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2001-12-31

"Gerd Albartus ist tot." -- Ausschnitte aus dem Text der Revolutionären Zellen (RZ) von Dezember 1991

Vollständig zu finden unter http://www.freilassung.de/div/texte/rz/zorn/Zorn04.htm

(...) Die Zusammenarbeit mit jener Gruppe basierte auf einem Begriff von Antiimperialismus, der soziale Befreiung unmittelbar an die Erlangung staatlicher Souveränität koppelte. Die Beendigung der Fremdherrschaft, so dachten wir, sei gleichbedeutend mit dem Beginn der sozialen Revolution. Da die Befreiungsorganisationen das um seine Unabhängigkeit kämpfende Volk repräsentierten, waren sie der direkte Adressat internationaler Solidarität. Daß die Machtübernahme den sozialen Gehalt der Revolution in fast allen Fällen eher zerstörte als entfaltete, daß sich die Führer der Befreiungsbewegungen, kaum hatten sie die Kommandoposten in den jungen Nationalstaaten besetzt, als Protagonisten brutaler Entwicklungsdiktaturen gebährdeten, daß von der frisch gewonnenen Unabhängigkeit vor allem die alten Kader profitierten, während das anhaltende Massenelend einer neuen Erklärung bedurfte, daß sich - kurz gesprochen - die ganze Dialektik von nationaler und sozialer Befreiung vor allem für die neuen Machthaber rechnete und daß dies keine Frage von Verrat oder korrupter Moral war, sondern dem Wesen der Staatsgründung entsprach - all das paßte nicht in unser Bild eines homogenen Befreiungsprozesses und wurde deshalb ausgeblendet. Erst in dem Maße, wie nach vollzogener Nationwerdung neue Kämpfe ausbrachen, wie sich vielfältigste Formen sozialer Gegenmacht artikulierten, deren antagonistischer Kontrahent der Komplex von Gewalt und Verwertung war, den jener Staat verkörperte, waren wir imstande, den Mythos nationaler Unabhängigkeit und den ihm immanenten, alle Differenzen homogenisierenden Volksbegriff zu relativieren. Wir mußten zur Kenntnis nehmen, daß das Spektrum sozialer Bedürfnisse und Interessen nicht in den Befreiungsorganisationen aufging und daß die Dimension des Geschlechter- und des Klassenkampfs selbst im Prozeß antiimperialistischer Befreiung keinen Moment lang ihre Bedeutung verloren hatte.
Wir durften uns mit den völkisch- ethnischen Parolen nicht zufrieden geben, auf denen das unartikulierte Miteinander von KämpferInnen und Kommandanten basierte, waren es doch gerade jene, die als Kader unter den Bedingungen des Krieges die Instanzen und Formen zukünftiger Ausbeutung und Zurichtung schufen. Wir konnten nicht länger ignorieren, daß es wiederum die Männer waren, die in Gestalt des befreiten Nationalstaats die Schaltstellen der Verwertung besetzten und damit zugleich einen erneuten Anlauf unternehmen, die Kontrolle über die Frauen und die Reproduktion zurückzugewinnen. Wir mußten den Mythos des Volkskrieges auf seine revolutionären Qualitäten hinterfragen und ihn in seiner Doppelheit als Moment der Befreiung und als Form zerstörerischer Rationalisierung neu begreifen - einer Rationalisierung, zu deren ersten Opfern die Flüchtlinge ebenso gehörten wie die Frauen und Kinder in den Auffanglagern an den Grenzen zu den umkämpften Gebieten. Wir mußten - kurzum - brechen mit allen Facetten des leninistisch- stalinistischen Verständnisses nationaler Befreiung, das von Beginn an die Politik der Komintern bestimmte und das wir uns im Zuge der Rezeption des Marxismus- Leninismus Anfang der siebziger Jahre eingehandelt hatten.
