Kapitalistische Verwertungslogik blockieren

Artikel für die polnische Monatszeitung „Le Monde Diplomatique“ von Martin Krämer Liehn
Blair war noch nicht mal in Deutschland gelandet am Nachmittag des 6. Juni 2007, da strahlte mich eine Rostocker Arbeiterin bereits von hinter ihrer Supermarktkasse an mit der Nachricht, dass wir den G8 dicht gemacht hätten. „Und es gibt schon ein erstes Loch im Zaun,“ ergänzte sie in so etwas wie Badelaune. In den Tagen davor reichte es, beim Einsteigen in öffentliche Busse zu sagen, dass wir zu den Blockaden fahren. Wir wurden nicht nur ohne Fahrkarte durchgewunken, sondern auch noch außerfahrplanmäßig bis an strategisch wichtige Punkte gebracht. Die Busfahrer wussten schon, wo wir nötig waren.
Drei Monate vorher war ich nach Rostock gezogen, um in unserem Convergence Centre die Ankunft von über 100 GenossInnen aus der ehemaligen Sowjetunion vorzubereiten. Wir wurden ab März Tag und Nacht polizeilich observiert, von Zivilfahndern verfolgt, willkürlich kontrolliert und ohne Angabe von Gründen mit Platzverweisen und Ingewarsamnahme bedroht wenn wir uns nur z.B. dem Privatgelände des dubiosen Tagungsstättenmillionärs Jagdfeld in Heiligendamm näherten. Der Polizeistaat funktionierte als er noch gar nicht gebraucht wurde. Für das bloße Singen der Internationale vor dem Luxushotel im Mai saßen wir eine halbe Nacht im Polizeiarrest.
Im Juni zur Zeit des offiziellen G8-Gipfels war dann plötzlich alles anders. Nie vorher konnten wir uns so frei in der Region bewegen. Der Preis für diese Freiheit war hoch. 1200 von uns wurden präventiv eingesperrt. Trotzdem kamen 10000 BlockiererInnen durch die absolute Demonstrationsverbotszone zum Hochsicherheitszaun. Die Polizei reagierte mit Panikattacken. Wasserwerfer schossen ohne Vorwarnung, gefolgt von Räumpanzern, es gab Knochenbrüche, schwere Schlagverletzungen. Einem Protestierenden wurde vom Wasserstrahl das Auge ausgeblasen. Die Gefangenen landeten für bis zu knapp eine Woche in Guantanamo-Käfigen, Tag und Nacht von allen Seiten videoüberwacht. Zwischen den 20000 Polizisten, die zum Ende ihrer größten Einsatzpleite in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland planlos in der Region hin- und herfuhren fanden sich auch die Einsatzwagen der berüchtigten Multinationalen „Sodex ho“: der Logistikpartner der USA im Folterzentrum Guantanamo und in Gefangenenlagern weltweit. Für die herrschende Klasse aber war das Ressort Heiligendamm auf dem Landweg nicht mehr zu erreichen. Wie zuletzt im Jahr 1807 war die unumschränkte Herrschaft des Kapitalismus zeitweise nur noch auf See realisierbar und auch dafür waren groteske Prügelszenen gegen AktivistInnen nötig; die mit Schiffen und Schlauchbooten angereist waren. Die Hubschrauber mit den hohen Gästen flogen lächerliche Kurven, um den Herrschenden nicht die tausenden von Farben bei Tag und die Lagerfeuer bei Nacht zu zeigen, mit denen ihr Tagungsort auf dem Landweg hermetisch vom Rest der Welt abriegelt war. Um so abstruser wurden die Reaktionen der bezahlten Repressionskräfte. Nachdem sie unserem Genossen das Auge ausgeschossen hatten und die Räumpanzer über unsere Barrikaden gegangen waren, liefen wir aus den angerenzenden Wäldern einfach wieder auf die gerade freigeprügelte G8- Zufahrtsstrasse. Ein niedersächsischer Polizeikommandant verfiel beim Anblick dieser Szene in ein haltloses Gelächter. Schon in den Monaten der Vorbereitung hatte es sich als unmöglich herausgestellt, den niederen Chargen der Polizei das Wort „Bonzenzaun“ im Funkverkehr zu verbieten. Nun mochte sich kaum jemand mehr an die offizielle Sprachregelung von der „technischen Sperre um Heiligendamm“ halten. Haltlosigkeit unter Repressionskräften öffnet in Deutschland aber auch andere Potentiale. In der Nacht zum 9. Juni wurde ich in meiner Zelle in der Gefangenensammelstelle Rostock-Ulmenstrasse von 5 uniformierten Männern angefallen, die laut gröhlend „Ganzkörperfotos“ forderten. Mit Zwangs- und Schmerzgriffen, die seit dem Faschismus zu jeder deutschen Polizeiausbildung gehören, stellten sie verschiedene Folterszenen mit meinem nackten Körper nach. Eine nannten sie „Jesus ist tot“. In derselben Nacht noch wurde die Gefangenensammelstelle - bereits die zweite in Folge - geschlossen, die Folterknechte zurück nach Berlin verlegt. Etwas an der herrschenden Ordnung war in der Tat gestorben.

