2008 wird ein Jahr des Zivilen Ungehorsams
Haben die Proteste gegen den G8-Gipfel von Heiligendamm eigentlich irgendwelche Folgen?
In der zweiten Jahreshälfte 2007 war dem nicht so. Alle Aktiven schienen erschöpft. Doch jetzt geht die Saat auf: Aus „Block G8“ wird quasi „Block 08“. Ein Jahr mit zahlreichen Großaktionen Zivilen Ungehorsams steht bevor. Und im „Netzwerk ZUGABe“ haben sich erfahrene OrganisatorInnen Gewaltfreier Aktion zusammengeschlossen, um diese Dynamik zu unterstützen.
Rückblende:
Die Bilder von den fröhlichen und bunten Menschenmassen, die durch die Getreidefelder rund um Heiligendamm zogen und sich dabei von der Polizei nicht aufhalten ließen, gingen im Juni 2007 um die Welt. Der G8-Gipfel wurde von seiner Infrastruktur abgeschnitten. Etwa 12.000 Aktive drangen trotz eines der größten Polizeieinsätze in der Geschichte der Republik in die Verbotszone ein und blockierten 48 Stunden lang die Zufahrtsstraßen zum Tagungsort. Ein deutliches Zeichen: Die Legitimität des Gipfels wurde ganz praktisch in Frage gestellt. Für die globalisierungskritische Bewegung und alle Beteiligten aus anderen Bewegungen war das ein großer Erfolg.
Rainer Metzger kommentierte unter der Überschrift „Illegal, aber richtig ...“ in der taz: „Die Blockaden der Zufahrtswege zur Gipfelzone in Heiligendamm zeigen, wie Protest auch funktionieren kann. Es geht um den großen Unterschied zwischen zivilem Ungehorsam und Steinewerfen auf Massendemos.
(…) So wurde wieder über Inhalte diskutiert und nicht über Sicherheit. Wer Steine wirft, überlässt den Scharfmachern das Feld und zwingt die Protestseite in eine Diskussion, die sie nicht gewinnen kann. Bei einem solchen Großereignis geht es auch darum, die politische Gegenseite im Ringen um die Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft in die Defensive zu bringen. Mit friedlichen Blockaden gelingt das den Gipfelkritikern eher.“
Mal davon abgesehen, dass ich das Wort „friedlich“ nicht ausstehen kann, weil es mir zu defensiv und brav klingt, hat Metzger Recht: Ziviler Ungehorsam hat sich in den Tagen von Heiligendamm als klar effektiver und politisch wirkungsmächtiger gezeigt als alle Massenmilitanz-Rituale.
Und das Besondere: Beteiligt an der Organisation der Blockaden durch die Kampagne „Block G8“ waren ja nicht nur die üblichen AktivistInnen aus der gewaltfreien Bewegung, sondern auch autonome und postautonome Gruppen wie Avanti, Fels und die Antifaschistische Linke Berlin. Und die haben erstaunt feststellen können, dass die Konzepte der Gewaltfreien Aktion manchmal sogar „militärisch“ die besseren sind, wenn es beispielsweise darum geht, Polizeiketten ohne Eskalation zu überwinden.
Das noch im vorher ausgehandelten Aktionskonsens von „Block G8“ als Möglichkeit aufgeschriebene „Drängeln und Schubsen“, um eben auch Gruppen die Teilnahme zu erleichtern, die nicht aus einer gewaltfreien Aktionskultur kommen, fand praktisch nicht statt. Etwa 4.000 Menschen haben in den Wochen vor Heiligendamm an Trainings teilgenommen und dabei beispielsweise gelernt, wie die „5-Finger-Taktik“ den Weg zum Aktionsort öffnet oder wie mensch sich bei einer Räumung verhalten kann, um zu vermeiden, dass es knallt. Es kann also gut sein, dass „Block G8“ aus einer ganzen Reihe „Postautonomer“ nun zumindest „Prägewaltfreie“ gemacht hat.
Die Blockaden von Heiligendamm haben vielen Mut gemacht, auch in anderen politischen Auseinandersetzungen auf die Kraft des gemeinsamen Zivilen Ungehorsams zu setzen. Politische Vermittelbarkeit, Vermeidung von Eskalation und direktes Eingreifen in Missstände sind dabei wesentliche Kriterien. Nicht alle, die sich nach dem G8-Protest auf Zivilen Ungehorsam beziehen, sehen darin ein Konzept des Gewaltfreien Widerstandes. Dabei spielt aber auch viel Unwissen über die Begründungszusammenhänge und die historische Entwicklung des Begriffs eine Rolle. Die Vermittlung der Konzepte von Gewaltfreier Aktion und Zivilen Ungehorsams sind also in der nächsten Zeit wichtige Aufgaben gewaltfreier Bewegung.
Im diesem Jahr wird dazu viel Gelegenheit sein. Wenn die Mehrzahl der Aktionspläne, die in den letzten Wochen und Monaten für dieses Jahr entwickelt wurden, umgesetzt wird, so wird 2008 zu einem Jahr des massenhaften Zivilen Ungehorsams. Der Widerstands-Kalender ist voll und bietet für jede/n etwas:
Los geht es im benachbarten Ausland: Unter dem Motto „NATO-Game over – Gegen die militärische Globalisierung“ (vgl. GWR 326) werden am 22. März, fünf Jahre nach dem Beginn des Irak-Krieges, AktivistInnen aus ganz Europa gewaltfrei in das NATO-Hauptquartier in Brüssel eindringen, um gegen weitere Kriegsverbrechen und militärische Besetzungen zu demonstrieren. Ein Vorbereitungs- und Aktionstraining findet vom 20. bis 21. März statt. An den darauf folgenden zwei Tagen (23.-24. März) organisieren Bombspotting und War Resisters’ International (WRI) gemeinsam eine Konferenz, wie der andauernden militärischen Globalisierung mit Gewaltfreiem Widerstand begegnet werden kann.1
Die nächste Station wird Mannheim sein. Überall in der Republik entsteht derzeit eine neue Anti-KKW-Bewegung, wobei das Kürzel für Kohlekraftwerke steht. Mehr als 20 dieser Klimakiller sollen gebaut werden, eines davon als Block 9 des Mannheimer Großkraftwerks.
