Geschichte wird gemacht, es geht voran…
(Fehlfarben)
Wir sind ja nicht die einzigen, die sich gelegentlich noch mal umschauen und sich fragen: Gibt es sie noch, »die« Autonomen? Und wenn ja, was ist ihnen gemeinsam?
Sicherlich war es auch schon früher zu den Hochzeiten der Bewegung ein Mythos, von »den« Autonomen zu reden. Denn gerade Bewegungen sind weniger von der gemeinsamen Aneignung von Geschichte und/oder Theorie geprägt als vielmehr von Ereignissen. Lebensgefühl und Rotzigkeit sind wichtiger als zum Beispiel eine pingelige und trockene Parlamentarismus- oder Staatskritik.
Daran hat sich bis heute gar nicht so viel geändert. Vielleicht hat sich nur der Grad der Beliebigkeit, der zufälligen Übereinstimmung, der theoretischen Ungewißheit und der alltäglichen Ohnmacht noch vergrößert.
Kurzum, wer heute Autonome/r wird, hat weder den Wind der Geschichte hinter sich noch allzuviel zu gewinnen. Das mag zwar viele bewegungsgestylte SurferInnen abhalten, auf die nächste Welle zu warten, und einige wenige edle, hartnäckige Haltungen hervorbringen. Doch insgesamt ist das Gefühl nicht ganz abzuschütteln, zu einer aussterbenden Spezies zu gehören, die trotzig Artenschutz betreibt und den Gedanken an Vermehrung einfach nicht aufgeben will. Autonomie, was sonst…
Wenn wir im folgenden Text einige wesentliche Positionen der »Autonomia« umreißen, die sich in den Kämpfen der 70er Jahre in Italien herauskristallisiert haben, dann machen wir das aus zwei Gründen: Erstens ist die Annahme weder bösartig noch überheblich, davon auszugehen, daß die Kämpfe der ›Autonomia‹ und die daraus entwickelten theoretischen Grundlagen heute kaum noch präsent sind.
Zweitens bilden diese Überlegungen einen wesentlichen Teil des Hintergrundes, vor dem wir heute diskutieren und Position beziehen. Dabei geht es uns weniger darum, historische Authenzität zu reklamieren, als den eigenen Ausgangspunkt – auch für andere – sichtbar zu machen.
I. Ein kurzer Orientierungsflug in die autonome Geschichte
Vorneweg möchten wir der unausgesprochenen Annahme widersprechen, der Autonomie-Gedanke sei eine (west-)deutsche Erfindung. Die ersten Ansätze autonomer Theorie und Praxis sind Anfang der 70er Jahre in Italien entstanden.
Erst als diese sich dort zum Kristallisationspunkt militanter Auseinandersetzungen entwickelten, als der Autonomia-Gedanke in einer breiten Massenbewegung aufging und damit auch machtpolitisch eine Alternative zu den reformistisch- dominierten Klassenkämpfen wurde, sprang der Funke auch auf Westdeutschland über. Die Autonomia wurde zum Exportschlager militanter Theorie und Praxis. In der BRD fanden diese Erfahrungen vor allem in den von militanten Gruppen wie dem Revolutionären Kampf (RK) mitinitiierten betriebsinterventionistischen Kämpfen (z.B. die wilden Streiks bei Ford und Opel) und kurze Zeit später in den Häuserkämpfen 1971-73 ihren ersten eindrucksvollen Niederschlag.
Es ist ganz und gar nicht zufällig, daß der Autonomia-Gedanke gerade in Italien entstanden ist, wo – im Gegensatz zu Westdeutschland – kommunistische Gewerkschaften und Parteien nicht nur relativ stark waren, sondern zugleich seit Jahrzehnten Form und Inhalt oppositioneller Politik zu dominieren versuchten. An den klassischen, reformkommunistischen Positionen rieb und entzündete sich der Gedanke der italienischen Autonomia. Die Unzufriedenheit gegenüber der staatsloyalen Parteipolitik der KPI, die Kritik an den reformistisch ausgerichteten Betriebs- und Lohnkämpfen sozialistischer und kommunistischer Gewerkschaftszentralen suchte nach neuen theoretischen Ansätzen, nach anderen Organisationsvorstellungen und nach einer wirksamen militanten Praxis.
Es ging darum, die kommunistische Theorie und Praxis auf den Kopf zu stellen (einige wollten sie auch rettend auf die Füße stellen …), um nicht länger integraler Bestandteil des bürgerlichen Fortschritts und Anteilseigner der kapitalistischen Wachstumsphilosophie zu sein. Die Autonomia wollte nicht länger Teil der (sozialstaatlichen) Lösung sein, sondern deren unversöhnlicher Widerspruch. Es ging nicht um das heute Mögliche, sondern um das realistisch Unmögliche, nicht um das Sozialverträgliche, sondern um das eigentlich Unerträgliche, nicht um das Maßvolle, sondern um das unverschämt Maßlose.
Es ging um eine militante Theorie und Praxis, die den Kapitalismus nicht länger (er-)nährt, sondern aushungert. Oder mit den Worten des Autonomia-Theoretikers Tronti:«Wir, auch wir, haben immer zunächst die kapitalistische Entwicklung in Betracht gezogen und uns erst danach den Arbeiterkämpfen zugewandt. Das ist aber ein Irrtum. Man muß die ganze Problemstellung umkehren, deren Vorzeichen verändern und von vorne neu anfangen: Am Anfang steht der Kampf der Arbeiterklasse.« (M.Tronti, »Arbeiter und Kapital«)
Die Kritik richtete sich gegen zentrale Pfeiler marxistisch-leninistischer, orthodox-kommunistischer Theorie und Politik. Ganz zentral war die Aufkündigung einer Solidarpakt-Ideologie zwischen Gewerkschaften, Kapital und Staat, der zufolge betriebliche Kämpfe ausschließlich unter der Maxime des »gerechten« Lohnes standen. Weder stellen diese Kämpfe in Frage, was produziert, noch wie produziert wird. Ihnen geht es hauptsächlich darum, am Produktivitätswachstum »angemessen« beteiligt zu werden. Dieser Verteilungsgerechtigkeit unter Anerkennung kapitalistischer Rentabilitätslogik kündigte die Autonomia die Freundschaft auf. Kurzum: die militanten Kämpfe sollten nicht länger gerecht und ausgewogen, sondern ruinös und herzlos sein.
Damit wurde eine wesentliche Säule des sozialistisch/kommunistischen Selbstverständnisses erschüttert: der glorifizierte Arbeitsethos, der sich immer an der geleisteten und nicht an der verweigerten (Lohn-)Arbeit mißt. Der Autonomia ging es nicht um gerechte Entlohnung, sondern um die Zerstörung des Lohnarbeitssystems. Diese in Ansätzen entwickelte Anti-Ethik gegen die »heroischen « Arbeiterhände drückte sich in der schlichten und einsichtigen Losung aus: Nicht-Arbeit ist Nicht-Kapital.
Diese auf den Kopf gestellte Arbeitsethik führte fast zwangsläufig zu völlig neuen Kampfformen und Zielsetzungen. ArbeiterInnenkämpfe sollten nicht länger zum Ritual einer streitbaren Demokratie verkommen und zur Vitalisierung kapitalistischer Effizienz beitragen, sondern die Logik von Mehrarbeit, Produktivitätswachstum und Verteilungsgerechtigkeit durchbrechen. Betriebssabotage, Krankfeiern, Betriebsbesetzungen, direkte Angriffe auf Fabrikdirektoren und leitende Angestellte, wilde Streiks und unverschämte Forderungen waren die dafür angemessene Kampfformen. Nicht Schadensbegrenzung, sondern Schadensmaximierung war das Leitziel betrieblicher Kämpfe. Diese Kämpfe gerieten unweigerlich in Gegnerschaft zu den kommunistisch und sozialistisch ausgerichteten Lohnkämpfen – eine Gegnerschaft, die zum Teil in direkte Auseinandersetzungen zwischen Autonomia und reformistischer Unternehmenspolitik mündete. Auf dem Höhepunkt autonomer Fabrikkämpfe hatte die Bewegung nicht nur das Kapital, den Staatsapparat und die Polizei zum Feind, sondern gleichermaßen die staatsloyalen Apparate sozialistischer und kommunistischer Reformpolitik.
Parallel zur Zuspitzung betrieblicher Kämpfe breitete sich der Autonomia-Gedanke auch jenseits der Fabriktore aus. Damit geriet – weniger gewollt als zufällig und faktisch – das Primat der Fabrikkämpfe, das Dogma von der Avantegarde der Arbeiterklasse ins Wanken. Eine Entwicklung, die im wesentlichen weniger theoretischen Einsichten folgte als der enormen Ausbreitung von Kämpfen jenseits des geheiligten Produktionssektors – in den Stadtteilen, in den Schulen, an den Universitäten u.s.w.
