Verflixte Sieben

junge Welt 16. Jubi 2007

Gegenwehr geht nicht von Agenten aus, sondern von Leuten, die die Nase voll haben. Die Diskussion über Provokateure soll nur die Ablehnung von Militanz bewirken

Von Dr. Seltsam
Ich glaube nicht an Zahlenmystik, aber jedes Jahr mit einer Sieben am Ende zeigt die herrschenden Verhältnisse mit besonderer Schärfe an: 1907 die grausamen Kriege in Afrika, wo die Deutschen das Völkermorden lernten und die SPD bei den »Hottentottenwahlen« rassistisch halbiert wurde. 1917 russische Revolutionen. 1927 ist der Kapitalismus stabil und die KPD endlich Massenpartei. 1937 nach dem Nazischock ergreift jeder anständige Linke die verzweifelte Chance, in Spanien endlich mit der Waffe in der Hand Faschisten zu killen. 1947 leise Hoffnung auf eine einige Arbeiterklasse in einem antifaschistischen Staat. 1957 sind alle großen Dichter tot, Stalin »entlarvt« und die KP im Untergrund, alles verloren. ’67 plötzlich der Ausbruch der Jugendrevolte, die erst zehn Jahre später 1977 in den Zellen von Stammheim endgültig erledigt wird. 1987 ist Kreuzberg No-go-area für Polizei, und Hausbesetzer sind Staatsfeinde. 1997 ist die DDR widerstandslos liquidiert, die Linke liegt am Boden, und das DDR-Volk kriegt die Quittung. 2007 erscheint der Kapitalismus stark wie nie, alle seine Pläne gelingen, aber da taucht das Gespenst des Kommunismus wieder auf, diesmal im Hinterhof der USA, die ihre Schulden nicht bezahlen, aber ihre Prosperität mit Kriegen bewahren. Wenn alle Menschen wüßten, was da auf sie zukommt, würden sie in Panik geraten. Eigentlich eine gute Situation für die Revolution, die laut Lenin dann kommt, wenn die Herrschenden nicht mehr so weitermachen können wie bisher und die Ausgebeuteten sich ernsthaft zu wehren beginnen.

Soziale Revolte

Man merkt, ich bin ein unverbesserlicher Revolutionsromantiker und sehe den Fortschritt noch, wo andere in Depression versinken – das macht meine Erfahrung von ’67! Gerhard Zwerenz meinte im Rückblick, noch im Mai 1967 habe er Vorträge gehalten über die erforderliche langwierige Geduld der Linken, und keinen Monat später brodelte im Westen der politische Hexenkessel nach dem 2. Juni. Gut, das war keine Revolu­tion, und erst von heute aus kann man ermessen, wie weit wir wirklich von antikapitalistischen Umwälzungen entfernt waren. Aber in jeder Seminararbeit an der Uni mußte man erstmal eine marxistische Herleitung der Warenform leisten, die Demonstranten, auch in Provinzstädten, trugen rote Fahnen und Leninbilder, und die Entourage des Roten Rudi wurde von mittelständischen Geschäftsleuten um Protektion bei den kommenden Enteignungen gebeten, ernsthaft. Auch der jugendliche Teil der Arbeiterklasse engagierte sich in der linken Revolte, und zwar, behaupte ich, weit stärker als in den Arbeiterstaatsparteien im Osten! Deren Politik führte ins Desaster von 1989, die westliche Revolte hingegen in K-Sekten oder Drogensüchte. Der Gelegenheitsarbeiter Joseph Fischer mag als Beispiel gelten. Es zeigt, welch riesige Anstrengungen die Kapitalklasse unternehmen mußte, um die Steinewerfer unter ihre Botmäßigkeit zu zwingen: Willy Brandts Amnestie, SPD-Öffnung, Beamtenkarrieren, Berufsverbote, Regierungsposten, indische Religionen, Rock’n’Roll, Moden, Weltreisen, Ökologie und die grüne Partei. So viel wird die Bourgeoisie es sich diesmal nicht kosten lassen, sie hat das Geld nicht mehr. Also wird eher geschossen.

