Der artgerechte Staat

Sueddeutsche Zeitung 10. Juni 2007

Das Recht der inneren Sicherheit in Deutschland ist gekennzeichnet vom Verlust der Maßstäbe und von der Veralltäglichung der Maßlosigkeit.

Von Heribert Prantl

Was bei den Legehennen als nicht artgerecht gilt, gilt nun offenbar bei den Menschen als gerecht. Für Legehennen ist die Käfighaltung mit Ablauf 2008 verboten; für Menschen wurde sie soeben eingeführt. In Heiligendamm sind die festgenommenen Demonstranten in Gitterkäfige gesperrt und dort verwahrt worden, jeweils 20 Menschen auf 25 Quadratmeter, Tag und Nacht beleuchtet und bei all ihren Regungen gefilmt.

Diese Käfighaltung manifestiert: Das Recht der inneren Sicherheit in Deutschland ist gekennzeichnet vom Verlust der Maßstäbe und von der Veralltäglichung der Maßlosigkeit. Bezeichnend dafür ist auch der ungeheuerliche Verdacht, dass staatliche Gewaltaufwiegler, Zivilpolizisten in schwarzer Maskerade, sich unter die Demonstranten von Heiligendamm gemischt, sie zu Straftaten angestiftet und zu diesem Zweck Steine auf die Polizei geworfen haben sollen.

Es handelt sich bei solchen Cochonnerien leider nicht einfach um Entgleisungen. Hier verdichtet sich der Ungeist, der die Politik der inneren Sicherheit beherrscht. So sieht es aus, wenn der Zweck die Mittel heiligt: Dann wird die Absurdität ein Merkmal der Repression, und der Irrwitz ein Instrument der Prävention; dann wird der Rechtsstaat partiell ausgeschaltet, um ihn auf diese Weise angeblich zu schützen.

Heiligendamm

Aufweichung der rechtsstaatlichen Grundsätze: Käfige in Heiligendamm
Foto: dpa

Die Sicherheitsgesetzgebung hat ein Klima erzeugt, in dem es der Polizei und der Justiz als normal erscheint, dass festgenommene Demonstranten in Käfige gesperrt werden.

Warum ist das so? Weil die rechtsstaatlichen Fundamente weich geworden sind. Was dem Staat vor Jahren noch verboten war, ist ihm heute durch Gesetz geboten. Die heimlichen Ermittlungsmethoden, gestern noch die große Ausnahme, gehören heute zum Alltag der inneren Sicherheit. Und was heute noch nicht zum juristischen Alltag gehört, wird gleichwohl praktiziert, um es dann, wie die Erfahrungen zeigen, morgen auf den gesetzlichen Alltag auszudehnen.

Das Bundesverfassungsgericht wird von dieser Sicherheitspolitik betrachtet wie ein komischer Heiliger, der, hoch oben auf der Säule, Weltfremdes predigt. Soeben hat das höchste Gericht, in einer Mischung aus Ohnmacht und Verzweiflung, eine Mahnung an alle Staatsgewalten gerichtet: ,,Der hoheitliche Eingriff bedarf der Rechtfertigung, nicht aber benötigt die Ausübung des Grundrechts eine Rechtfertigung‘‘. Dieser eigentlich selbstverständliche Grundsatz wurde nicht nur in Heiligendamm missachtet, wo das Sicherheitskonzept dem friedlichen Protest ,,keine Verwirklichungschance‘‘ ließ (so das Bundesverfassungsgericht).

Dieser Grundsatz leidet auch bei vielen Sicherheitsgesetzen, die in jüngerer Zeit beschlossen und auf den Weg gebracht wurden: Bei den Plänen etwa zur heimlichen Durchsuchung von Computern und zur zentralen Speicherung von Fingerabdrücken. Der Staat dreht hier die Beweislast um: Für ihn gilt der Eingriff ins Grundrecht als Normalität, und der Bürger, der sich dagegen verwahrt, als missliebig und verdächtig.

Die Totalprotokollierung der Telekommunikation ist das jüngste Exempel: Künftig wird vorbeugend und auf Verdacht sechs Monate lang festgehalten, wer mit wem wie lange per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden oder das Internet benutzt hat. Die Vertraulichkeit, auf die alle Berufe in Medizin, Kirche, Recht und Journalismus angewiesen sind, ist nicht mehr gewährleistet.

Die deutsche Politik hat darauf verwiesen, dass man nur eine EU-Richtlinie (die man selbst betrieben hat!) umsetze - und so getan, als gehöre eine solche Richtlinie zu den zehn Geboten. Seit 2006 ist beim EU-Gerichtshof eine Nichtigkeitsklage anhängig; der Gesetzgeber hat den Ausgang dieser Klage nicht abgewartet. Und er hat das Votum des Verfassungsgerichts, das im Volkszählungsurteil eine Speicherung von Daten auf Vorrat verboten hat, als irrelevant betrachtet. Die Zeiten, die vor dem 11. September 2001 liegen, werden von der Sicherheitspolitik für steinzeitlich gehalten. Seit 9/11 gilt jeder als potentiell verdächtig - der Ausländer zuvorderst.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble will deswegen die Fingerabdrücke aller Ausländer in Deutschland zentral speichern - im Ausländerzentralregister. Man kann davon ausgehen, dass dies nur die Vorstufe ist, um später auch die Fingerabdrücke aller Deutschen im Bundeszentralregister zu speichern.

Das Asyl- und das Ausländerrecht war nämlich in den vergangen zwanzig Jahren stets ein juristischer Bulldozer, der geltende Rechtsgrundsätze weggeräumt hat: Das gilt für die Verdachtsstrafe, dass gilt für die Vereitelung des Rechtsschutzes. Das Bild vom gefährlichen Individuum wurde zuerst im Asylrecht entwickelt, dann ins allgemeine Ausländerrecht übernommen; jetzt hält es ins allgemeine Sicherheitsrecht Einzug.

Der Rechtsstaat hat kaum noch politische Hüter. Das Bundesverfassungsgericht steht als Wächter der Grundrechte fast so allein wie einst Roland im Tal von Ronceval. Das höchste Gericht braucht engagierte Streithelfer: Es braucht Bürger, die sich den Abbau des Rechtsstaats nicht mehr gefallen lassen; es braucht Bürger, die trotz alledem, wie in Heiligendamm, für ihn und eine andere Politik friedlich demonstrieren.