Die Kritik an sozialistischer und kommunistischer Parlaments(mit-)arbeit, deren devote Einbindung in das gesellschaftliche Gesamtinteresse, ihre korrupte Teilhabe am staatlichen Machtmonopol, deren zwangsläufige Verselbständigung als Politikerkaste führte innerhalb der Autonomia zu einer überwiegend anti-parlamentarischen Haltung. Gerade die bisherigen Erfahrungen mit sozialistischen und kommunistischen Abgeordneten stellten anschaulich unter Beweis, daß Parlamentarismus, die Inszenierung einer pluralen, konsensualen Gewalt nicht durch konstruktive Teilnahme zu entblößen ist, sondern durch konsequente Teilnahmslosigkeit oder parlamentarische Obstruktionspolitik (Versandung des parlamentarischen Betriebs). Die Autonomia suchte nicht nach besseren Volksvertretern, sondern nach Möglichkeiten, den Glauben an die Delegation eigener Interessen zu zerstören. Das Prinzip der Selbstorganisation, die Rückgewinnung gesellschaftlicher Verantwortung sollte das Vertrauen in die eigene Kraft und nicht das Vertrauen in irgendwelche Parteiabgeordnete stärken.
Verworrener und widersprüchlicher blieb die ansatzweise formulierte Kritik am »demokratischen Zentralismus« von Partei- und Gewerkschaftsstrukturen. Hierarchische und autoritäre Organisationsstrukturen, Kaderdisziplin und Führerkult wurden zwar oft – vor allem am Gegner – kritisiert, doch dieser Kritik wurde recht unterschiedlich Rechnung getragen. Die Bewegungs-Autonomia versuchte dies durch die Schaffung basisdemokratische Rätestrukturen umzusetzen, während andere Fraktionen der Autonomia wie der operaistische Flügel an der Kaderpolitik festhielten.
Erst gegen Ende der Bewegung, vor allem verursacht durch den massiven Widerspruch sich zunehmend selbstorganisierender Frauen, brachen die Auseinandersetzungen um Befreiungsvorstellungen, Machismo und militaristischer Männergewalt in aller Schärfe aus. Es ist bezeichnend, daß an diesen Auseinandersetzungen die Autonomia nicht wuchs, sondern mit zerbrach.
II. Stand autonomer Bewegung
Seit ein paar Monaten laufen in fast allen Städten und autonomen Zusammenhängen Diskussionen über Fehler und Perspektiven autonomer Politik. Dieser Text kann sich verständlicherweise im wesentlichen nur auf Erfahrungen beziehen, die wir in Rhein-Main-Zusammenhängen gemacht haben. Dennoch glauben wir, daß wir im großen und ganzen im bundesrepublikanischen Trend liegen. Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen sind also weniger zufällig als typisch.
Daß gerade in den letzten Monaten eine gemeinsame Auseinandersetzung um Perspektiven entbrannt ist, hat für uns eine entscheidende Ursache: Viele scheinbar unumstößliche Klarheiten, Mythen, Front- und Kampflinien sind zerbrochen, beginnen sich aufzulösen und zu zersetzen. Plötzlich scheint nichts mehr klar zu sein, stattdessen gibt es viele Widersprüche und Ungereimtheiten. Da werden HausbesetzerInnen »krimineller Fluchtburgen« von Nichtverhandlern zu Verhandlern, werden Häuser gegen »fette« Abfindungen freiwillig geräumt (z.B. DM 300 000 »Umzugsbeihilfe« für die Siesmayerstr. 6 in Frankfurt), da beginnen Militante mit Staatsknete die Renovierung ihrer ehemals besetzten, nun legalisierten Häuser, da verschwinden die härtesten FighterInnen fast spurlos von der militanten Bühne, um im bürgerlichen Leben ihr Comeback – in aller Stille – zu feiern, da fliegen WGs auseinander, deren BewohnerInnen von den vielen Fetzereien entnervt nun in Zweizimmerwohnungen mit FreundIn (und Kind) Ruhe und Geborgenheit suchen, da gehen nicht wenige, desillusioniert und unter dem Druck, Kohle machen zu müssen, Arbeitsbedingungen ein, an denen sie schier ausflippen …
Einige von uns wollen diese Widersprüche immer noch nicht wahrhaben, andere schminken sich alle Ansprüche ab und kümmern sich nur noch um ihren eigenen Kram. Für uns sind diese aufbrechenden und nicht selten erschreckenden Widersprüche eine Chance, offen und selbstkritisch damit umzugehen. Denn diese Widersprüche sind nicht neu und ganz plötzlich da: Sie spielten nur scheinbar keine Rolle, als die Bewegung vor Kraft und Selbstüberschätzung strotzte. Es liegt an uns, diese Widersprüche nicht als Schwäche zu begreifen, sondern als Möglichkeit, Radikalität nicht daran zu messen, wer alles klar hat, sondern wie ehrlich und solidarisch wir mit unseren eigenen Widersprüchen umgehen. Für uns ist ein Punkt gekommen, wo wir so nicht weitermachen wollen. Wir hatten in den letzten Jahren oft genug das Vergnügen, bestimmte Fehler immer wiederholt zu haben, ohne aus ihnen zu lernen. Im Gegenteil: Wir machten unsere Fehler zu Markenzeichen autonomer Politik, vom großmäuligen, breitbeinigen Auftreten bishin zur gänzlichen Selbstüberschätzung autonomen Vorgehens.
Für die von uns, die die geplanten Projekte in diesem und im kommenden Jahr (Volkszählung, Internationaler Weltwirtschaftsgipfel etc.) wie die Fahnenstangen eines autonomen Slaloms umkurven, wird sich nicht viel ändern. Für uns dagegen zählt erst einmal weniger den Blick auf den Feind zu richten, als den Blick auf uns selbst zu lenken, der Versuch, genauer klarzukriegen, was sich unter uns tatsächlich verändert hat. Ist es uns tatsächlich gelungen, die kritisierten autonomen Strukturen zu verändern, das heißt, diese vor allem überhaupt erst zu entwickeln? Gelang es uns in den letzten Jahren, militante Politik nicht (nur) an den Mitteln, sondern auch an unseren Inhalten festzumachen? Gibt es Ansätze, die die gängige Praxis militanter Feuerwehrpolitik durch eine kontinuierliche Praxis sozialer Gegenmacht einmal überflüssig machen könnten? Können wir ernsthaft sagen, unsere politischen Strukturen sind besser geworden? Oder wiederholen wir im kleinen das, was wir im großen so radikal ablehnen? Haben sich tatsächlich die Strukturen unter uns Typen, von Fightern und Schissern, von »Bring-erstmal-was«- und »Was-willst-denn-du«-Haltungen wirklich verändert? Ist unser Verhältnis zu Frauen genauso wichtig wie Wackersdorf oder erst dann, wenn wir als Kämpfer aus der Schlacht zurückkehren? Haben wir nicht nur am Bauzaun, sondern auch an unseren Alltagsstrukturen gerüttelt? Ist es nicht so, daß die Trennung von Politik und Alltag in dem Maße größer geworden ist, wie unser Alltag mehr und mehr von Kohleproblemen, Lohnarbeit und Freizeit bestimmt wurde? Ist es nicht so, daß gerade das, was unseren Lebensvorstellungen und Utopien den Boden unter den Füßen wegzieht, immer mehr zur individuellen Kiste jeder/s einzelnen wird?
Das Schlimme an all diesen Fragen ist wahrscheinlich gar nicht das Ketzerische, sondern die Tatsache, daß all das uns schon längst nicht mehr provoziert. Wie oft sind diese Fragen so oder so ähnlich gestellt worden, wie oft haben wir Konsequenzen gefordert, ohne sie zu ziehen, wie oft sind unter uns Worte gefallen wie Schnee von gestern: Kontinuität, Strukturen aufbauen, kollektive Lebensformen, solidarischer Umgang, militanter Alltag …?
Genau an diesem Punkt sind bereits mehrere militante Bewegungen zerbrochen: die 68er Studentenbewegung, die autonomen Betriebskämpfe der 70er Jahre, die Häuserkämpfe ’72, die Häuserkämpfe 1980/81. Was spricht eigentlich dafür, daß es uns nicht genauso ergeht wie jenen radikalen Bewegungen vor uns?