Nicht in den Zielen, aber in ihrer Dynamik und der Gewalt, mit der sie die Massen ergriff, enthielt die Revolte alle sozialen Elemente großer Revolutionen, ich meine vor allem das Über-sich-selbst-Hinauswachsen ganz mittelmäßiger Menschen, was für mich das Beglückendste und das Hauptkennzeichen sozialer Revolten ist. In Wahrheit, so kann man im Rückblick sagen, machten die 68er den westdeutschen Kapitalismus erst reif zum Wiederaufstieg, die schwarzbraunen Reaktionäre waren überall zum Hemmnis einer modernen Entwicklung geworden, und hinterher war man in allen Schichten froh, daß die antifaschistische Jugend sich durchgesetzt hatte. Man lernte aber vielerlei in der Revolte, was man fürs Leben nicht mehr vergessen sollte: Blonde, blauäugige Bauernmädchen, »die Bildungsreserven« des Pädagogen Georg Picht, wurden zum Gymnasium zugelassen und lernten zum ersten Mal, NEIN! zu sagen. Es verschwand das Zittern vor Autoritäten und die Angst vor Polizei; das erste Mal Sich-wehren, der erste Steinwurf, der erste Schulstreik, das erste Sit-in, bei dem man nicht weglief, das Anzünden der Bild-Zeitung: Unvergeßliche Momente für alle, die dabei waren.

Bei uns in der Lübecker Provinz kam der Zündfunke von der neugegründeten NPD. Sie wollte eine Wahlveranstaltung durchführen, und plötzlich war die Revolte da. Ein Musterschüler, später Senator, der in Chemie eine Eins hatte, klaute Brom aus der Schule und bastelte Tränengas. Gegen die Polizeipferde verteilte jemand angespitzte Bambusstecken, die man in die Weichteile bohrte. »Wer keine Angst hat, zieht den Kaiser vom Pferd!« Es meldeten sich Klassen geschlossen vom Religionsunterricht ab und schwänzten die Turnstunde beim Prügelnazi. Ein späterer Archäologe entdeckte in der Stadtbibliothek viehische Oden, die unser Direktor an Hitler geschrieben hatte. Als wir sie abdruckten, bekam der einen Herzanfall, es herrschte Krieg und es gab Tote, keine Seite zeigte Erbarmen. Die Satirezeitschrift Pardon vertrieb eine Platte mit Reden des doofen Bundespräsidenten, über die sich alle scheckig lachten, sogar bei der Jungen Union gab es Knutschparties mit Bourbon und Lübcke. In der Volkshochschule gab es eine Saalschlacht mit dem Kulturminister mittendrin, der Braune hieß und war. Die Jugend nahm die Alten, die Nazis und die autoritären Anpasser, nicht mehr ernst, sondern lachte sie aus. Damit war deren Macht gebrochen, und der Schatten Hitlers verschwand langsam aus den Köpfen. Gewiß, es ist dann anders gekommen, aber in diesem einzigartigen historischen Moment, dem »Kairos«, hatten wir unsere Chance wahrgenommen und rausgeholt was möglich war. Ein ähnliches Gefühl habe ich heute wieder: Es wird der Sturm auf Heiligendamm nicht das »Letzte Gefecht der Weltrevolution« gewesen sein, möglicherweise aber das erste, wo es ernst wurde.