Aufbauarbeit
Wie bescheiden dagegen unsere Vorbereitungsarbeit in den Monaten davor ausgesehen hatten! Wir hatten Duschen gebaut, Matratzen gesucht für die erwarteten Gäste unseres Convergence Centres. Wir knüpften Kontakte zu Ökobauern, machten Mosaike und malten Fresken. Als sich dann die strategischen Erfolge überschlugen lernten wir nur zaghaft, in Bewegung und unberechenbar zu bleiben: delegetimieren, anzünden, attackieren. Blockieren ist ja nur eine Möglichkeit. Zu viele von uns waren gebannt von unserem Erfolg und glaubten an nichts anderes mehr.
GenossInnen aus der aufständischen mexikanischen Provinz Oaxaca brachten den Schein des Erfolghabens auf den Punkt: am einfachsten ist es, Übereinstimmung zu erreichen für das Ziel einer linken antikapitalistischen Offensive. Und in der Tat erlangte „Globalisierungskritik von rechts“ keine Bedeutung in Rostock, lediglich in den Unterhaltungen der G8-Führer selber. Ihre eigenen Medien verurteilten sie im großen und ganzen zur Bedeutungslosigkeit angesichts unserer Proteste.
Aber war es genug, sich auf ein Blockieren der Zufahrtswege zu beschränken? Warum sind die überlebten, autoritären Verhaltensweisen in unserer Bewegung gerade dort am wirksamsten, wo man sich das Label anti-hierarchisch zugelegt hat? Was machen wir mit der neureichen Protest-Bourgeoisie, all die Attak-Sprecherchen, die nicht attackieren, MedienaktivistInnen, die nicht handeln und KünstlerInnen, die aus uns Art-projects und Katalogstaffage machen wollen? Die kapitalistische Verwertungslogik in unserem Leben gehört blockiert – blockiert bis zum süßen Ende. G8 unmöglich machen ist nur der Anfang, auf ein Neues 2008 in Sapporo!
auf dem Weg zur Vorbereitungskonferenz in Japan,
Leningrad, den 20. Juni 2007
Kritik und Anregungen willkommen: Caravan to Japan 2008, ul. Orla 6-55, PL-00-143 W-wa, Pologne.