Es gibt noch einen anderen Punkt, warum uns Konsequenzen unter den Nägeln brennen. Wir gehören zu den »Alten« der militanten Bewegung – manche bezeichnen uns bereits als Opas und Omas. Nirgendwo ist der Alterungsprozeß krasser als in unserer militanten Szene. Traue keinem über 30. In der Tat: Es ist etwas dran an dem Generationskonflikt der Militanten. Viele von uns können an zwei Händen aufzählen, wer übriggeblieben ist. Die meisten von uns haben resigniert, aufgegeben und sich zurückgezogen. Uns geht es dabei nicht um diejenigen, für die ihre Jugendsünden nur der Einstieg in alternative Karrieren waren. Uns schmerzen diejenigen von uns, die wir selbst nicht mehr überzeugen konnten, weil auch wir ihre Kritik teilten, ohne jedoch unsere Hoffnungen und Utopien aufgegeben zu haben. Wir alle hatten es uns zu einfach gemacht und Resignation, Perspektivlosigkeit zum individuellen Problem gemacht. Oft hatten und haben wir den Eindruck, diese Gefühle deshalb nicht an uns herankommen zu lassen, weil wir sie selbst in uns verspürten. Und so wiederholt sich etwas in der autonomen Szene, was in anderen radikalen Bewegungen gleichfalls zum »ehernen Gesetz« wurde: Die Jungen wiederholen mehr oder weniger die Fehler der Alten, während sich die Alten Zug um Zug zurückziehen, weil sie in der Wiederholung der eigenen Fehler keine Perspektive entdecken können. Eine Bewegung jedoch, die nicht alt wird, die nur aus Jugendsünden besteht, die gemachte Erfahrungen nicht mit neuen verknüpfen kann, die aus gemachten Fehlern nicht lernt, sondern diese geradezu ritualisiert, kann nicht wachsen – sie stirbt von innen.
Gerade weil wir die Arroganz und Selbstgefälligkeit vieler Altlinker und Ex-Militanter satt haben, verlangen wir von uns selbst eine radikale Kritik der eigenen Geschichte.
1. Unter uns Autonomen hat sich ein Begriff von Militanz entwickelt, der sich eher der Logik der Gewaltfrage unterordnet als unseren Utopien von sozialer Gegenmacht.
Gerade die Großdemos nach Tschernobyl haben uns wieder einmal recht schmerzhaft gezeigt, daß wir weder die Möglichkeiten haben, noch die gesellschaftlichen Bedingungen dergestalt sind, daß wir mit militärischer Stärke unsere politischen Ziele durchsetzen könnten. Unausgesprochen bestand die Hoffnung, durch Massenmilitanz das Atomprogramm über den Haufen zu rennen. Die weitverbreitete Angst, die um sich greifende Verunsicherung, die demoskopischen Mehrheiten für den Ausstieg aus der Atomenergie schienen uns Indikatoren genug zu sein für eine Verbreiterung und vor allem Radikalisierung sozialer Bewegungen. Doch so sehr das »Geschäft mit der Angst« ein Mittel der Herrschenden ist, so sehr haben auch wir insgeheim darauf gesetzt, die Angst der Bevölkerung und die politische Verunsicherung der Herrschenden für eine Art Überraschungscoup nutzen zu können.
Um so größer ist nun unsere Frustration und Ratlosigkeit angesichts der Tatsache, daß wir unserem Ziel »sofortiger Ausstieg aus dem Atomprogramm« kaum einen Schritt näher gekommen sind. Im Gegenteil: Während unsere Massenmilitanz an die Grenzen staatlicher Gewalt gestoßen ist, hat der Staat in einem Maße aufgerüstet, daß die Hindernisse, die wir nun zu überwinden haben, eher größer als kleiner geworden sind.
Wie sehr wir uns überschätzt haben, zeigt auch unsere Reaktion auf die Diskussion und die darauf folgende reibungslose Verabschiedung der neuen Sicherheitsgesetze. Wir verhielten uns, als ob es uns nichts anginge, einfach gar nicht. Wir haben uns zwar gelegentlich mehr zaghaft als überzeugend dagegen gewehrt, die Gewaltfrage zur Bestimmung unseres Widerstandes zu machen, doch letztendlich haben wir sie selbst gestellt und verloren.
2. In vielen Kämpfen der letzten Zeit haben wir die Mittel militanter Politik selbst zum Ziel gemacht.
Das liegt sicherlich einmal daran, daß uns die Mittel einfach näher liegen als unsere Ziele. Wann haben wir wirklich einmal unsere Ziele aus der sozialen und gesellschaftlichen Realität heraus entwickelt und daran überprüft? Wie oft war unser praktisches Handeln vom Vorgehen staatlicher Gewalt bestimmt anstatt von unseren eigenen Zielsetzungen? Wären uns die Ziele klarer, das heißt eben auch der Weg dorthin, dann könnten wir auch unsere Mittel aus diesen Zielsetzungen heraus bestimmen. Doch da es nichts Vageres gibt als unsere konkreten Ziele, bleiben gezwungenermaßen unsere Mittel oft wahllos, zufällig und austauschbar. Für diese Art von Politik auf Durchreise ist auch kennzeichnend, daß wir die »Brennpunkte« wechseln wie Hemden, spätestens dann, wenn uns der Boden zu heiß wird – dann also, wenn es wirklich darauf ankäme.
Hätten wir tatsächlich das gemeinsame Ziel vor Augen, immer mehr Menschen für einen radikalen Bruch mit diesem Staat zu gewinnen, dann müßten wir uns nicht immer wieder in den Mittelpunkt eines Widerstands drängen, der von den Augenblicken großer Schlachten lebt, sondern würden von den Möglichkeiten und Erfahrungen derer ausgehen, die ihn alltäglich umsetzen.
3. Unsere politische Militanz hinkt hinter der praktischen hinterher, anstatt ihr vorauszugehen.
Eine Passage aus der Karlsruher Stadtzeitung bringt es auf den Punkt: »Gerade in den Hochburgen der Autonomen (…) ist es in den letzten Jahren zu einer Arbeitsteilung zwischen Autonomen und Grünen gekommen. Wir machen Putz, und die Grünen vermitteln das ganze politisch. Solange die Militanten selbst nicht in der Lage sind, diese Arbeitsteilung (…) zu durchbrechen, hat Stoltenberg den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er sagt, daß die Militanten der bewaffnete Arm der Grünen sind.« (Karlsruher Stadtzeitung, Nr.39, 1986) Wir brauchen nur auf die Anti-AKW-Kämpfe nach Tschernobyl zurückblicken, um genau diese Arbeitsteilung bestätigt zu sehen. Während wir uns in den Auseinandersetzungen mit den Bullen aufrieben und verausgabten, zogen die Grünen in aller Seelenruhe an uns vorüber, um sich als einzige politische Alternative zu profilieren. Wie in der Friedensbewegung machten sie sich – fast unangefochten – zu Sprechern der Anti-AKW-Kämpfe. Und je mehr es den Grünen gelang, sich als einzige politische Opposition darzustellen, um so unvermittelter blieb unser praktisches Vorgehen, um so mehr reduzierte es sich auf ein militärisches Schauspiel. Denn dort, wo wir wirklich hätten gewinnen können, in der politischen Auseinandersetzung um gesellschaftliche Alternativen, waren wir nicht präsent. Im Gegenteil: In der Auseinandersetzung zwischen Autonomen und Staat haben sie uns nur gestört, die Unentschlossenen, die Aufgeschreckten, die Gewaltfreien, die Becquerel-Muttis, die Neuen. Während sich die »neue« Anti-AKW-Bewegung um so »Banales« und »Privates« wie gesundes Leben sorgte, machten wir unbekümmert knallharte Politik; so als ob uns Cäsium und Plutonium nichts angingen, so als ob unser Kampf am Bauzaun nicht auch etwas mit unserer Angst vor verstrahlter Nahrung zu tun hätte. Anstatt unseren Kampf gegen dieses System mit den Kämpfen um radikale Lebensvorstellungen zu verknüpfen, stellten wir sie gegeneinander. Das, was unsere Stärke hätte sein können, Politik und Alltag zu verbinden, machten wir zur Trennungslinie.
So war es für die Grünen ein einfaches, sich gerade für jene als Anwalt anzubieten, die erst einmal Fragen stellten und nach gesellschaftlichen Alternativen suchten. Die Grünen organisierten landauf, landab Veranstaltungen, versuchten gerade jene zu erreichen, die nicht auf Demos gehen, sondern eher in die Kirche. Sie sammelten geschickt die kritische Intelligenz um sich, gaben ihr Raum und Zeit, sich öffentlich einzumischen und entwickelten als einzige ein »Ausstiegsszenario«, das zumindest die Angst (und die Argumente) vor dem drohenden Steinzeitalter als Kastrationsangst industrieller Omnipotenz bloßstellte. Sie machten mit politischem Erfolg genau das, was unsere Stärke hätte sein müssen: den politischen und ökonomischen Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen. Es hätte an uns gelegen, in der offensiven Auseinandersetzung um Alternativen in diesem System gerade auch die Grenzen eines grünen, reformistischen Reparaturbetriebs aufzuzeigen.
4. Die Häufigkeit von Anschlägen und Sabotage ist für uns (noch) kein Zeichen einer neuen Qualität des radikalen Widerstands. Sie ist erst einmal vor allem eine Reaktion auf die staatliche Repression gegen öffentliche Formen von Massenmilitanz.