Es ist dies kein Vorwurf oder eine Denunziation jener, mit denen wir damals zusammen gekämpft haben, sondern das - sicherlich sehr pauschale - Resümee einer Erfahrung. Es ist eine Kritik an falschen Harmonievorstellungen, wie wir sie lange Zeit gehabt haben und die hier vor allem auf Seiten anitimperialistischer Gruppierungen ungebrochen genährt werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der jede revolutionäre Gruppe oder Bewegung internationale Solidarität auf ihre Fahnen schreibt, steht im Widerspruch zu den Schwierigkeiten, sie einzulösen. Existenz und Gewalt des gemeinsamen Gegners reichen nicht aus, um die Gegensätze und Konflikte in den eigenen Reihen einzudämmen. Immer wieder brechen auch hier Antagonismen auf, die ihre Ursache in der Unterschiedlichkeit von Interessen und Zielvorstellungen oder in selbst errichteten ideologischen Barrieren haben. Immer wieder kommt der Moment, wo das, was die eine Gruppe für unbedingt richtig und notwendig hält, in den Augen der anderen schädlich und falsch ist. Daraus ergeben sich trotz des Anspruchs auf Gemeinsamkeit im Handeln und Geschlossenheit vor dem Gegner schärfste Auseinandersetzungen, die bis zur Selbstzerfleischung reichen können. Über den Ausgang solcher Kontroversen innerhalb des revolutionären Lagers aber entscheiden nicht der gute Wille und die bessere Absicht, darüber entscheiden - wie sonst auch - die Machtverhältnisse.
(...)
Der leichtfertige Spruch von der Entwertung des Lebens unter den Bedingungen des Krieges, mit dem wir nach Erklärungen für Vorgänge suchen, die für uns unfaßbar sind, ist ein Zynismus, der von den Bildern der Leidtragenden Lügen gestraft wird. Zudem suggeriert er im konkreten Fall, daß das, was in die Verantwortung einer einzelnen Gruppierung fällt, für den palästinensischen Widerstand in seiner Gesamtheit gilt. Wir haben jedoch keinerlei Veranlassung zu irgendwelchen Pauschalisierungen, wir halten es für verkehrt, von den Regeln und Methoden einer Gruppe auf die Verfaßtheit einer gesamten Bewegung zurückzuschließen.
Nein: Die Bereitschaft zur Ermordung eines Genossen läßt sich nicht mit der Härte der Bedingungen entschuldigen, sie ist Ausdruck einer politischen Programmatik, deren einziger Gehalt die Erringung der Macht und deren Sprache die der künfitgen Despoten ist. Die Geschichte ist voll von Beispielen revolutionärer Organisationen oder Bewegungen, die unter vergleichbar brutalen Bedingungen kämpfen mußten, ohne daß sie sich - unter Berufung auf die Niedertracht des Gegners - dessen Methoden zu eigen gemacht haben. Daß dies der geringere Teil ist, daß die Mehrzahl der bolschewistischen Parteien und nationalen Befreiungsorganisationen nach der Devise verfahren ist, daß der Zweck die Mittel heilige und gegen den Feind alles erlaubt sei, wenn es nur der Sache dient, ist kein Gegenargument. Es ist dies eine politische Auseinandersetzung, die ihre historischen Bezugspunkte in der Pariser Kommune ebenso wie in der Oktoberrevolution oder im Spanischen Bürgerkrieg hat. Wo der Sieg zum Maßstab aller Dinge wird, werden nicht nur die besten, sondern auch die schlimmsten Kräfte frei.
Wer die Macht, koste es, was es wolle, erringen und sie um jeden Preis verteidigen will, untergräbt sie im selben Moment. Die Perversion der Revolution, schrieb Rosa Luxemburg an die Adresse der Bolschewisten, ist schlimmer als ihre Niederlage. Das Argument des Erfolgs, auf das die orthodoxen Kommunisten jahrzehntelang gegenüber den "romantischen Verlierern" aus den libertären Gruppen gepocht haben, erweist gerade dieser Tage seine Unzulänglichkeit. Daß sich hier auch eine Männerwelt austobt, daß es immer auch darum geht, obsolet gewordene Machtbastionen und Einflußsphären gegeneinander wie die Ansprüche von unten abzuschirmen, und daß in einer solchen Welt eine schwule Identität per se auf Argwohn stößt, können und wollen wir nicht länger ignorieren. Weil wir dies gelernt haben und weil wir uns lieber in der Tradition der spanischen AnarchistInnen als in der der Komintern sehen, verwehren wir uns gegen alle beschönigenden Reden, die sich auf die Gesetze des Krieges berufen. Bestimmte Regeln sind möglicherweise andernorts erklärlich, aber sie verschaffen sich Geltung, weil dem eine bewußte politische Entscheidung vorausgeht. Wir können sie uns nicht nur nicht zueigen machen, weil wir unter anderen Bedingungen kämpfen, sondern weil sie in diametralem Gegensatz zu unseren eigenen Bestrebungen und Utopien stehen. Der Tod von Gerd macht ein weiteres Mal deutlich, daß zwischen diesem und unserem Denken Welten liegen, zwischen denen keinerlei Vermittlung möglich ist.
