Der Zaun zieht an

Ostsee Zeitung 30. April 2007

13 Kilometer lang, zwölf Millionen Euro teuer: Die Absperrung um Heiligendamm erhitzt die Gemüter und zieht zugleich die Massen an – Demonstranten, Polizisten und Touristen. Nur die Tiere hauen ab.

Heiligendamm (OZ) „Hinterm Zaun liegt der Strand.“ Und neben dem Aufruf im Internet ein Bolzenschneider. Eine blumige, aber eindeutige Aufforderung, die da unter www.gipfelsoli zu lesen ist. Eindeutig auch ein Aufruf mehrerer Anti-Atom-Initiativen zur Demo gestern in Heiligendamm. Das Bündnis will „demonstrieren und den Zaun in Augenschein nehmen“. Das hat Witz. Das hat Provokation. Der Zaun von Heiligendamm – zwölf Kilometer, 12,5 Millionen Euro – , er soll trennen. Die Mächtigen vom Volk. Und schützen. Die Mächtigen vorm Volk. Er polarisiert und zieht an. Wie ein Magnet.

Seit Wochen hat die Polizei 30 Platzverweise am Zaun ausgesprochen, verrät Knut Abramowski, Leiter des Planungsstabs für G8 „Kavala“. Jetzt habe man aufgehört zu zählen. Jetzt gehe man damit gelassener um. Gipfelgegner hätten aber Straftaten am Zaun angekündigt, heißt es.

Wochen vor dem Ereignis tobt – verborgen und leise – am langen Zaun von Heiligendamm ein skurriler Kampf zwischen Polizisten, G8-Gegnern, Touristen, Anwohnern, Künstlern, Spaziergängern und wilden Tieren. „Irgendwelche Leute sehen jetzt auf einem Bildschirm, dass wir hier stehen“, sagt Hans-Jürgen Winetzka (59) aus Rabenhorst bei Bad Doberan. Wie das denn? „Ich habe mir sagen lassen, die können das per Satellit.“ Mit Verwandten hat Winetzka einen Ausflug gemacht. Familientreffen am Zaun. Nach dem Essen, vor dem Kaffee. „Darf man doch.“

Das mit dem Satelliten dementiert Kavala-Sprecher Ulf Erler: „Das ist futuristisch.“ Trotzdem herrscht am Zaun eine große Portion Big Brother. Videokameras werden die „technische Sperre“ überwachen. Überall stehen Einsatzwagen. Ständig wird der Zaun „bestreift“. Der Rekord: Zugriff unter drei Minuten. Als ein Fotograf an der Sperre neben der Rennbahn von Bad Doberan für das bessere Motiv eine Leiter aus dem Auto holt, stehen zwei Polizisten neben ihm. „Oberkommissar Weißberg, Personenkontrolle. Ihre Papiere bitte.“ Die Leiter muss weg. Die Ausweise werden im Computer gecheckt, und wer einschlägig aufgefallen oder vorbestraft ist, darf mit Platzverweis rechnen.

Winetzka ist weder einschlägig noch vorbestraft. Er darf den Spaziergang am Zaun in Familie fortsetzen. „Ich war beim Bau der Mauer dabei. Das erinnert mich an damals“, sagt er. Das könne man wohl kaum vergleichen, meint der Beamte. Und Winetzka später: „Was ich vergleiche, das kann der schon schön mir überlassen.“

Im Wald zwischen der Rennbahn und dem Conventer See steht ein Polizeiwagen am Zaun. Drei Polizisten hocken auf Baumstämmen. Einer isst einen Apfel, einer spielt mit einem Taschenmesser. Auf dem Armaturenbrett im Auto liegt „Sakrileg“ von Dan Brown. Thriller gegen Langeweile im Wald. Ab und zu kommen Spaziergänger, Radfahrer, Fotografen, Journalisten vorbei.