Wenn wir die letzten Ereignisse noch einmal in Erinnerung rufen, so müssen wir doch – bis auf ein paar Ausnahmen – feststellen, daß es sich bei den meisten Demonstrationen eher um Demonstrationen staatlicher Gewalt handelte als um einen machtvollen Ausdruck sozialer Gegenmacht (Brokdorf, Hamburger Kessel, Wackersdorf, Häuserräumungen, Duisburg, Hamburg und Bremen etc.). Unsere Massenmilitanz ist an die Grenzen der gegnerischen Gewalt gestoßen, einer Staatsgewalt, der wir auf gleicher Ebene nichts entgegenzusetzen haben. Wir sind heute an Grenzen gestoßen, an die auch viele soziale Bewegungen vor uns gekommen sind. Jedesmal standen diese militanten Kämpfe vor der vom Staat erzwungenen Alternative: entweder sich auf die vorgegebene militärische Auseinandersetzung einzulassen, oder aber langfristig die militanten Kämpfe sozial und politisch zu verankern, mit dem Eingeständnis, erkämpfte Freiräume (wie besetzte Häuser, Jugendzentren etc.) mit Gewalt nicht halten zu können. Doch vor diese Alternative gestellt, war der Druck des Augenblicks, des Reagierens bereits so groß, daß eine eigene Entscheidung nicht mehr möglich war. Die Kräfte waren aufgezehrt, die (erzeugte) Sympathie der kritischen Öffentlichkeit verbraucht, die Spitze des Skandals gebrochen, der reformierbare Teil des »Mißstands« in die politischen Apparate integriert, der antagonistische polizeilich und ideologisch eingekreist. Von der Dynamik dieser Auseinandersetzung überrollt, wurden wir eher zum Objekt staatlicher Lösungen, als daß wir uns als Subjekte militanter Perspektiven verhalten konnten.
Und wie damals, so befürchten wir auch heute eine Situation, in der wir von der Dynamik staatlicher Repression überrollt werden. Denn nun stehen wir vor der Alternative, uns entweder auf ihre militärische Auseinandersetzungen im weitesten Sinne einzulassen, oder aber unsere ganze Kraft auf die Entwicklung einer sozialen Gegenmacht zu konzentrieren, die endlich die Stärke besitzt, sich weder der Logik und Dynamik staatlicher Gewalt zu opfern, noch sich an dieser zu messen.
Wenn wir also an die Entwicklung und das Scheitern anderer radikaler Bewegungen erinnern, dann aus der Einschätzung heraus, daß die Sabotagewelle nicht Ausdruck unserer Stärke, sondern oft unser letztes Mittel ist, überhaupt noch unseren Widerstand wirksam zur Geltung zu bringen. Denn geradezu zwangsläufig werden unsere militanten Angriffe in dem Maße Symbole von Widerstand, wie sie Ersatz und nicht Mittel militanter Strategien werden. Und so sehr wir uns auch über mehr als 150 gefällte Strommasten freuen, so gefährlich halten wir es, Sabotage als militante Politik zu begreifen, mit der man/frau – nicht selten pädagogisch – in soziale Bewegungen hineinwirkt, anstatt zu allererst innerhalb sozialer Bewegungen militante Perspektiven zu entwickeln und zu verbreitern. Nicht an Stelle militanter Perspektiven Sabotage zu organisieren, kann unser Ziel sein, sondern aus klaren Perspektiven heraus Sabotage als ein Mittel von vielen zu entwickeln und politisch einzubinden.
Die Schwierigkeit, Sabotage nicht als Ersatz, sondern als ein Mittel militanter Perspektiven zu begreifen, hatten wir während der ganzen Startbahnbewegung. Wenig Probleme hatten wir meist, praktische Formen militanten Widerspruchs zu entwickeln. Unsere größten Schwierigkeiten bestanden damals wie heute darin, unser praktisches Vorgehen in eine konkrete und für alle nachvollziehbare Strategie einzubinden. Allzuoft hatten wir der reformistischen Strategie politisch nichts entgegenzusetzen.
Dieses Dilemma autonomer Politik wiederholte sich in der Friedensbewegung wie in den letzten Anti-AKW-Kämpfen. Anstatt uns an eine langfristige Entwicklung und Verankerung radikaler Perspektiven zu machen, versuchten wir unsere Vorstellungen auf der Straße anstatt zu allererst in den Köpfen der Menschen durchzusetzen. Kein Wunder also, daß wir trotz breiter Verunsicherung nach Tschernobyl weder nennenswert mehr geworden sind, noch daß es uns gelungen ist, die politische Dominanz grüner Realpolitik zu durchbrechen. Geradezu symbolhaft konnte der letzte BUKO-Kongreß in Nürnberg nur unter dem Schutz eines grünen Parteitages stattfinden, nachdem uns klar wurde, daß wir alleine nicht in der Lage sind, einen Kongreß politisch, geschweige denn praktisch durchzusetzen.
Vielleicht ist es gerade diese politische Schwäche, die uns allzu schnell dazu verleitet, den materiellen Schaden von Sabotage und militanten Aktionen überzubewerten. Keine Frage, 150 gefällte Strommasten tun der Atomindustrie weh. Doch solange diese im Verbund mit dem Staat in der Lage ist, politisch den Schaden umzuwälzen (durch zusätzliche Bereitstellung von Geldern, durch Umverteilung im Bundeshaushalt und Strompreiserhöhungen), bleibt der materielle Schaden gering. Der politische Schaden verkehrt sich dann sogar – schlimmstenfalls – in sein Gegenteil. Erst wenn es uns gelingt, den politischen Spielraum herrschender Politik, das heißt in diesem Fall, privatkapitalistische Verluste zu vergesellschaften, einzuengen, wäre Sabotage tatsächlich ein wirksames Mittel, ihre Projekte im wahrsten Sinne des Wortes unprofitabel zu machen.
Diese Erfahrungen mußten wir auch an der Startbahn machen. Wir haben uns zwar äußerste Mühe gegeben, nichts ganz zu lassen, doch letztendlich stand das Projekt nur ein einziges Mal auf der Kippe, als nämlich die SPD-Regierung befürchtete, ihre eigene politische Basis aufs Spiel zu setzen, bzw. diese zu verlieren. Interessanterweise zu einem Zeitpunkt, als die Parteienkoalition von CDU bis DKP innerhalb der Startbahnbewegung noch den größten Einfluß auf diese hatte. Wir Autonome begriffen damals mehr vereinzelt als gemeinsam und erst allmählich die Dimension, die der Kampf um ein paar Hundert Hektar Wald angenommen hatte. Es war die Angst vor der Unregierbarkeit einer ganzen Region, die Angst vor dem irreparablen Schaden, die das Projekt für Augenblicke ins Wanken brachte. Weder die Radikalisierung der Startbahnbewegung noch die weit verbreiteten Sabotageaktionen konnten diese Bedingungen wiederholen.
Vielleicht machen diese Beispiele deutlich, daß es letztendlich nicht darauf ankommt, wieviele Strommasten fallen. Politisch entscheidend wird sein, in wievielen Köpfen die Masten fallen. Erst wenn es uns gelingt, dafür die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen, wird nicht nur der materielle Schaden größer – sondern vor allem der politische. Denn eines ist den Herrschenden klar: Der materielle Verlust ist reparabel, der ideelle Verlust an politischer Glaubwürdigkeit dagegen, der Verlust der politischen Legitimität staatlichen Handelns ist schwerer ersetzbar.
5. Solange wir die Systemfrage nur stellen und nicht danach handeln, verbreiten wir mehr Ohnmacht als Gegenmacht, mehr Angst als Mut.
Auch nach Tschernobyl passierte genau das, was wir als Routine längst drauf haben. Wir forderten nicht nur den sofortigen Ausstieg aus dem Atomprogramm, sondern in aller Bescheidenheit »die Stillegung der herrschenden Klasse «. Da wir uns wieder einmal auf ganz Grundsätzliches beschränkten, verfingen wir uns erst gar nicht in den Details politischer Durchsetzbarkeit und Umsetzbarkeit. Wir hielten uns also gar nicht erst größer an der Technik- und Ökologiekritik auf, verschwendeten kaum einen Gedanken darauf, welche Bedingungen wir geschaffen haben, um die AKW-Frage nicht nur verbalradikal, sondern ganz praktisch zur Systemfrage zu machen. Gar völlig verpönt war der Gedanke, uns in den Kampf um Alternativen innerhalb des Systems einzumischen, mit dem Ziel, politische Spielräume zu schaffen, die uns einem Kampf darüber hinaus tatsächlich ein paar Schritte hätte näher bringen können. Wir ließen sie einfach alle rechts liegen. Die Mütter gegen Atom, die Ökologen, die Radikaldemokraten, die Gewaltfreien, die Reformisten, Technik- und Wissenschaftskritiker. Statt dessen läuteten wir – wie so oft – zur letzten Runde ein und stellten kurz und bündig die Systemfrage, um sie alsbald in aller Ausführlichkeit zu beantworten: Hau weg den Scheiß!