Ausführliches Gedächtnisprotokoll zur Festnahme vom 8.06.2007
Martin Krämer, geb. 12.03.1971 in Hannover
Raabest. 34
D-31073 Gruenenplan
Email: Martin_Kraemer@gmx.net
Tel. (Fax) 05187 75177
Anlass/Aktion: Blockaden und andere Sabotageaktionen rund um den Betrieb des G8-Gipfels in Heiligendamm
Zeitraum: 8. Juni 2007, daraufhin Festnahme 25 Stunden bis 6. Juni
9:20 auf der Wiese zwischen dem Gut Vorder Bollhagen und dem südlich gelegenen Bollhagener Fließ im Nordwesten des Planquadrats S14 auf der Infopointkarte. Es weht ein leichter Wind aus Nordost. Auf der Mähweide liegt angetrocknetes Heu lose. Der Aufwuchs war wegen Niederschlagsmangel in der Region gering. In 200 Metern Entfernung steht ein Feuerwehrspritzwagen (Nordostrand Planquadrat R14). Um 9:30 fährt ein Kombilader auf mich zu. Eine Frau und ein Mann um 40 schreien auf mich ein, ich sei schuld, dass nun ihr Vieh [das Vieh gehört dem Eigentümer des Kempinski Hotels in heiligendamm] über Winter wegen Futtermangel stirbt. Ich biete ihnen an, sie könnten ja, um sich abzureagieren meine Geige ins Feuer werfen. Die beiden machen keine Anstalten, die 3 Heuhäuflein von nicht mehr als 30 cm Höhe und einem halben Meter Durchmesser, die auf der Wiese augenscheinlich teilweise in Brand geraten sind zu löschen. Sie scheinen als Gefahr im Verzug nicht die drei Häuflein wahrzunehmen, sondern befürchten augenscheinlich, dass ich mein Geigenspielen einstelle, von meinem Rucksack aufstehe und weitergehe. Sie drohen physische Gewalt an, trauen sich aber nicht, mich anzufassen. Nach etwa 10 Minuten kommt die Besatzung des Feuerwhrwagens zu Fuß über die Wiese und löscht die 3 Haufen mit ein paar Schlägen mit Schaufeln. Ihr Feuerwehrwagen war beim Manövrieren im Graben gelandet. Um 9:50 kommt, nach längerem Warten aller Beteiligten die 300 Meter weiter im Gut Vorder Bollhagen stationierte Polizeieinheit aus Nordrhein Westfahlen angefahren. Ein PkW und 2 Wannen fahren von Norden über die Wiese auf den Menschenauflauf zu. Es beginnen sehr umständliche Durchsuchungen auf Messer. In der Tat verschwindet mein Opinellmesser und Rasierklingen zu diesem Zeitpunkt (10:05) und tauchen nicht wieder auf. Der mich festhaltende Beamte um die 30 lobt beim „Einfahren“ in die Polizeibastion des Gutes meine „Kooperation“, woraufhin ich jegliche Kooperation einstelle (Beanspruchung von Trageservice, keinerlei Aussagen, keine Frage nach Klogang, lediglich die Ankündigung, in 50 Sekunden an Ort und Stelle zu pinkeln, daraufhin Zählen von 50 bis 0). Bei der Einfahrt ins Gutsgelände sagt der neben mir sitzende Beamte (Schnauzbart), der Wannenfahrer solle sich die Zeiten 9:50 und 9:52 merken. Die nordrheinwest-fählischen PolizistInnen legen mir Handschellen vor dem Körper an und schleppen mich in einen Gefangenentransporter, in dem bereits 4 Bürger der Russischen Föderation auf den Seitenbänken sitzen. Ich werde auf den Blechboden geworfen. Es tauchen nun auch nordrhein-westfählische Polizistinnen um 30 Jahre auf und Bremer Beamte, darunter ein älterer Bremer Polizist um 50. In diesem Gefangenenwagen liege ich auf dem Boden. In dieser Stellung müssen wir etwa 3 Stunden warten. In dieser Zeit erwirke ich 4 Mal uaf Toilette gelassen zu werden. Man lässt mich dafür 4 Meter vor der Transportertür einen Moment stehen und entfernt sich auf 1 Meter. Die Polizistinnen und die Bremer Beamten kommen offensichtlich um dabei zuzusehen. Bei jedem Mal ist das Hineinschleppen in den Transporter ruppiger. Am Ende werde ich mit Schwung auf den Blechboden geworfen und kann kaum Kopf und Nieren vor dem Aufprall schützen.
Die Gespräche der Beamten in diesen 3 Stunden zeugen von einer tiefen Frustration. „Es klappt nicht. Wir schaffen es nicht, genügend schnell Leute einzufahren;“ macht sich Unmut breit. Dann konzentriert sich Spott auf den Verfasser des ersten Protokolls der Festnahmen. „Die kommen mit dem Protokoll nicht klar. Hauptschule reicht halt nicht aus,“ sagt ein in der Hierarchie höher stehender Beamter mit kurzem Haar und flucht, dass nun alles noch mal geschrieben werden muß. Der ältere Bremer Polizist erinnert sich: „Das ist ja wie bei uns damals. Als wir anführen und kräftig mitprügelten. Da hieß es später auch immer ‚Protokoll nicht nötig’“ Allgemeines Schulterklopfen und Lachen.
