G8-Gipfel und der sowohl frühzeitig (1 1/2 Jahre!) wie auch breit bekannt gemachten Mobilisierung für den Migrationsaktionstag eine relevante bundesweite Bündelung aus den diversen Antira-Netzwerken nicht hinkriegen lässt. Sei es, weil die Differenzen als zu groß erachtet werden und der politische Wille in den jeweils zersplitterten Netzwerken fehlt, sich wenigsten punktuell zusam- menzuraufen; sei es, weil alleine die lokale Arbeit im Vordergrund steht: es gibt zur Zeit offensichtlich keine Bündelungsperspektiven!
So großartig also die gesamte Anti-G8-Mobilisierung auch war und so unerwartet stark darin die Migrationsaktionen ausfielen, sollte dies den anhaltend zersplitterten Zustand der bundesweiten Antira- Strukturen nicht überdecken.
Bleibt zu hoffen, dass die insgesamt überwiegend positive Erfahrung der „Bewegung der Bewegungen“ mit ihren großen Protest- demonstrationen sowie den erfolgreichen Blockaden in Rostock und Heiligendamm auch auf die verschiedenen antirassitischen Netzwerke abfärbt und dazu motiviert, die potentielle Stärke immer wieder auch in zumindest einzelnen gemeinsamen Mobilisierungen zu suchen.
h., kein mensch ist illegal, Hanau