Vielleicht liegt es an der Unvorstellbarkeit von revolutionären Veränderungen hier, daß wir uns nicht die Mühe machen, den Weg, die Schritte dorthin, genau zu benennen. Wenn wir uns der Anstrengung stellen würden, nicht nur radikale Gedanken im Kopf zu haben, sondern sie auch auf die Füße zu stellen, dann müßten wir auch von vielen pflegeleichten, sozialromantischen Vorstellungen autonomer Politik Abschied nehmen. Denn autonome Politik wird letztendlich nicht an den guten Absichten gemessen, sondern an den realen Erfolgen und Verbesserungen, die sie erreicht. Und wenn ein elementarer Grundsatz autonomer Politik ist, bereits heute das vorwegzunehmen und zu leben, was morgen erst gesellschaftliche Realität wird, dann werden wir auch um Veränderungen innerhalb des Systems kämpfen müssen. Reformen sind kein Geschenke von oben, sondern waren und sind immer auch ein Resultat sozialer und ökonomischer Kämpfe. So sind die Mieterschutzrechte, die veränderte Baupolitik, das Sozialbindungspapier, die Hochschulreform, die Finanzierung und Legalisierung von alternativen Wohnprojekten und selbstverwalteten Betrieben, von »anerkannten« Frauenhäusern bis hin zur Frauenbeauftragten kein Geschenk des Staates, sondern allesamt Resultat verschiedener Kämpfe der 60er und 70er Jahre. Daß sich die Früchte jener Kämpfe mehr in der Machbarkeit und Modernität herrschender Politik gegen uns kehren, als daß wir sie als politischen Freiraum für weitergehendere Kämpfe nutzen konnten, liegt schlicht an uns selbst: an jenen, die ihre revolutionären Kämpfe zugunsten etablierter Sicherheiten eintauschten, und an uns, die wir nicht in der Lage sind, die Kämpfe in ihrer Radikalität weiterzuführen.
Entweder wir nutzen die erkämpften Verbesserungen dazu, den Geschmack auf den ganzen Kuchen zu schärfen, oder aber wir müssen uns mit den Brosamen abfinden, die vom Tisch herrschender Politik herunterfallen. Wir werden also Forderungen formulieren müssen, die das System (gerade) noch erfüllen kann, und wir werden für weitergehende Ziele Bedingungen schaffen müssen, die das System auf jeden Fall zu verhindern versucht.
Erst wenn es uns gelingt, zum Beispiel dezentrale und kommunale Energieversorgungsalternativen (wie Sonnenenergie, Wärmekraftkopplung) mit unserem Ziel der Zerschlagung von (Energie-) Monopolen zu verknüpfen oder z.B. die Forderung nach Volksbegehren und Planungsmitbestimmungsrechten mit eigenen Formen von Selbstbestimmung und Selbstorganisation zu verbinden, erst dann vertrösten wir uns und andere nicht immer auf morgen, sondern erkämpfen uns bereits heute das, was die Lust auf morgen erst richtig möglich macht.
6. Unsere soziale Verwurzelung entspricht dem Wurzelbett eines Plastikbaumes.
Für einige von uns waren die letzten Jahre keine schlechten Jahre. Überall wo es brannte, waren die Autonomen dabei, wo es Putz gab, mischten wir kräftig mit, ganz nach dem Motto: Wo wir sind, geht nichts mehr, aber wir können ja nicht überall sein. Der Spiegel widmete uns eine ganze Serie unter dem aufreißerischen und schmeichelhaften Titel »Schlacht um die Kernkraft«. Und unser Innenminister Zimmermann konstatierte wie bei einer Flutkatastrophe das Anschwellen der Zahl der Militanten von 500 auf 3 000 bis auf 10 000 zu aller Gewalt Entschlossenen. Mit verdüsterter Miene warnte er vor einer Welle der Gewalt, die die BRD zu überschwemmen droht. Und während die, die dieses Schreckensszenario verbreiten und ausmalen, es dazu nutzen, ihr »Modell Deutschland« noch sicherer zu machen, genießen einige von uns den Rummel, das grelle Scheinwerferlicht der Medien und die Aufmerksamkeit, die dabei abfällt. Bei manchen haben wir das Gefühl, daß sie selbst beginnen, sich in diesem vom Staat aufgebauten Szenario wohlzufühlen, daß sie anfangen, sich in das Bild zu verlieben, das der Staat und die Medien von uns zeichnen – gerade weil wir diese Gefährlichkeit, Macht und Bedrohlichkeit nur in ihren Horrorvisionen haben und weit davon entfernt sind, diese Gefahr real darzustellen.
Ein weiteres Kennzeichen autonomer Politik der letzten Jahre ist, daß wir uns mehr oder weniger wie ein/e SeiltänzerIn von Großprojekt zu Großprojekt hangeln, ohne wirklich mit den Füßen den Boden berührt zu haben. Fast ausschließlich orientieren sich unsere Kämpfe an der Aktualität eines Themas anstatt an seiner Bedeutung innerhalb einer militanten Perspektive. In viele Themen und Auseinandersetzungen steigen wir erst ein, wenn sie heiß sind, in der Öffentlichkeit diskutiert und von den Medien aufgegriffen werden. Erst dann gewinnen diese Auseinandersetzungen für uns an Wichtigkeit. Doch sobald das Thema out ist, die Medien ihre Teleobjektive einziehen, das Projekt steht oder der zähe Alltag spektakulären Aktionen weicht, sind wir meist wieder auf der Suche nach neuen, brennenden Themen, die gerade angesagt sind. Von Friedensbewegung, Anti-Nato-, Anti-Kriegs-, Antifa-, Anti-AKW-, WAA-, WWG- und Volkszählungsboykott-Gruppen haben viele von uns alles oder vieles davon mitgemacht. Meist hielten sich diese Gruppen ein paar Monate, höchstens ein bis zwei Jahre, zerfielen dann, um sich in wechselnder Zusammensetzung bei einem neuen Thema wiederzusehen. Man/frau wird nicht alt, die Auseinandersetzung miteinander und um das Thema bleibt oft flüchtig und oberflächlich. Und je mehr wir diesen Jahrmarkt aktueller Themen betreiben, desto mehr müssen die Hoffnungen auf soziale Ausweitung den Fähigkeiten eines Allround-Künstlers untergeordnet werden: Wir wissen von allem etwas und von Genauerem nichts. Wir sind überall dabei und nirgendwo richtig. Dabei haben sich Strukturen eines Kleinfamilienunternehmens entwickelt. Fast jede/r kennt jede/n, wir sind alle voll im Streß, haben vor lauter Terminen kaum Zeit, haben meist mehr politisch zu tun, als wir bewältigen können. Der harte Kern des Unternehmens rackert sich ab, tanzt oder besser rotiert auf verschiedenen Hochzeiten, während sich der Großteil der Familie erst blicken läßt, wenn die Firma alles gut vorbereitet hat. Bei jedem Fest dabei …
Wenn wir also hinter die spektakulären Großereignisse blicken, dann stellen wir fest, daß wir uns zwar in den Schlagzeilen herrschender Politik breitmachen konnten, aber noch lange nicht in den Köpfen und Handlungen anderer Menschen. Wir brauchen nur die soziale Verankerung militanter Politik heute mit der militanten Geschichte 1972 vergleichen, um uns im klaren darüber zu sein, wie schmal der Steg ist, auf dem sich heute autonome Politik bewegt. Denn im Gegensatz zu heute drohte damals tatsächlich ein Flächenbrand militanter Unruhe, der sich fast in alle gesellschaftlichen Bereiche ausbreitete. Da waren die Jungarbeiter- und die Lehrlingsbewegung, die Betriebskämpfe, die an allen Orten der BRD entstandenen Jugendzentrumsbewegung, die Emigrantenarbeit, die Schülerstreiks, die Studentenunruhen an den Hochschulen, die Internationalismusgruppen, die Stadtteilgruppen, Häuser- und Mieterräte. Sie verkörperten in der Tat ein Stück Gegenmacht. Momente einer erlebbaren Utopie, die sich atmosphärisch für Monate im Leben der Stadt niederschlug und gelegentlich sogar als neues Lebensgefühl bestimmend war. Es lag an der Vielschichtigkeit, Verschiedenheit, an der Vermischung und Verbindung einzelner Kämpfe, die es Staat, Medien und Polizei über lange Zeit hinweg schwer machte, den Brandherd schnell zu lokalisieren.