Um etwa 13:00 Uhr fährt der Gefangenentransporter an und liefert uns in der Gefangensammelstelle Ulmenstrasse ein. Der Transporter hält vor der Leichtbauhalle hinten links vom Innenhof. Die Überführung aus dem Auto in die halle übernhemen offensichtlich Berliner Beamte. Die 2, die mich tragen gehen mit einer großen Brutalität vor, wenden sofort ohne Vorwarnung Schmerzgriffe höchster Intensität an. Meine Schmerzenzschrei füllen die gesamte Halle. Es gibt einen großen Menschenauflauf aber niemand greift ein oder sagt ein Wort zu den beiden Trägern. Sie schmeißen mich in eine durch Trennwand und Vorhang von den herbeigeeilten Leuten sichtgeschützte Zelle und zwingen mich mit Schmerzgriffen in eine Liegehaltung auf dem Füßboden, in der ich gefilmt werde. Kurz darauf kommt eine Frau in die Zelle und schimpft „Warum macht Ihr das in meinem Zimmer?“. Die Beamten können sich nicht rechtfertigen, sorgen aber dafür dass die Szene von außen nicht einsehbar wird. Man will mich in eine andere Lage zwingen, ich leist eaber weder Gegenwehr noch irgendeine Muskelanspannung zur Mithilfe. Auf diese Lage reagieren die Beamten wieder mit extremen Schmerzgriffen, so dass meine Schmerzensschreie wieder durch die Öffnung der Zelle nach oben die gesamte Halle füllt. Durch meditative Konzentration ist es mir gelungen, von der Ausladung aus dem Gefangenentransporter 13:30 bis zum ersten Gespräch mit meinem Anwalt vor dem Zimmer des Untersuchungsrichters keinen Muskel anzuspannen, außer Schrei und Worte an die Zuriffsbeamten, in denen ich nach dem Anwalt verlangte und betonte, dass ich keinen körperlichen Widerstand leiste. „Der Fehler ist, dass seine Hände vor dem Körper gefesselt wurden,“ sagte einer der Berliner Zugriffsbeamten und legte mir daraufhin mit seinem Kollegen hinter meinem Rücken Plastik-Kabelbinder an. Ich war also von 10:00 bis 13:50 mit Handschellen und von 13:51 bis zur Vorführung vor den Richter ohne Unterbrechung gefesselt. Die Motivation zu Gegenwehr bei der wiederholt, brutalen Behandlung wäre kaum zu kontrollieren gewesen. Trotz meiner kompletten Passivität, „Noch so einer heute. Der eine hat eigentlich schon gereicht,“ höre ich die Beamten sagen. Mir werden wiederholt mit zwang die Augenlieder geöffnet. Mit Vorliebe greifen mir die Beamten mit ihren schwarzen Lederhandschuhe unter den Unterkieferknochen um eine Schmerzreaktion um das darunter liegende Lymphsystem hervorzurufen. Ein Beamter kommt von außen und führt sein Wissen über die bei mir gefundenen Papiere vor. „Angriff auf die JVA, aha!“. Dabei zitierte er offensichtlich das Protokoll einer 4 Tage vorher stattgefundenen Fahrzeugkontrolle vor der JVA Waldeck, die den aberwitzigen Tatverdacht des „versuchten Angriffs auf die JVA Waldeck“ im Protokollkopf aufweist. Das Ziel der Schmerzgriffe ist nicht klar. Offenbar sind die Beamten nach etwa 20 Minuten dieser Behandlung etwas beunruhigt über die Wirkung. „Da haben wir aber einen ganz professionellen Simulant“, machen sie sich gegenseitig Mut. Ein „Arzt“ wird gerufen. Der schreit mich in ebenso aggresiver Manier wie die Polizeiträger an und lässt zunächst nur einen Drogentest (Achselprobe) und dann einen erweiterten Drogentest durchführen. Nachdem sich kein Drogenverdacht erhärten lies, beschäftigt sich der „Arzt“ genauer mit meinem Körper und stellt wortwötlich „verlangsamte Pupillenbewegung“ fest.
