Zu den Perspektiven der Linken nach Heiligendamm
Es ist nicht leicht, kontrovers auf einen Beitrag zu antworten, dem man im wesentlichen zustimmt. Gregor Samsa hat in ak 519 eine Analyse der Heiligendamm-Mobilisierung unternommen, die ich in fast allen Punkten für richtig halte. Wenn ich ihm widerspreche, dann weil es mir weniger um den Befund als um seine Bewertung geht. So stimme ich Gregor völlig zu, wenn er schreibt, dass (a) die neoliberale Hegemonie in globaler Hinsicht ungebrochen und auch in Lateinamerika bestenfalls geschwächt ist, (b) die Realpolitik hier „unvermindert“ auf die „neoliberalen Modellierung der Gesellschaft“ zielt, (c) die Mobilisierung nach Heiligendamm ihren letzten Schub erst aus der Empörung über die Repression im Vorfeld erfuhr, (d) die mediale Beachtung der Proteste mindestens ambivalent war, (e) die wachsende Anerkennung von Globalisierungskritik nicht mit einer wachsenden Anerkennung von Kapitalismuskritik verwechselt werden darf, (f) das breite Mobilisierungsbündnis ein brüchiges war und nicht von einer wirklichen „Kultur“ der Kooperation zwischen moderaten und radikalen Linken getragen wurde, (g) in der Militanzfrage nur schwer zu überbrückende Gräben aufgebrochen sind, (h) es nicht gelungen ist, Verbindungen zu Alltagskämpfen und Auseinandersetzungen in den Betrieben zu schaffen. Uff, und jetzt? Ganz einfach: ich halte zunächst einmal trotzdem an der von Gregor bestrittenen Einschätzung fest, dass wir (a) eine „Linksverschiebung des politischen Feldes“ unterstellen dürfen und dass die Linke (nicht nur) in Deutschland (b) einen Prozess der „Neuformierung“ durchläuft.
(a) Mit „Linksverschiebung des politischen Feldes“ meine ich zunächst nur das, was Gregor selbst einräumt: dass „die Diskurshoheit des Neoliberalismus in den vergangenen Jahren reichlich Blessuren davongetragen“ hat. Natürlich schlägt sich das erst mal nur in der Verstärkung allseits beklagter „Politikverdrossenheit“ nieder. Die kann nach links wie nach rechts ausschlagen, wird wahrscheinlicher aber, das ist mein Pessimismus, einem Verschwinden des Politischen und der Tendenz zu „post-politischen“ Verhältnissen zuarbeiten. „Post-politisch“ nenne ich Verhältnisse, in denen - ein Punkt nur, aber ein zentraler – die uns vertraute Zuordnung von privatem und öffentlichem Raum insoweit kollabiert, als der Mehrheit der Gesellschaft nur noch ein Privatleben zugestanden wird (dass das ein ärmliches sein wird, ist nur die Hälfte des Problems: schlimmer könnte werden, dass die Leute die Privatisierung des Lebens von sich aus gar nicht mehr in Frage stellen). Sofern der Neoliberalismus als selbst noch politische Formation auf eine solche Option radikalisiert werden könnte (seine Besonderheit liegt darin, Post-Politik denkbar zu machen), kann die „vielbeschworene Bewegung der Bewegungen“ als Bewegung der Verteidigung des Politischen gewertet werden, d.h. als Bewegung für die Verteidigung der Konzeption einer Gesellschaft, die sich selbst öffentlich zum Problem macht. Ich glaube, dass die spezifische Politisierung der für die Woche von Heiligendamm so wichtigen jüngeren AktivistInnen ihren drive in einem solchen Anspruch auf Politik hat, und dass die schiere Präsenz von 20.000 Leuten während der Protestwoche, die „temporären autonomen Zonen“ der Camps, Demonstrationen und Blockaden, auch die Debatten des Alternativgipfels erfahrbar gemacht haben, was Öffentlichkeit sein kann. Ich glaube auch, dass in diesem Moment der Grund für das hohe Maß an Selbsttätigkeit und –bestimmung lag, das die jüngeren und älteren AktivistInnen vor Ort an den Tag gelegt haben: die attac-Chefs können davon ihr Lied singen... Die Wiederinanspruchnahme des Politischen ist dann auch der Grund für die natürlich begrenzte und selbst wieder zweideutige Offenheit der Medien gewesen: „Politik“ teilt sich mit oder ist nicht.