Denn überall dort, wo er mit aller Gewalt zu löschen versuchte, trat genau das Gegenteil ein: statt Demobilisierung Mobilisierung, statt Einschüchterung Mut, statt Eindämmung Ausweitung des Konflikts. Solange das praktische Vorgehen auf der Straße Ausdruck und nicht Ersatz alltäglicher Kämpfe in Schule, Fabrik und Wohnvierteln blieb, war der Staat gezwungen, den Konflikt politisch anzuerkennen. Die Waffen staatlicher Gewalt blieben solange stumpf, wie es den verschiedenen Kämpfen gelang, auf das gewaltsame Vorgehen des Staates mit der sozialen Ausdehnung des Konflikts zu antworten.
Wenn also viele von uns die Kämpfe 1972 vor allem mit den spektakulären Hausbesetzungen, räumungen und Straßenschlachten in Verbindung bringen, dann vergessen wir die jahrelangen, alltäglichen, unspektakulären Kämpfe, aus denen heraus sich erst der Häuserkampf entwickeln konnte., Konsum- und Menschenverkehr eigene, radikale Vorstellungen von (Zusammen-) Leben entgegensetzen können.
Doch wir brauchen nicht so weit zurückblicken, um zu erkennen, wie schwach der Windstoß sein muß, um uns umzublasen. So bedurfte es während der Häuserkämpfe 1980/81 in Frankfurt nur des Konstruktes eines »Schwarzen Blocks«, einer sogenannten kriminellen Vereinigung (es kam zur Verhaftung von vier »Mitgliedern«, die nach ein paar Monaten freigelassen wurden), um die dünnen Fäden politischer und sozialer Gemeinsamkeiten zu zerreißen. Mit der staatlichen Repression mehr oder weniger auf uns alleine gestellt, zerrieben wir uns noch untereinander und zerstreuten uns schließlich in alle Windrichtungen.
Wenn wir uns also ohne Selbstbetrug eingestehen, daß unsere autonomen Positionen nach wie vor kaum politisch und sozial eingebunden und verankert sind, wenn wir uns eingestehen, alleine weder politisch noch praktisch reale Gegenmacht zu sein, dann müssen wir schleunigst den Laufstall autonomer Politik verlassen. Die bereits beschriebene Ignoranz und Selbstüberschätzung gegenüber anderen Gruppierungen innerhalb der Anti-AKW-Bewegung lassen sich ohne weiteres auch auf den allgemeinen Zustand in den Städten übertragen. Vielleicht ist Frankfurt ein krasses Beispiel für die Isoliertheit einzelner Gruppen und Initiativen und für einen autonomen Alltag, der sich oft nur über irgendwelche Großereignisse herstellt, ansonsten jedoch dem »Zufall« persönlicher Verbindungen überlassen bleibt.
Autonome Politik hat sich hier in Frankfurt seit Jahren nicht mehr kontinuierlich in die öffentliche Auseinandersetzung eingemischt. Sie hat sich in überwiegendem Maße auch außerhalb unseres alltäglichen Lebens in dieser Stadt abgespielt.
Darüber können auch die Günther-Sare-Demos nicht hinwegtäuschen. Erst im letzten Jahr entstanden wichtige kleine Ansätze, aus unserem Alltag heraus soziale, politische und kulturelle Zusammenhänge zu entwickeln, seien es Stadtteilgruppen oder auch das neu gegründete Libertäre Zentrum. Sicherlich, es fällt auch uns oft unendlich schwer, Gedanken und Vorstellungen zu entwickeln, was wir hier in der Stadt – überhaupt noch – wollen, wo inmitten der erdrückenden Betonburgen noch Platz und Raum für unsere Utopien sein könnte. Wie wir die Vorzüge einer Metropole (alternative Kneipen, Cafés, Kino etc.) nicht nur privat verkonsumieren, sondern auch dem programmierten (in Beton gegossenen) Geld
Es hat für uns viel mit der fehlenden Faszination und Ausstrahlung autonomer Politik zu tun, daß wir große Bereiche unseres Alltags abgehakt und aufgegeben haben, was sich in den Formen autonomer Politik eher widerspiegelt als bricht. Es sind eben nicht die 10 Prozent autonome Politik, sondern die 90 Prozent Alltag, die unsere Utopien wie ein Schwamm aufsaugen.
Einen letzten Punkt in diesem Zusammenhang wollen wir hinzufügen: unser Verhältnis zu den Grünen. Unsere weitverbreitete Ablehnung gegenüber jeglicher grüner Politik hat oft weniger etwas mit radikalem Antiparlamentarismus zu tun, als vielmehr mit der Angst und Unfähigkeit, uns mit grüner Politik genau und differenziert auseinanderzusetzen. In dem Maße, wie wir uns selbst schwer damit tun, ein gemeinsames Selbstverständnis zu formulieren (und offensiv zu vertreten), haben wir schlichtweg Schiß, von grünen Politprofis über den Tisch gezogen zu werden, sobald wir uns auf sie einlassen.
Denn trotz unseres klaren Antiparlamentarismus muß uns klar sein, daß auch (und gerade) für uns kein Weg an grüner Politik vorbeigeht. Gerade wenn es uns darum geht, die bereits beschriebene Arbeitsteilung von militantem Vorgehen und grüner Vermittlung zu durchbrechen, müssen wir uns politisch offensiver mit jenen Positionen auseinandersetzen. Die »Fundamentalisten« innerhalb der Grünen sind nicht nur ein Alibi grüner Realpolitik. Sie verkörpern auch einen Versuch, radikale Vorstellungen jenseits konjunktureller Bewegungen als Widerspruch innerhalb und außerhalb parlamentarischer Institutionen zu formulieren. Und etwas ganz Entscheidendes können wir von den »Fundis« lernen: ihre Anstrengungen und Bemühungen, Vorstellungen von radikalen Utopien in konkrete und greifbare Konzepte zu übersetzen.
Solange diese ihre parlamentarische Präsenz als Hemmnis herrschender Politik und nicht als Gleitmittel begreifen, halten wir es für wichtig, nach Möglichkeiten von Zusammenarbeit zu suchen.
7. Unsere Verhaltens- und Lebensweisen haben sich in den letzten Jahren in einer Art autonomer Doppelmoral eingerichtet: Was wir politisch kompromißlos angreifen, leben wir untereinander manchmal geradezu selbstgefällig aus.
Obwohl dieser Teil am Ende steht, müßte er am Anfang jeder radikalen Politik stehen. Doch auch uns fällt es schwer, den Wust aus Alltag, Verdrängung, Gewöhnung und Sicherheiten durchdringbar zu machen. Je näher wir zu uns selbst kommen, desto mehr verschlägt es uns die Sprache. Einmal, weil wir es nicht mehr hören können, zum anderen, weil wir selbst in einem Maße darin verstrickt sind, daß unser Handeln oft mehr von Sicherheiten und Gewohnheiten bestimmt ist als von der Lust und Kraft, ein neues Risiko einzugehen. Diese stumme Anpassung drückt sich auch darin aus, daß die kollektiven Auseinandersetzungen im Alltag mehr und mehr ins Private verdrängt werden.
Für die meisten von uns sind Job, Kohle, Wohnung und Beziehung Probleme, mit denen sie alleine fertig werden müssen. Man/frau arbeitet völlig vereinzelt, große WGs sind nervig und ätzend geworden, man/frau zieht die Zweizimmerwohnung wieder vor, und manche genießen gar die Vorzüge des Single-Daseins, ziehen und wohnen alleine, um endlich tun und lassen zu können, was ihm/ihr paßt. Und je mehr uns die Arbeit aufsaugt, je abstrakter unsere Politik wird, um so existentieller wird die kuschelig-weiche Beziehung, in die wir uns – unbeobachtet – fallen lassen können, in der wir endlich einmal so sein können wie wir sind – oft fertig, gestreßt und ausgebrannt. Eine Beziehung also, in der wir all das versuchen zu bekommen, was wir weder auf der Arbeit noch in der militanten Politik kriegen: Geborgenheit, Wärme, Vertrauen, Nähe und Intensität. Je mehr also Zweierbeziehungen all das erfüllen sollen, was das Leben uns draußen versagt, desto mehr werden diese Bedürfnisse zum individuellen Glücksspiel (nicht selten Drama) in Zweierbeziehungen, anstatt daß sie noch länger Bestandteil radikaler Lebens- und Gesellschaftsvorstellungen wären. Solange Geborgenheit, Vertrauen und Nähe ein Privileg von (Zweier-)Beziehungen bleibt, taugt radikale Politik nichts. Sie bleibt Abbild bürgerlicher Macho-Politik, anstatt sich gerade davon radikal zu unterscheiden.