Die Zellenbehandlung wird darauf abgebrochen. Der „Arzt“ kündigt zum ersten mal an, dass ich nicht im Strafvollzug bleiben werde, sondern durch ihn in die geschlossene Psychatrie zwangseingewiesen und dort für die kommenden 5 Wochen „weggesperrt“ und entsprechend medikamentiert werde. Ich werde in Zelle Nummer 1 geschleift, die leer ist und dort auf dem Boden abgelegt. Ich rufe lauf, dass ich mit meinem Anwalt Moritz reden muss. In 10-Minutenabstand kommt ein Wärter, öffnet mir zwangsweise die Pupillen und prüft meine Reaktion. Eine halbe Stunde später kommen 3 beamte, die mich unter unmittelbarem Einsatz von Schmerzgriffen zur ED-Behandlung zerren. 10 Meter hinter der Zellentür entsteht wieder ein Menschenauflauf, ich werdegezwungen, extrem laut zu schreien. „Ja, das sind Schmerzgriffe, das hast Du richtig erkannt,“ raunen mir die Beamten zu. Da es nicht vorangeht tragen sie mich wieder zurück. „Sagt mal, könnte ihr das nicht kommunikativ lösen?“ fragt eine frau mit Papier in der Hand vor der Zelle, die darin an mir beschäftigten Berliner Beamten. Die Beamten entfernen sich daraufhin. Der „Arzt“ kommt. Es fällt der Satz „der war bei der Verhaftung ganz lieb… und dann.“ Der Arzt spricht zum zweiten Mal, ganz offensichtlich damit ich es höre von der nötigen Einleitung der Zwangseinweisung in die geschlossene Psychatrie. Nach einer weiteren halben Stunde soll ich wieder herausgeschleppt werden, weil die Anwältin Caroline Brandt angeblich da ist. Ich erinnere, dass ich um eine Unterredung mit dem Anwalt Moritz gebeten hatte. Meine Festnahme liegt bereits 6 Stunden zurück. Es gibt gute Gründe in dieser Frage nicht nachzugeben. „Er hat was gegen Frauen“ feixen die Zugriffsbeamten vor den Zuschauern um den Käfig herum. Offensichtlich haben sie das Bedürfnis, einen vorherigen Eindruck bei den angestellten ZuschauerInnen zu neutralisieren.
Daraufhin wurde ein Mann um 25 in die Zelle gelassen, der sein Gesicht sehr nah an mein auf dem Boden liegendes anlehnte und sagte: „Ich kann Dir die Fesseln abnehmen“. Die Kleidung war wie nach Dienstvorschrift die eines Zivilbeamten. Als ich nicht auf den Kontaktversuch reagierte wurde der Mann aus dem Käfig geholt und einer der russischen Staatsbürger aus dem Gefangenentransport in Vorder Bollhagen zu mit gesperrt. Wir wechselten aber keine Worte.
Nun kam der „Arzt“ zum 3. Mal und teilte mir mit, dass er meine Zwangseinweisung in die Psychatrie jetzt fertig gemacht hätte und dass ich jeden Moment abgeholt werden kann.
Während der Vorführung vor den Richter war mein Anwalt anwesend. Aufgrund seines wiederholten appelierens an die Polizeibeamten wurde mir dere Kabelbinder von der rechten Handgeschnitten. Das geschah mit einem groben Messer und der Beamte betonte die Verletzungsgefahr bei der unpräzisen Operation mit Kraftaufwand. Die engsitzende Plastikbindung um das linke Handgelenk werde gleich nach der Richtervorführung entfernt, versprach er. Trotz wiederholter Bitten wurde si erst durch einen neu eingesetzten Arzt 14 Stunden später (9.VI. – ca. 10:30), unmittelbar vor meiner Freilassung entfernt. Der Richter bestätigte ausdrücklich mein Recht, nicht zu kooperieren. Ich kündigte dem Richter an, dass ich bis zu meiner Freilassung aus der unberechtigten Verhaftung im Hungerstreilk bleiben werde.