Kalkulierte Radikalisierung

Die Parallellen drängen sich auf: Wie 1967 herrscht eine Große Koalition ohne nennenswerte Opposition im Parlament, die führenden Politiker sind verlogen, korrupt und provinziell, mit einem Wort: Beck. Die imperialistische Vormacht USA verliert einen großen Krieg, damals Vietnam, heute Irak, und verliert mit Folter und Großkotzigkeit jedes Ansehen, das heißt, die wenigen, die den USA noch politisch die Stange halten, geraten moralisch ins Abseits. Die Weigerung der Bourgeoisie, die Nazipartei zu verbieten, wird zum Hauptstrategem der Linken, weil sie ihr täglich neue Anhänger zuführt. Die Lebensaussichten der Jugend stehen durch Krise, Klima und Neoliberale auf Null. Die Polizei macht die Verfassung lächerlich und bringt die Demokraten gegen den Staat auf: Friedliche Bürger werden mit Helikoptern terrorisiert, Horrorlügen über Gewalttätigkeit erzeugt, Greenpeacis fast ertränkt, Leuten Augen ausgehauen und Ärzte in Hundekäfige gesperrt, die ganze Medienmacht gegen nackte Wanderdemonstranten ausgespielt. Die »vertierten Bullenhorden« (ein Anwalt), bewaffnet und bedrohlich gerüstet, höhnisch überlegen, laufen bei der ersten Gegenwehr feige weg. Das alles erinnert so sehr an den 2. Juni 1967, daß nur ein Toter fehlte, um die Bilder deckungsgleich zu machen. Sobald sich die Wahrheit über den Polizeiterror verbreitet, wird ihr Ansehensverlust gewaltig sein, wie ’67 täuschen sie sich vollständig über die gesellschaftliche Wirklichkeit.

Die Ikone der 68er-Rebellion waren die flammenden Zeitungswagen auf dem Springer-Parkplatz. Im Audimax der Technischen Universität hatte eine Studentenversammlung beschlossen, daß Bild die Schuld an dem Attentat auf Dutschke trug und wanderte zum Verlagshaus nach Kreuzberg, um ihren demokratischen Protest friedlich vorzutragen. Es entsprach aber dem Kalkül der politischen Polizei, die studentische Protestbewegung zu radikalisieren, bevor sie andere gesellschaftliche Bereiche »infizierte«. Weshalb der Polizeispitzel Peter Urbach rechtzeitig mit einem Auto voller »Mollies« zur Stelle war und das erste Fanal einer neuen, radikal linken Bewegung startete. (Bekanntlich war vor 1917 der Chef der Bolschewisten-Fraktion in der zaristischen Duma, Malinowski, ein Geheimagent. Stalin wollte ihn immer umbringen. Lenin dagegen sagte, solche Provokateure solle die Bour­geoisie mal öfter schicken.) Zu behaupten, der Verfassungsschutz habe somit die Fäden der linken Bewegung gezogen, wäre übertrieben. Es waren bereits zu viele, die sich über die autoritären Verhältnisse im Nazinachfolgestaat empörten, und alles, was noch fehlte, war der zündende Funke. Und das waren die brennenden Springer-Wagen.

Der Staatsschutz hatte sich wie so oft verrechnet. Im innersten Kern kapitalistischer Macht, sagte damals ein Insider, herrscht oft große Fähigkeit zur Manipulation bei äußerster Unfähigkeit zur Erkenntnis (Alfred Sohn-Rethel, Kursbuch 21). Noch heute können die Bourgeois-Ideologen nicht verstehen, daß es die Kapitalherrschaft selbst war, die die etwas intelligentere Jugend 1967 in den Aufstand trieb, und so behauptet Hubertus Knabe, Leiter des Stasimuseums Hohenschönhausen, heute noch, die linke, aber eben auch DDR-kritische Studentenbewegung wäre damals vom MfS gesteuert gewesen. Die ganze innerlinke Diskussion um die Polizeispitzel im Schwarzen Block kann man sich schenken: Wenn die Bewegung soweit ist, werden sie nicht als Agents provocateurs für die Polizei wirken, sondern aus Versehen mithelfen, das Fanal einer neuen Revolte zu entzünden. Denn nach dem 2.Juni 67 kam die 68er-Bewegung, die ganze Generationen dem Kapitalismus entfremdet hat – und auf den 2.Juni 07 folgt: »08«!

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