Und wenn wir unsere autonome Politik betrachten, dann ist sie doch im klassischen Sinne Männerpolitik. Nicht nur, weil Männer und Mannsbilder dominant sind, sondern gerade deshalb, weil die wenigen Frauen nur dann etwas zu sagen haben, wenn sie sich diesen Strukturen anpassen, das heißt eben oft, wenn sie 150-prozentige männliche Leistung bringen. Der weibliche Anteil autonomer Politik besteht viel zu oft darin, Wunden männlicher Fighter zu lecken, Anerkennung und Bewunderung zu zollen, und gerade jene Bedürfnisse zu befriedigen, die innerhalb dieser Strukturen nicht gefragt sind. Es bleibt den autonomen Frauen überlassen, unter der harten Schale unseren weichen Kern zu entdecken. In unseren Rhein-Main-Zusammenhängen haben wir einen Punkt erreicht, wo einige Frauen aufgegeben haben, sich gegen diese männlichen Strukturen noch behaupten zu wollen. Denn es gibt eine typische autonome Form von »repressiver Toleranz«: Wir leugnen nicht bestimmte Macho-Strukturen unter uns Männern und gegenüber Frauen, nur wir überlassen es den Frauen, sich damit auseinanderzusetzen. Keine autonome Demo ohne frauenspezifischen Beitrag, keine Libertären Tage ohne eine »Frauen-Ecke«. Was die Frauenbeauftragte für grüne Realpolitiker ist, ist der autonome Frauenbeitrag für militante Politik.
Viele von uns haben keine Angst, Bullen anzugreifen, sind aber zu feige, unter Männern Kritik zu üben. Das fängt mit dummen, aufgeblähten Machosprüchen an, die mit einem kumpelhaften Lächeln verbraten werden, bis hin zu alltäglichen Verhaltensweisen, die stillschweigend hingenommen werden, weil wir Angst vor einer echten Auseinandersetzung haben, die viele scheinbare Männerfreundschaften in Frage stellen würde. Solange wir selbst nicht das Bedürfnis danach verspüren, unsere Lebens- und Verhaltensweisen radikal zu verändern, bewirkt die Kritik der Frauen bestenfalls eine opportunistische Anpassung (zum Softi) anstatt eine wirkliche Veränderung.
Diese Radikalität in unserem Leben verlangen wir nicht (nur), weil wir mit der Kritik der Frauen umgehen wollen. Wir machen uns selbst kaputt, wenn wir in der Leistungsmentalität weitermachen. Gerade weil wir bereits seit 15 Jahren in diesen Zusammenhängen stecken, können wir mit Sicherheit sagen, daß gerade »Härtner« und Hardcore-Männer (und manche Frauen) die ersten sind, die dem inneren und äußeren Druck nicht mehr standhalten und zerbrechen. Viele von ihnen machten jahrelange knallhart Politik, ohne zu merken, daß sie keine wirklichen Freunde haben, daß sie inmitten ihrer Kämpfe eigentlich alleine blieben. Bezeichnenderweise finden sich viele ehemalige Hardcore-Fighter heute in den kleinbürgerlichsten Verhältnissen wieder.
Ein weiter(er) Bereich unseres Alltags scheint sich außerhalb autonomer Politik zu bewegen: Die (Lohn-)Arbeit. Abgesehen von den Jobber-Inis scheint die (Lohn-)Arbeit mehr und mehr die Kiste jeder/s einzelnen zu sein. Ob Lehre, Jobs, »garantierte« Arbeit oder alternative Betriebe, jede/r muß alleine schauen, wo er/sie bleibt. Diese extreme Individualisierung existentieller Bedingungen hat für uns zwei Ursachen.
Erstens: Eine militante, autonome Perspektive innerhalb von Lohnverhältnissen existiert seit Jahren nicht mehr. Militante Kämpfe finden zwar außerhalb statt, aber bezeichnenderweise nicht dort, wo sich die Gewalt und Herrschaft dieses Systems ganz zentral ausdrückt: im Produktionssektor. Dem Kapital ist es gelungen, militante Kämpfe aus den empfindlichen (Sicherheits-)Zonen seiner Herrschaft zu verdrängen, gerade dort also, wo zunehmende Technologisierung und Computerisierung den ökonomischen Sektor immer anfälliger und verletzbarer für militante Kämpfe (inkl. Sabotage) macht.
Zweitens: Es existiert keine militante Perspektive, jenseits von Lohnverhältnissen eigene Arbeits- und Lebensvorstellungen zu entwickeln. Die Faszination alternativer, selbstbestimmter Betriebe ist an der kapitalistischen Realität – der sich auch alternative Betriebe stellen müssen – erblindet.
Die politische und soziale Bedeutung von selbstbestimmten Lebensbereichen ist geschwunden, oftmals bleibt nur das ökonomische Kalkül: die Kohle. Auf der einen Seite der Rechnung steht die Verantwortung für alle und alles, zähe, zeitaufwendige und nervige Diskussionen, auf der anderen Seite ein mickriger Lohn, der an Selbstausbeutung grenzt. Der politische Anspruch bleibt vielfach nur noch Dekor für knallharte Professionalisierung: Manche der »alternativen« Cafés und Kneipen haben heute mehr Angestellte und Aushilfen als Kollektivmitglieder. Ganz nach dem Prinzip: Hire and Fire (ohne Sozialversicherung, Arbeitsvertrag, Anspruch auf Krankheit und Urlaub).
Und nicht wenige von uns treibt die Angst vor diesem Jobberdasein zu neuen Stufen der Qualifizierung. Man/frau beginnt (noch einmal) eine Lehre, eine neue Ausbildung, oder der Abschluß an der Uni wird wieder mit aller Verbissenheit gesucht. Mögen einige von uns auch »das letzte Drittel« als revolutionäres Potential – neu – entdeckt haben, so versuchen viele von uns gerade nicht dazuzugehören, d.h. durch (Nach-)Qualifikation die Chancen auf einen Platz »im zweiten Drittel« zu bewahren. Die Kluft zwischen der politischen Theorie »vom letzten Drittel« und unseren eigenen Bemühungen um Qualifikation und gesicherten Arbeitsbedingungen, der Graben zwischen der politischen Theorie von den Subsistenzkämpfen und unseren Schwierigkeiten, eigene Arbeits- und Lebensformen jenseits von Wertarbeit umzusetzen, wären für uns zwei zentrale Schnittpunkte, entlang derer wir unser Verhältnis zur Arbeit bestimmen müßten. Denn solange wir keine militante Perspektive innerhalb und außerhalb von Lohnarbeitsverhältnissen entwickeln, wird sich (auch) unter uns nur eines durchsetzen: die gnadenlose Individualisierung und Konkurrenz.
Eine militante revolutionäre Perspektive wird nicht umhin können, sich eigene ökonomische Strukturen zu schaffen. Nur die politische und soziale Bestimmung und letztendlich Verankerung selbstverwalteter Projekte im Rahmen einer revolutionären Perspektive kann den Freiraum innerhalb kapitalistischer Rationalität groß genug halten, um unsere Ansätze von Gegenmacht darin zu verankern. Wir brauchen nicht nur Drucker-, Schreiner-, Metaller-, Schrauber-, ElektronikerInnen etc. unter uns, sondern vor allem Bedingungen, unter denen sie als Militante arbeiten können. (Das fängt bei illegalen Druckerzeugnissen an bis hin zu Orten, wo wir gemeinsam ungestört reden können.)
Wenn wir nicht – wie so oft – von der Zufälligkeit persönlicher Beziehungen und Hilfen abhängig sein wollen, dann müssen wir die fehlenden Strukturen nicht nur immer wieder beklagen, sondern selbst schaffen. Zu einer langfristigen Perspektive gehört für uns eine gemeinsame Anstrengung um den Aufbau und die Vernetzung militanter Projekte. Diese können und sollen nicht alleine privatkapitalistisch vor sich hin wurschteln, sie müssen kollektiver Bestandteil unserer
Strukturen werden. Das heißt, der Preis für die Projekte darf sich nicht nur an ihrer Wirtschaftlichkeit, sondern auch an der Notwendigkeit im Rahmen einer revolutionären Perspektive orientieren.
8. Unsere Strukturen entsprechen dem eines Hobbyclubs, anstatt daß sie eine revolutionäre Perspektive haben.
Wenn wir die militanten Strukturen heute mit denen vor sechs Jahren vergleichen (oder gar mit jenen während der Kämpfe von 1971/72), dann wird die ganze Schwäche und asthmatische Kurzlebigkeit autonomer Politik deutlich. Ohne die Strukturen von 1980/81 zu verherrlichen, so gab es doch zumindest ein autonomes Plenum, eine eigene Zeitung (»Vollautonom«), ein illegales Radio (»Radio Isnogood«) und mehrere Gruppen, die in der Lage waren, gemeinsame Aktionen zu tragen. Heute existiert kaum noch etwas davon. Die wenigen Zusammenhänge sind vereinzelt und stellen sich zudem meist über persönliche Beziehungen her. Die Startbahnstrukturen sind derzeit die einzigen Zusammenhänge, die aufgrund ihrer Kontinuität und Erfahrung handlungsfähig geblieben sind. Ansonsten sind die meisten Treffen und (Vorbereitungs-)Gruppen an kurzfristige Ereignisse und aktuelle Anlässe geknüpft. Da man/frau kaum auf etwas zurückgreifen kann, muß vieles aus dem Stegreif und unter dem Druck aktueller Ereignisse organisiert werden. Die immer selben Gesichter teilen zähneknirschend die viele Arbeit unter den wenigen auf. Die inhaltliche Auseinandersetzung, die über den Anlaß hinaus hätte geführt werden müssen, fällt unter den Tisch, da die praktischen Vorbereitungen fast den ganzen Raum einnehmen. Für Erfolg oder Nichterfolg spielen dann mehr Zufall, Glück oder völlig unerwartete Umstände eine Rolle als unser eigenes Konzept. Manch ein »Erfolg« kam für uns überraschender und unerklärlicher als für die Bullen.
