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G-8-NACHWEHENSPIEGEL ONLINE - 27. Juni Von besonnen bis brutal - Gipfelgegner und Polizei überziehen sich mit Vorwürfen Von Ingo Arzt Seit drei Wochen ist der G-8-Gipfel Geschichte, doch der Protest geht mit Härte weiter - verbal: Globalisierungskritiker bezichtigen die Polizei der Willkür und sexueller Übergriffe. Die kontert, die Gewalt sei derart eskaliert, dass Beamte sogar die Waffe hätten ziehen können. Berlin/Heiligendamm - Vom Sicherheitsbollwerk zum Gartenzaun - das Symbol der Abschottung der G 8 vom Rest der Welt soll demnächst in Teilen Rosen und Katzen schützen. Der Hersteller des zwölf Kilometer langen Sicherheitswalls rund um den Gipfelort Heiligendamm teilte heute mit, dass 1,2 Kilometer des Zauns an eine sächsische Rosenzucht in Borsdorf bei Leipzig gehen. Ein Tierheim in Schlage bei Rostock erhält 40 Meter für ein neues Katzengehege. Weitere mehrere hundert Meter gehen jeweils an Veranstaltungsfirmen in Mecklenburg- Vorpommern und ein Brandenburger Recyclingunternehmen. Das Zaunbauunternehmen bestätigte damit einen Bericht der "Schweriner Volkszeitung". Ein Drittel des Zauns fand bis heute keine Abnehmer und landet auf dem Schrott. Anfang Juni hatte der 12,5 Millionen Euro teure Zaun samt Überwachungstechnik Tausende Gipfelgegner auf Distanz vom Tagungsort gehalten. Und auch wenn bis Ende August auch die letzten Reste abgebaut sein werden, der Kampf um die Deutungshoheit über Auseinandersetzungen, die sich Sicherheitskräfte und Globalisierungskritiker an der technischen Sperre (Polizeijargon) lieferten, wird wohl auch dann längst nicht vorbei sein. Denn noch immer beschäftigen die Proteste rund um das Treffen Gipfelgegner, Polizei und Politik. Im Innenausschuss des Landtags von Mecklenburg- Vorpommern erstatteten heute Innenminister Lorenz Caffier (CDU) und der Leiter der Sondereinheit "Kavala" Bericht - hinter verschlossenen Türen. Dass damit alles zu aller Zufriedenheit geklärt ist, ist schon jetzt ausgeschlossen. Der Rostocker Grünen- Bundestagsabgeordnete Harald Terpe sprach sich bereits für einen Untersuchungsausschuss im Schweriner Landtag aus. Auf der Tagesordnung würde Terpe gerne die Beteiligung der Bundeswehr an den Sicherungsmaßnahmen sehen. Auch forderte er Aufklärung über die Bedingungen, unter denen in Gewahrsam genommenen Demonstranten festgehalten wurden. Jedenfalls sorgt der Umgang der Polizei mit den aufgegriffenen Protestlern im Lager der Globalisierungskritiker weiter für Empörung. Gestern trafen sich in Berlin etwa 100 Organisatoren und Teilnehmer der Anti-G-8-Aktionen, um noch einmal geballt mit massiven Vorwürfen gegen Polizei und Staat in die Offensive zu gehen. Mit dabei im ver.di-Gewerkschaftshauptquartier waren auch Grünen-Fraktionsvize Hans-Christian Ströbele und der Datenschutzbeauftragte des Landes Mecklenburg- Vorpommern, Karsten Neumann. Demonstrantinnen beschuldigen Polizisten Zahlreiche Betroffene hatte die Bewegung aufgeboten. Nüchtern und sachlich berichteten etwa die Atomkraftgegner Heiko Jäger und die sechsfache Mutter Kerstin Rudek, dass sie die "Kavala", die den Einsatz zum Schutz des Gipfels koordinierte, wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung verklagen wollen. Nach eigenen Angaben saßen die aus dem Wendland angereisten Demonstranten nach einer Kontrolle ihres Auto-Konvois auf der Autobahn am Flughafen Rostock-Laage über zwölf Stunden in einer der so genannten Gefangenensammelstellen (Gesa) - grundlos, wie sie erklärten. Die Gesas waren ins Gerede gekommen, nachdem bekannt geworden war, dass hier in Gewahrsam oder festgenommene Demonstranten teilweise in Käfigen festgehalten wurden. Ein junger Demonstrant war sichtlich um Fassung bemüht, als er auf dem Podium mit zittriger Stimmer von seiner Haft vom 3. bis zum 9. Juni erzählte. Die Polizei hatte in seinem Auto