Alle wollen Infos zum Zaun. Fast alle wollen Fotos vom Zaun. Er hat schon viele Titel: „Dokument der Zeitgeschichte“, „monumentales Bauwerk“, „technisches Denkmal“ oder „schlicht absurd“. Eine Touristin aus Frankfurt sagt: „Unglaublich so was. Da steht kilometerlang einfach so ein riesiger Zaun in der Gegend rum.“ Das müsse man sich mal vorstellen.
Für Michael Bennett (33) ist der Zaun Schlüssel zu akademischen Meriten. Der Offenbacher Fotografie-Student arbeitet an seiner Diplom-Arbeit. Über den Zaun von Heiligendamm. Eine soziologische Betrachtung zum Leben mit dem Zaun in Bildern. Seit Wochen ist Bennett bei Bad Doberan unterwegs und macht Großformatfotos. Die Polizisten kennen ihn. Als er an einer Bushaltestelle bei Vorder Bollhagen mit drei Abiturientinnen ein Foto machen will, wird er erneut kontrolliert. „Schönen guten Tag. Polizeihauptmeister Otto, Sie wissen, welche Sicherheitsbestimmungen hier gelten?“ Personalausweis bitte! Die Mädchen aus Bad Doberan regt der Zaun auf: „Hässlich! Das Ding ist einfach nur hässlich“, sagt Paula Riedel (18). Jenny Krauleidis (18) will demonstrieren. Wogegen? „Unsere Eltern finanzieren diesen grässlichen Zaun und keiner hat uns gefragt. Die sollen sich auf einer einsamen Insel treffen.“

Bennett lässt sich nicht stören. Er gibt seinen Pass ab, baut Lampen, Kameras, Stative auf, während der Herr Polizeihauptmeister Otto seine Daten kontrolliert: „Mein Rekord liegt bei fünf Kontrollen pro Stunde“, sagt Bennett.
Monty Schädel, Geschäftsführer der Friedensgesellschaft in Rostock, sieht den Zaun nicht als Ziel von Protesten: „Mit einem Bolzenschneider braucht man gar nicht anzukommen. Eher 32er-Schlüssel.“ Aber die Schrauben seien ja verschweißt. Der Zaun ist natürlich ein Symbol für das Aussperren demokratischer Gesellschaft und das Einsperren fester Machtstrukturen. „Und damit genauso illegal wie der Gipfel“ meint Schädel.

Frauke Distelrath vom globalisierungskritischen Netzwerk Attac dementiert, dass es Aufrufe zur Gewalt gegen den Zaun von Attac gebe: „Unser Ziel ist es nicht, an den Zaun zu kommen oder uns mit Polizisten anzulegen. Unser Ziel ist Protest. Aber wir betrachten den Zaun als Form von Gewalt und als undemokratisches Objekt der Unterdrückung.“
Andreas Rotzoll (46), Fernfahrer aus Vorder Bollhagen, wohnt 300 Meter hinter dem Zaun. Auf der anderen Seite liegt das Gewerbegebiet Reddelich, wo ein Camp für G8-Gegner eingerichtet wird. Er hat keine Angst, dass Demonstranten ihm die Rabatten platt latschen. „Den Zaun empfinde ich als normale Baustelle. Nix Besonderes. Der kommt ja wieder weg.“ Die Polizei habe gesagt, „wenn wir wollen, kommen auf jeden Anwohner drei Polizisten.“ Das muss reichen. Wegfahren will er zum Gipfel nicht. „Wenn wir untergehen, dann mit Mann und Maus.“

Kleine Tiere können sich ja unter dem Zaun durchgraben, um in die Freiheit zu kommen. Oder wieder rein ins umzäunte Gefängnis der Macht. Für die Großen hat sich Harald Runze (57) eingesetzt. Forstamtsleiter in Bad Doberan. Runze hat dafür gesorgt, dass „Querungslücken in der Übergangsphase lange offen bleiben.“ Damit Ricken nicht vom Kitz getrennt werden. Jetzt aber hätten sich die wilden Tiere dran gewöhnt. Dort, wo sich Fuchs, Reh und Wildsau sonst so gute Nacht sagen, sei kein Wild mehr anzutreffen. „Tiere merken, wenn sie unerwünscht sind“, sagt Runze. „Und verdrücken sich.“ Schlau, die Tiere.

MICHAEL MEYER

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