Diese fehlende soziale und materielle Infrastruktur drückt sich zwingendermaßen in oft schlecht vorbereiteten und durchgeführten Aktionen aus. Der Effekt einer dreifachen Demobilisierung stellt sich ein.
Erstens: Diejenigen, die unter dem Druck der Ereignisse keine Chance mehr sehen, dem etwas entgegenzusetzen, ziehen sich zurück.
Zweitens: Diejenigen, die nicht direkt beteiligt sind, haben keine Lust (mehr), sich als Kulisse hirnrissiger Aktionen verheizen zu lassen, weil das militante Vorgehen für sie oftmals keinen kollektiven Schutz mehr bietet, sondern ein verstärktes Risiko darstellt, und sie die negativen Konsequenzen militanten Vorgehens individuell auszubaden haben.
Drittens: Jene, die unbedingt ihre Aktion durchziehen müssen, geben damit genau dem Bild Nahrung, das Staat und Presse so gerne über uns verbreiten: das Bild von den unverantwortlichen, ziellosen, menschengefährdenden und unschuldige Opfer in Kauf nehmenden autonomen Gewaltverbrechern. Eine rein aktionistische Politik verleitet viele dazu, die Schlachten an den Bauzäunen der Großprojekte wie Perlen zu einer Kette autonomer Erfolge aufzureihen. Und je weniger militante Kämpfe in unserem Alltag stattfinden und Fuß fassen, desto mehr romantisieren wir gerade diese Ereignisse, die aus unserem ätzenden Alltag herausstechen. Diese Mystifizierung des Feuerscheins ist im großen Maße ein Ausdruck fehlender Strukturen und Perspektiven innerhalb unseres Alltags.
Aus diesen Fehlern zu lernen, hieße für uns, nicht nur – wie bereits vorgeschlagen – Strukturen nach außen aufzubauen, sondern auch Strukturen unter uns zu entwickeln, die sich nicht an sporadischen Anlässen und Kampagnen orientieren, sondern an unserem langfristigen Ziel radikaler gesellschaftlicher Veränderung. So mußten die Günter-Sare-Demos geradezu zwangsläufig im Sande verlaufen, nachdem klar wurde, daß wir nicht in der Lage sind, inhaltlich und praktisch über den eigentlichen Anlaß hinauszukommen. So blieb die Parole: »Wut und Trauer in Widerstand verwandeln!«, auf unseren Transparenten haften, anstatt sich in unserem Handeln umzusetzen. Über den Anlaß hinauszugehen hätte bedeutet, sich langfristig mit den Methoden und Zielen des staatlichen Gewaltapparats auseinanderzusetzen, also gerade dort einzugreifen, wo staatliche Gewalt Alltag ist, in den Polizeirevieren, auf den Kommissariaten, bei der Ausländerpolizei, den Fahndungsapparaten, im Justiz- und Knastapparat.
Es müßte unser Ziel sein, diesem Gewaltapparat eigene, kontinuierliche Strukturen entgegenzusetzen. Ihn politisch dort anzugreifen, wo er am empfindlichsten ist: in seinem Bedürfnis nach Anonymität. Ihn praktisch dort zu verunsichern und zu stören, wo er sich am sichersten wähnt: in der Technologisierung von Überwachung und Prävention. Das fängt also bei Initiativen wie »Bürger beobachten die Polizei«, Justiz- und Knastgruppen an und geht bis zur kontinuierlichen Gegenobservation (Abhören, Veröffentlichung von Personen und Methoden ziviler Fahndung und Observation) oder der Nutzung und Verbreitung der »Jugend forscht«-Ergebnisse (Störsender, Funk etc.). Wenn wir die »Systemfrage « nicht nur verbal stellen, sondern auch ernst meinen, dann genügt es eben nicht, erst dann zu handeln, wenn ein Toter auf der Straße liegt. Dann ist es – wieder einmal – zu spät. Dieses Beispiel läßt sich sicherlich auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen.
Der Aufbau und die Vernetzung militanter Kerne ist für uns Voraussetzung dafür, den Kreislauf sich wiederholender Bewegungsrhythmen zu durchbrechen, Bindeglied zwischen Bewegung und Alltag zu sein. Eine Organisation, die über beides hinausgeht und doch aus beidem bestehen muß.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum wir uns für verbindliche Strukturen stark machen. Wir lehnen aus gutem Grund hierarchische und autoritäre Strukturen ab. Denn sie verkörpern genau das, was wir politisch bekämpfen. Doch was wir im Kopf vielleicht klar haben, kommt gerade in vielen aktionsbezogenen Zusammenhängen zum Tragen. Je undurchsichtiger und unverbindlicher die Struktur, desto ungreifbarer und unfaßbarer bleibt sie für jene, die sich darin verlieren bzw. nicht behaupten können. Denn es gibt eine autonome Variante des kooperativen Führungsstils: Ohne jemanden sichtbar aus Entscheidungen auszuschließen, werden allzuoft Entscheidungen von wenigen getroffen, von jenen, auf die es – unausgesprochen – ankommt.
Für uns ist eine klare, sichtbare und offene Struktur kein Hindernis, sondern Voraussetzung für militanten Widerstand. Wenn wir militanten Widerstand nicht an Kleingruppen delegieren wollen, dann müssen wir Strukturen schaffen, in denen es möglich ist, offen darüber zu streiten und zu diskutieren. Dann müssen wir Orte und Bedingungen schaffen, wo gerade jene uns treffen können, die eben nicht durch persönliche Beziehungen oder Zufall in unsere Zusammenhänge geraten sind. »Militanter Widerstand ist möglich« bedeutet gerade auch, diesem – soweit möglich – das Geheimnisvolle zu nehmen, Bedingungen zu schaffen, aus denen heraus er massenhaft möglich ist. Eine breite Basis – die sich nicht in spekulativer Zustimmung, sondern in wachsender Teilnahme ausdrückt – ist der beste Schutz für militanten Widerstand.
Wir sind nicht für ein Autonomes Plenum alten Stils, wo viele zwar überall dabei sind, aber dafür nirgendwo richtig. Uns geht es darum, gemeinsam zu überlegen, welche langfristigen Projekte und Kerne wir aufbauen und vernetzen wollen, an welchen Inhalten und praktischen Notwendigkeiten sich militante Kerne entwickeln müssen (von Ökologie über »Schattenwirtschaft« bis hin zu eigenen Medien, radikaler Medizin, Werkstätten und Sportvereinen …). Die Bedeutung und Wichtigkeit solcher Kerne bestimmt sich für uns daran, inwieweit wir selbst in der Lage sind, unsere Vorstellungen von einer herrschaftsfreien Gesellschaft in Keime von Gegenmacht, hier und jetzt, zu verwandeln.
Eine autonome Organisation hätte nur Sinn, wenn sich darin militante Kerne wie Mosaiksteine zueinander und ineinander fügen, wenn sich jenseits von Aktualität und Bewegung eine Kontinuität und Verbindlichkeit jener Kerne entwickelt, in denen Politik und Alltag, gegenseitiges Vertrauen und Kompetenz, Lust und Ausdauer, Geborgenheit und Risiko miteinander verschmelzen.
(1986)
Time-Bandit
Der Text ist alt, gute 8 Jahre alt – für autonome ZeitnehmerInnen eine kleine Ewigkeit. Eigentlich Schnee von gestern. Hätten wir bestimmte zeitliche Zuordnungen gänzlich aus dem Text herausgenommen, wäre dieser als aktueller Beitrag (fast) unbemerkt durchgegangen.
Wir hätten uns lieber gewünscht, die auf seine Erstveröffentlichung folgenden Ereignisse und Zeiten hätten ihn überholt, die Weiterentwicklung autonomer Theorie und Praxis hätte ihn im besten Sinne kompostiert. Davon kann wohl nicht die Rede sein. Damit ist einiges über den Stand autonomer Bewegung gesagt.
(1994)
Source: http://www.nadir.org/nadir/archiv/Diverses/pdfs/lupus_lichterketten.pdf