ein Transparent mit der Aufschrift "Freiheit für alle Gefangenen" gefunden und ihn daraufhin festgenommen. Das Landgericht Rostock folgte der Argumentation der Polizei, es handle sich um einen Aufruf für eine Straftat. Während es sich bei derartigen Berichten um aktenkundige Fälle handelt, sind andere kaum nachprüfbar. Eine anonyme Aktivistin einer Gruppe, die Frauen und Männer nach sexuellen Übergriffen betreut, erhob auf dem Podium schwere Vorwürfe gegen Beamte: So hätten sich festgenommenen Frauen vor männlichen Polizisten nackt ausziehen müssten. Andere Frauen sollen in den Gesas mit dem Hinweis auf einen "ganz dunklen Raum" von männlichen Polizisten eingeschüchtert worden sein. Auf der anderen Seite erhebt die Polizei immer schwerere Vorwürfe gegen gewalttätige Demonstranten. In der vergangenen Woche lud die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Beamte aus dem ganzen Bundesgebiet zu einem Treffen, um Erfahrungen rund um den Einsatz in Rostock auszutauschen. "Wir hatten Situationen, die den Schusswaffengebrauch durchaus gerechtfertigt hätten", sagte Jörg Radek, Vorstandsmitglied der GdP, angesichts der Situation während der Hauptdemonstration am zweiten Juni in Rostock. Was da auf die Polizisten geworfen worden sei - extrem spitze Steine oder katapultartige Wurfgeschosse -, sei gegen das Leben von Beamten gerichtet gewesen, so Radek. Insofern hätten die Beamten noch besonnen reagiert. "Mitglieder des schwarzen Blocks handelten unverhohlen in gezielter Tötungsabsicht. Sogar Informationsblätter mit Hinweisen, an welchen Körperstellen die Einsatzkräfte trotz ihrer Schutzausstattung verletzbar sind, kursierten unter den Demonstrationsteilnehmern", äußerte sich Radek auf der Internetseite der GdP. Welche Konsequenzen beide Seiten aus den Vorfällen ziehen ist noch nicht abzusehen. Manfred Stenner, Mitglied der Demonstrationsleitung am 2. Juni, spricht mit Blick auf den Gewaltausbruches von Rostock von einigen "irritierenden Stellungnahmen" innerhalb linker Gruppen. Auch einen Monat nach den Ausschreitungen hat sich die extreme Linken noch immer nicht klar von Angriffen auf Menschen distanziert, wie es Stenner fordert. Noch sei allerdings Zeit zur Aufarbeitung nötig, sagt Stenner. Auch Sven Giegold, Mitglieder im Koordinierungsausschuss der globalisierungskritischen Bewegung "Attac", will der Szene Zeit geben und wird nicht müde zu betonen, die Gewalt während der Demonstration sei nicht von Mitgliedern des Protestbündnisses ausgegangen. "Kavala" prüft 30 Dienstaufsichtsbeschwerden Auch die Polizei will sich mehr Zeit zur Aufarbeitung nehmen. Derzeit prüft die GdP die Vorwürfe gegen Beamte in den Gesas, bei der "Kavala" werden nach Angaben eines Sprechers derzeit 30 Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Polizisten geprüft. Eine Sprecherin des Innenministeriums in Mecklenburg-Vorpommern sagte, wenn die Demonstranten ihre Vorwürfe gegen Polizisten nicht zur Anzeige brächten, dann würden sie auch nicht geprüft werden. Das dürfte bedeuten, dass vieles im Sande verläuft. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sammelt seit dem Jahr 2004 Fälle, in denen Beamte in Deutschland ihre Polizeigewalt missbräuchlich eingesetzt haben sollen. Auffallend selten komme es dabei zu Verurteilungen, sagt Wolfgang Grenz, der das Projekt betreut. Er beschreibt die übliche Vorgehensweise so: Sobald ein Bürger gegen einen Polizisten klagt, erstattet dieser Gegenanzeige. Kollegen sagen so gut wie nie vor Gericht gegen andere Polizisten aus, so dass am Ende Aussage gegen Aussage steht und die Verfahren fallen gelassen werden. Ein Verhalten, dass viele aus der Protestszene kennen, weshalb sie von Anzeigen meistens von vornherein absehen. Zur Aufklärung der Vorfälle trägt das nicht bei - auf beiden Seiten. mit Material von dpa |
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