Demos auf dem Parlamentsparkett

Passauer Neue Presse 28. April 2007

Demonstranten seilten sich ab, mitten unter die Parlamentarier im Deutschen Bundestag. An der Fassade des Reichstags entrollten sie Transparente.

Berlin. Auf einmal ging alles ganz schnell: In Windeseile entrollten junge Demonstranten auf der Besuchertribüne des Bundestages ein Transparent. „Die Wünsche der Wirtschaft sind unantastbar“, lautete die Protestaufschrift in Anlehnung an das Grundrecht auf Menschenwürde. Flugs waren zwei Demonstranten über das Geländer in die Tiefe ins Plenum gesprungen. Demonstranten mitten im Kreis der Parlamentarier - helle Aufregung unter den Abgeordneten über die Aktion während einer Abstimmung in der Familiendebatte, mit der die Opposition Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen herbeizitieren wollte. Nicht einmal erfahrene Bundestagsabgeordnete können sich an einen derartigen Eklat erinnern. Von der Tribüne regnete es Spielgeldscheine und Flugblätter. Wenig später seilten sich an der Westseite des Reichstages zwei Störer von der Dachterrasse an der Fassade des Hohen Hauses ab und entrollten ein Transparent mit der Aufschrift „Der Deutschen Wirtschaft“, eine Abwandlung des Schriftzuges „Dem deutschen Volke“ über dem Reichstagsportal. Erst die Höhenrettung der Feuerwehr konnte die Aktion beenden. Der spektakuläre Protest - offenbar eine Aktion von Globalisierungsgegnern. Saaldiener und Polizei stoppten die Aktionen und stellten die Personalien fest. Die Beamten prüfen, ob es Verbindungen zu Gegnern des G8-Gipfels Anfang Juni in Heiligendamm gibt. Wie konnten die Störer mit ihrer Ausrüstung unbehelligt in den Bundestag und auf das Dach des Reichstags kommen? Gibt es Sicherheitsmängel im Parlament? Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) winkt ab: „Der Vorfall zeigt die Gratwanderung zwischen der berechtigten Erwartung unserer drei Millionen Besucher, hier nicht in einen Hochsicherheitstrakt geführt zu werden, und den Problemen, die - wie sich heute bitter zeigt - immer mal auftreten können.“ Völlig ausschließen ließen sich solche Vorfälle nicht. Hundertprozentige Sicherheit gebe es nicht, erklärten auch die Innenexperten von Union und SPD. Dennoch: SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz fordert, dass sich der Ältestenrat des Bundestages mit dem Fall beschäftigen soll. Besonders peinlich: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) musste die Bundestagssitzung kurz nach dem Eklat beenden. Jedoch nicht wegen der Störer, sondern weil zu viele Abgeordnete fehlten und das Parlament beschlussunfähig war. FDP und Grüne wollten in der Debatte zur Familienpolitik Ministerin Ursula von der Leyen (CDU) ins Plenum zitieren, die durch Abwesenheit glänzte. Weil sich bei der Abstimmung über den Antrag kein klares Mehrheitsbild abzeichnete, mussten die Abgeordneten per „Hammelsprung“-Verfahren votieren, bei dem die Parlamentarier ihre Stimme abgeben, in dem sie das Plenum durch verschiedene Ja- oder Nein-Türen betreten. 76 stimmten schließlich für das Erscheinen von der Leyens, 192 dagegen.

Mit weniger als 300 Abgeordneten war der Bundestag jedoch nicht mehr beschlussfähig. Thierse schickte die wenigen noch anwesenden Bundestagsabgeordneten schließlich ins Wochenende. Freitagnachmittag sitzen viele Parlamentarier in der Regel auf gepackten Koffern oder sind bereits auf dem Weg in den Wahlkreis. Das Fehlen von Ursula von der Leyen stieß besonders bei der Opposition auf harsche Kritik. Von der Leyen habe „dienstliche Termine“, erklärte ein Sprecher des Familienministeriums vage als Grund für das Fehlen von der Leyens. Auch ihr Staatssekretär Hermann Kues (CDU) wollte sich in der Familiendebatte nicht zu Wort melden. Unmut über die Familienministerin, deren Abwesenheit nicht zum ersten Mal für Wirbel im Bundestag sorgt: Bereits im März 2006 wollte die Opposition die CDU-Frau auf die Regierungsbank in den Bundestag zitieren. Damals an einem Donnerstag in einer Debatte über Frauenrechte allerdings mit Erfolg: Obwohl die Große Koalition über eine deutliche Mehrheit von 448 der 614 Bundestagsabgeordneten verfügt, erlitt sie damals eine herbe Abstimmungsniederlage. Frauenministerin von der Leyen musste in den Bundestag kommen, und die Sitzung wurde - anders als gestern - fortgesetzt.

von Andreas Herholz

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