Um an dieser Stelle einen Haken zu schlagen: Wo genau bitte liegt das Problem, dass die Mobilisierung selbst (in ihrem moderaten wie in ihrem radikalen Flügel) von einer Minderheit von „Kadern“ getragen wurde – Gregor spricht von Leuten, die im Durchschnitt „10 – 15 Jahre älter“ waren als diejenigen, die später die „Straße“ oder das „Feld“ besetzt haben? Doch nicht im Faktum selbst - so viel Leninismus muss sein. Problematisch wäre, wenn diese Kader gar nicht oder in unangemessener Weise organisiert wären. Und damit bin ich beim zweiten Punkt, der „Neuformierung“ der Linken.
(b) Diese – ich gebe zu: zarte – Hoffnung hat sich in der Heiligendamm-Mobilisierung in der Bedeutung verdichtet, die der Interventionistischen Linken, aber auch dem dissent!-Netz zufiel, sie artikuliert sich (nur scheinbar paradox) in der Krise von attac, und sie formiert sich (vielleicht) in der LINKEN. Um mit letzterer anzufangen: lasst uns bitte nicht über die strukturellen Grenzen einer linkssozialistischen Wahlpartei diskutieren - das Desaster von Rifondazione Comunista bringt hier alles auf den Punkt. Dennoch ist der (internationale) Prozess der Formierung solcher Parteien insoweit offen, als er (noch) nicht auf die Erfahrungen verrechnet werden kann, die mit den historischen SP- und KP-en gemacht wurden. Tatsächlich wissen nicht wenige der Beteiligten, dass es um die Formierung eines neuen Typs solcher Parteien geht: bezeichnenderweise sind das oft solche, die nicht zu deren rhetorisch „linken“ Flügeln gehören. Offen ist auch, was aus der IL werden kann, die bis jetzt nur ein Anfang ist, wenn auch ein vielversprechender. Offen ist schließlich, ob die Krise von attac ein Neubeginn wird: gesichert scheint mir zu sein, dass auch der attac-Prozess, der mehr umfasst als das Organisationsgeschehen, einer Wiederinanspruchnahme von Öffentlichkeit und Politik Ausdruck verleiht. Was an all’ dem neu ist? Die Selbstartikulation einer gesellschaftlichen Linken, die ihre konstitutive Pluralität bejaht. Darunter verstehe ich zum Beispiel, dass moderate und radikale Linke sich weniger einem Problem des Entweder-Oder als dem einer auf Dauer gestellten Arbeitsteilung konfrontiert sehen. Auf Dauer zu stellen und strategisch zu bejahen ist diese Arbeitsteilung, weil sie auf strukturell unterschiedliche, aber zumindest prinzipiell gleichwichtige und deshalb nicht einfach ideologisch abzuwählende Möglichkeiten politischen Handelns bezogen ist.
(c) Was ist dann aber, darauf wollte Gregor ja hinaus, die Herausforderung, die uns gestellt ist? Wir müssen das eine (die Neuformierung einer strukturell pluralen Linken) auf das andere (die Linksverschiebung des politischen Feldes) beziehen, und das nach Möglichkeit in strategisch reflektierter Form. Wir werden also nicht die Linken bleiben können, die wir waren, werden neu bestimmen müssen, was moderat und radikal ist und wie beides in produktive Reibung gebracht werden kann. Wir werden lernen müssen, dass moderat und radikal keine Frage der politischen Identität, sondern der Notwendigkeiten des Tages ist. Ich glaube wirklich, dass sich davon in der Mobilisierung und vor Ort schon einiges gezeigt hat. Trotzdem.
Source: ak 521