Daß wir die Gewalt in den eigenen Reihen bislang tabuisiert haben und uns erst jetzt darüber entsetzen, wo sie uns selbst ereilt, ist eine Kritik, die wir uns gefallen lassen müssen. Wir haben keine Entschuldigung dafür. Erst der Tod von Gerd hat uns für das Ausmaß der Tragödie empfindsam gemacht, die es bedeutet, daß auch innerhalb revolutionärer Organisationen politische Fragen mit militärischen Mitteln beantwortet werden. Er war Anlaß, uns all der tausenden, bekannten und namenlosen GenossInnen zu erinnern, die ihr Leben gelassen oder gelitten haben, weil sie des Verrats beschuldigt wurden oder einfach nur zwischen die Mühlsteine eines innerorganisatorischen Machtstreits geraten waren.
Ein Einwand gegen revolutionäre Praxis überhaupt ist sein Tod jedoch nicht. Das Wissen um die Gewalt in den eigenen Reihen ist uns Grund zum Einhalt, zur Trauer, zur Verzweiflung, nicht aber eine willkommene Gelegenheit, um das Handtuch zu werfen und unseren Frieden mit den Verhältnissen zu schließen. Wer uns so versteht und meint, wir würden nun, wo es einen der unseren getroffen hat, in das Horn derer blasen, für die Terror schon immer ein normales Mittel des politischen Geschäfts war, befindet sich auf dem Irrweg. Die Selbstgefälligkeit und Heuchelei jener Bürger, die gerade jetzt genußvoll in den Wunden revolutionärer Bewegungen wühlen und sich darin überbieten, Spuren für ihren moralischen Verfall ausfindig zu machen, während sie geflissentlich übersehen, auf welchen Leichenbergen der von ihnen geschätzte westliche Wohlstand und das als Schlachtruf zu neuen Ehren gekommene System der Demokratie errichtet sind, stoßen uns lediglich ab.
Die Auseinandersetzung, die die Ermordung von Gerd ausgelöst hat, spielt sich diesseits der Barrikade ab. Sie wird sich mit dem Zusammenhang von Politik und Moral, dem Gegensatz von nationaler Souveränität und sozialer Befreiung und dem Unterschied zwischen revolutionärer Gewalt und Terror zu befassen haben. Zur Disposition steht jenes leninistische Erbe, das sich in unsere Köpfe eingegraben hat und unser politisches Denken stärker bestimmt, als uns oftmals bewußt ist. Der Rekurs auf die Geschichte kann die Schwierigkeiten, vor denen wir hier stehen, ebensowenig lösen wie der emphatische Bezug auf die weltweiten Kämpfe. Gerade weil revolutionäre Politik in einem Land wie der BRD so isoliert ist, muß sie sich immer wieder eines sozialen Ortes versichern, will sie mehr sein als der bloße Ausdruck der subjektiven Befindlichkeit ihrer Akteure oder der schwache Abglanz ideologischer Konstrukte. Wie schnell all die schönen Worte und die besten Absichten zu bloßer Makulatur werden, sobald wir uns nicht mehr auf eine konkrete Realität beziehen, sondern an Forderungen orientierten, die ihren Ursprung in anderen Bedingungen haben, davon zeugt nicht zuletzt dieses Kapitel unserer Geschichte.
1973 haben GenossInnen der RZ in einem Interview gesagt: "Es gibt aber auch einen Teil unserer Politik, den [...] viele Genossen nicht verstehen und nicht akzeptieren, und den die Massen auch nicht verstehen und der sie vorläufig nicht interessieren wird. Wir halten ihn dennoch für richtig. Dieser Teil des Kampfes bezieht sich auf den Internationalismus, wo es primär um die Solidarität mit den Genossen ausländischer Guerillabewegungen geht und die Solidarität mit den kämpfenden Völkern anderer Länder." Was dort als Versuch formuliert wurde, eine Antwort auf die weltweite Ungleichzeitigkeit revolutionärer Entwicklungen zu finden, war faktisch zugleich die Abkopplung vom hiesigen Sozialprozeß. Es war der Freibrief für eine Praxis, die sich um politische Vermittlung nicht einmal dem Anspruch nach zu bemühen braucht. Daß wir jahrelang zu Entebbe geschwiegen haben, lag nur in der Logik des Arguments. Zugleich war dieses Schweigen jedoch auch das beredte Eingeständnis, daß wir uns in eine Sackgasse manövriert hatten: Was wir auf internatinionaler Ebene machten, war nicht die antiimperialistische Dimension dessen, wofür wir in der BRD kämpften, sondern stand in krassem Gegensatz dazu. Wir mußten uns entscheiden. Wer unsere Praxis in den 80er Jahren verfolgt hat, weiß, wie diese Entscheidung ausgefallen ist.