Aus dem Richterzimmer wurde ich wieder herausgeschleppt. Zu meiner Überraschung wurden dabei für eine kurze Strecke keine Schmerzgriffe angewandt. Die setzten erst wieder ein als wir aus dem Treppenhaus und damit aus der Hörweite des Richters waren. Obwohl es bereits einen abgebrochenen Versuch der ED-Behandlung gab, wurde ich jetzt wieder zur ED-im Obergeschoß des Hintergebäudes geschleppt. Dort (im 1. Stock) tagte eine ganze Versammlung, davon die Mehrheit in Zivil, die sichtlich auf meine Schmerzensschreie reagierten aber nichts unternahmen. Es war ihnen offensichtlich in hohem Grade unangenehm, so dass sie mit sichtbarer Erleichterung zusahen, wie die Polizei sich bemühte, schnell hinter mir die Tür zu schließen. Entsprechend der Rechtsbelehrung des Richters ging ich auf keine der Drohungen zur Erpressung von Kooperation ein. Unverrichteter Dinge schleppten mich die Zuführungsbeamten daher wieder in die Leichtbauhalle, diesmal in Zelle 2. Diese hatte sich inzwischen gefüllt. Die Gefangenen hatten große Probleme, Wasser und Klogang zu bekommen. Nach einer halben Stunde wurde ich wieder aus Zelle 2 geschleppt und im Nebengebäude (Hinterflügel) in die sogenannte Zelle 5 gebracht, ein komplett verkachelter schallisolierter Raum mit Klosett und Holzbank. Meinem Anwalt wurde gegen 21:00 versprochen, dass ich in der Nacht in Ruhe gelassen würde. Ich legte aher meine Kleider ab und versuchte so gut es ging unter der grellen Beleuchtung und Beobachtung durch das Guckloch zu schlafen. Das Wasser der Klospülung war bewusst abgestellt. Lediglich gegen 3 Uhr Nachts wurde von Außen für knapp 10 Minuten eine Dauerspülung eingestellt, die sehr laut war. Ich hatte zu dem Zeitpunkt seit 19 Stunden nichts zu trinken bekommen und die offensichtlich kalkulierte Versuchung aus dem Klobecken zu trinken war sehr groß.
Nur anderthalb Stunden nach dem Versprechen von Nachtruhe (inzwischen war eine Berufung beim Landgericht wegen menschenunwürdigen Haftbedingungen eingegangen) stürmte gegen 22:30 eine Gruppe von 2 Gefängnis- und 3 Polizeibeamten meine Zelle und zerrte mich in Positionen, die sie als „ID“-Behandlung bezeichneten. Bald schon schien dieser Vorwand nicht mehr wichtig. Zwei Beamte hinter mir grölten wiederholt „Ganzkörperfotos, Ganzkörperfotos“. Darauf hin wurde ich aufgerichtet, so dass meine Geschlechtsteile genau vor der Kamera waren. Dann wurde in mehreren Posititionen Fotografiert. Eine dieser Stellungen nannten die Beamten „Jesus gestorben“. Danach ließen sie mich bewusst auf die Pritsche fallen. Um 2:30 Nachts stürmten wieder Beamte in meine Zelle, diesmal mit offensichtlich höherrangiger Begleitung. Mit Komandostimme wurde angekündigt, dass ich nun unmittelbar abgeholt werde zum Verhör. Dem folgte aber nichts.
Um 4:00 beschloß ich aufzustehen. Ich sah 5 schwere Blutergüsse, mehrere Schnittwunden, darunter eine von über 30 cm auf meiner Haut. Unter dem Einfluß von Wasser und Nahrungsentzug seit 20 Stunden war mir ausgesprochen übel. Am beunruhigsten sind die offensichtlichen Geweberisse im Lymphsystem hinter den beiden der Unterkieferknochen. Dort sehten die schmerzvollsten Zwangsgriffe an, die bei jedem Transport ohne Vorwarnung von den Zuführungsbeamten zur Anwendung kommen. Sie verursachen mir in der Folge noch monatelang Schwellungen und große Schmerzen.