Um für die vielen Initiativen an den geplanten Neubauten eine Aktionsperspektive über Demonstrationen hinaus zu entwickeln, veranstalten attac, örtliche Initiativen gegen Kohlekraft und das Netzwerk ZUGABe (siehe Kasten) am 24. Mai einen Aktionstag, der auch direkte gewaltfreie Aktionen mit einschließt. Eingerahmt wird dieser Tag von der attac-Aktionsakademie vom 21. bis 25. Mai in Heidelberg, bei der es u.a. um die Organisation von Großaktionen gehen soll.
Die verschiedenen Arbeitsbereiche des neugegründeten Netzwerks ZUGABe stellen sich vor und laden zur Mitarbeit ein, auch über die Aktion in Mannheim hinaus.
Ende Mai, Anfang Juni wird mit der Wiederinbetriebnahme des AKW Krümmel bei Hamburg gerechnet. Der Reaktor steht seit einem Brand im Trafo und einer ziemlich missglückten Schnellabschaltung Ende Juni vergangenen Jahres still.
Jetzt soll es wieder losgehen. Norddeutsche Anti-AKW-Initiativen planen unter dem Motto „Krümmel bleibt aus“ eine Blockade des Kraftwerks.2
Die Kampagne „Gendreck weg“ hat mit bisher drei öffentlich angekündigten „freiwilligen Feldbefreiungen“ mit jeweils mehreren hundert AktivistInnen gegen den Anbau von gentechnisch verändertem Mais agiert. In diesem Jahr sollen das gentechnikfreie Camp und die große Feldbefreiungs-Aktion vom 27. bis 29. Juni bei Würzburg stattfinden. Dort wird erstmals in Bayern in größerem Stil Genmais angebaut.3
Vom 5. bis 13. Juli ist bei Hanau das KlimaAktionsCamp.
Nach britischem Vorbild hat sich ein breites Spektrum von Gruppen weit über die Ökologiebewegung hinaus zusammengetan, um unter der inhaltlichen Klammer des Klimathemas systemkritische Schlussfolgerungen zu ziehen. Geplant ist auch eine Großaktion Zivilen Ungehorsams, wahrscheinlich gegen die Erweiterungspläne am Kohlekraftwerk Staudinger.
Weitere Aktionsziele im Rhein-Main-Raum bieten sich an: der Frankfurter Flughafen, die Autobahnen und Autoindustrie, Atomanlagen, Börse und Banken etc.4
Das Aktionsbündnis Rosa Heide ruft für den 18.-22. Juli 2008 zu einem
Aktionscamp gegen das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide auf. Eine weitere Aktion auf dem Gelände ist für den 11. August geplant.5
Die „Lebenslaute“ ist eine offene bundesweite Aktionsgruppe von MusikerInnen, die seit 22 Jahren mit Zivilem Ungehorsam gegen Militär, Atomkraft, Rassismus und Gentechnik agiert. In diesem Jahr wird es eine Aktion im Rahmen des antirassistischen Camps in Hamburg geben, evtl. aber auch in Lübeck, wo in einer Kaserne der Bundespolizei Lehrgänge zur Abschottung der EU-Außengrenzen angeboten werden. Noch steht der Termin nicht hundertprozentig fest, derzeitiger Planungsstand ist der 22. bis 24. August.6
Für den 23. August bis 1. September ist ein Aktionscamp am deutschen Fliegerhorst Büchel in der Eifel angekündigt.
Höhepunkt ist am 30. August eine gewaltfreie Aktion des Zivilen Ungehorsams unter dem Motto „bye-bye nuclear bombs“.
Die Kampagne der Gewaltfreien Aktion Atomwaffen abschaffen (GAAA) verfolgt das Ziel der Beendigung der deutschen nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO hin zu einer atomwaffenfreien Bundesrepublik und Welt.7
Bleibt in diesem Aktionskalender des massenhaften Zivilen Ungehorsams noch der November. Dann steht der nächste Castor-Transport nach Gorleben an, und „X-tausendmal quer“ bereitet eine große Blockadeaktion vor.8
Wie viele Menschen ins Wendland kommen, hängt stark davon ab, wie die zahlreichen Aktionen im Sommer verlaufen.
Entweder es sind viele Aktive völlig ausgepowert, oder sie haben Kraft und Energie und neue MitstreiterInnen gewonnen.
Dann kann Gorleben zum krönenden Abschluss dieses Ungehorsams-Jahres werden. Ich bin gespannt darauf…
Jochen Stay
1 www.bombspotting.org
2 www.contratom.de
3 www.gendreck-weg.de
4 www.klimacamp.org
5 www.g8andwar.de, clownsfreiheide.de.tl, www.sichelschmiede.org
6 www.lebenslaute.de
7 Infos: www.gaaa.org oder www.atomwaffenfrei.de
8 www.X-tausendmalquer.de
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 327, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 37. Jahrgang, März 2008, www.graswurzel.net
[http://www.linksnet.de/artikel.php?id=3573]
Source: www.linksnet.de