Um 4:04 klingelte ich und verlangte einen Arzt. Über 3 Stunden gab es auf meine wiederholte dringende Bitte nur hämische Kommentare. Erst nach 7:00 Uhr zeigte sich derselbe Polizei“arzt“, der mich am Tag vorher drangsaliert und versichert hatte, die Zwangsüberführung und Zwangsmedikamentierung für 5 Wochen in der geschlossenen Psychatrie sei von ihm bereits in die Wege geleitet worden. Er weigert sich, irgendeine Verletzung aufzunehmen, sieht mich nicht weiter an. Ich sage ihm, dass sein Verhalten unterlassene Hilfeleistung im Amt ist. Er meint daraufhin nur ich würde auf ihn bedrohlich wirken. Wieder Stunden später kommt ein Arzt, der zunächst eine konziliantere Rolle zu spielen versucht. Im Gegegnsatz zum Polizei“arzt“, betont er seine „Unabhängigkeit“ und stellt sich namentlich vor (Cordian, ?). Es stellt sich heraus, dass der vorhergehende „Arzt“ sich mir zwar nicht mehr als 2 m genähert hatte, trotzdem aber eine Aufnahme meiner Verletzungen ins Protokoll geschrieben hatte. Diese wird von dem neuen Kollegen verändert. Die Hauptfrage aller im Gefängnis tätigen Beamten, ob in weißem Kittel oder ohne, lautet „Was für ein Doktor sind sie?“ Sie hatten in meinem Reisepaß den Zusatz Dr. gesehen und wollten wissen, inwiefern ich medizinisches Wissen habe.
Gegen 10:30 wird auf Drängen des neuen Arztes endlich meine Handfessel entfernt. Der führt auch die Verhandlungen. Ab ca. 10:10 ist die Rede von Freilassung. „Sie können gehen“ heißt es. „Klingeln Sie wenn Sie fertig sind“. Ich sage, dass in den vorangegangenen 24 Stundne Haft nicht einmal auf mein Klingeln im Sinne meiner Anfrage reagiert worden ist. Das wird eingestanden und erklärt „jetzt reagieren wir“. Ich bin aber nicht bereit in irgendeiner Weise zu kooperieren, solange ich unberechtigterweise verhaftet bin. Meine Nichtkooperation bedeutet, dass ich mich nach den Nacktfotos der Nacht nicht wieder anziehe. Mir wird kategorisch erklärt, dass ich nicht freigelassen werde wenn ich mich nicht anziehe. Da kurz vor 12 Uhr ist, erkläre ich den Beamten, dass sie damit die richterlichen Anordnungen verletzten. Nach weiteren Verhandlungen und Meinungsverschiedenheiten, Aufregungen und streit hinter der Zellentür, droht mir der neue Arzt, dass ich, wenn ich erzwinge, nackt freigelassen zu werden zwangsläufig eine Wiederverhaftung wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ bewirke. Ich ziehe daraufhin meine Unterhose an. Es gibt weitere Verhandlungen von über einer Stunde, die wiederum der Arzt vermittelt, weil die Polizei mich nicht in Unterhosen freilassen will. Um 11:10 wird den Beamten klar, dass sie nicht umhinkommen, mich in Unterhosen freizulassen. Es stellen sich 4 Trager in Anstalts- nicht Polizeiuniform vor. Das ist das erste mal, dass nicht uniformierte Polizei an mir zerrt für Transporte. Der Befehlsgeber der neuen Träger spielt nun den „good cop“ und fragt mich aus nach meinen weiteren Plänen, nach meinen Einkünften und nach meinem Beruf. Ich gehe auf keine der Fragen inhaltlich ein. Der Befehlsgeber erklärt „Ihnen kommt es ja bestimmt auf die Außenwirkung an, die können Sie haben, indem Sie…“. Auch auf diese Art Vorschläge gehe ich nicht ein. Etwa um 11:15 werde ich vor die Tür der Gefangenensammelstelle Ulmenstrasse geschafft. Neben mir werden drei Plastiksäcke mit meinem Gepäck abgelegt. Es fehlen darin Rasierklingen, ein hochwertiges Klappmesser und Papiere ohne dass über diese Aneignung etwas im Protokoll vermerkt wird. Für meinen versuch, mich direkt zu Beschweren sind die Türen der Anstalt gesperrt. Drei Minuten später gelingt es mir, den Ermittlungsausschuß über meine Freilassung, die Nacktfotos und soweit ich es mitbekommen habe über die Behandlung anderer Gefangener zu informieren.

Novosibirsk, den 6. August 2007