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2007-10-08

Mustafa, Yilmaz & Ibrahim: G8 und die Diskussionen nach dem 2.6.2007

Beitrag zu den Diskussion der G8-Broschuerengruppe zum 2. Juni in Rostock

Offener Brief an die Broschürengruppe protest.widerstand.perpektive

Oktober 2007

Liebe Genosinnen und Genossen, die ihr die Broschüre protest.widerstand.perspektive herausgegeben habt,

wir haben vor einiger Zeit Eure Broschüre in die Hände bekommen und sie hat uns in großen Teilen begeistert. Wir haben die einzelnen Texte hier zusammen diskutiert und sind zu dem Schluß gekommen, daß zwar die einzelnen Texte der Broschüre von unterschiedlicher Qualität sind, aber dass wir in den letzten Jahren selten eine so fundierte Stellungnahme etwa zur Gewalt der Herrschenden und zur Gewalt der Unterdrückten gelesen haben wie in Eurer Broschüre.

Wir haben uns auch darüber gefreut, dass Ihr mit der Broschüre nicht nur ein Statement abgeben wollt, sondern Eure Positionierung als Beitrag zu einer weitergehenden Diskussion versteht und deshalb schreiben wir Euch, um Euch unseren Diskussionsstand mitzuteilen und um Euch um Antwort zu bitten.

Wir haben in unserer Gruppe beschlossen, dass wir vor allem drei Punkte genauer mit Euch diskutieren möchten.

Bild: SVZ

I. Ist eine Spaltung entlang der Gewaltfrage immer ein Sieg der Herrschenden?

Im Text „Geschichte und Perspektiven des Widerstands" geht, es im Abschnitt „Gemeinsam Kämpfen" um Militanz und wir könnten; ,uns vorstellen, dass Ihr diesen Text nach dem pro-polizeistaatlichen Auftreten des „linken Establishments" von Linkspartei über Attac bis hin zu Teilen der IL anlässlich der Kämpfe vom 2. Juni in Rostock inzwischen erneut selbstkritisch unter die Lupe genommen habt. Es heißt dort nämlich auf S. 11, dass es innerhalb der Bewegung zwar nicht um Einheit um jeden Preis gehen könne, aber eine Spaltung entlang der Gewaltfrage doch immer ein Sieg der Bourgeoisie sei und meistens die Schwächung des Widerstands zur Folge habe. Gerade die Hetze bis hin zu Angriffen und Denunziation dieser Figuren des „linken Establishments" nach dem 2.6. zeigen doch eigentlich, dass es die wirklich revolutionäre linke Bewegung stärkt und nicht schwächt, wenn sie klarmacht, dass so etwas wie Hetze gegen den Schwarzen Block bis hin zur Polizei-Kollaboration, direkte Angriffe und angedrohte Rausschmisse und Denunziation nicht geduldet werden. Ja, es ist richtig, dass wir dann ein paar weniger sind; aber wäre das denn wirklich ein Verlust? Es ist schon richtig, wir sollten uns nicht über jeden Pipifax streiten und spalten lassen. Das nützt am Ende tatsächlich den Herrschenden. Aber in grundlegenden Fragen ist es unserer Meinung nach richtiger und wichtiger, klar Position zu beziehen und das in Kauf zu nehmen.
Warum „hacken" wir so auf diesem Punkt herum? Weil es uns nicht nur um diesen Punkt isoliert betrachtet geht, sondern weil wir darüber hinaus - und das wollen wir auch an den weiteren Punkten, die wir mit Euch diskutieren möchten, erklären -, das Gefühl haben, dass Euch „die Einheit" doch schon ein sehr großes Anliegen ist. Und wir haben den Eindruck nicht in einem positiven Sinne von einem gemeinsamen Kampf mit Klarheit über die gemeinsamen Ziele, sondern - na ja, vielleicht ist das jetzt eine Übertreibung - im Sinne einer möglichst breiten Einheit, die man erhalten möchte und deshalb nicht klar ausspricht, was man eigentlich denkt.

II. Die Rolle des deutschen Imperialismus für uns

Wir möchten dies anhand des Textes „Zu den aktuellen Verhältnissen im globalen Kapitalismus" näher erklären. In diesem Artikel gibt es einige unserer Meinung nach richtige Darstellungen zum deutschen Imperialismus. Es wird erklärt, dass Deutschland die entscheidende Kraft innerhalb der EU ist und die aggressiv imperialistische Rede Steinmeiers von München 2006 wird zitiert (S. 18). Andererseits ist dann von einem „EU-Block" die Rede und die eigenständigen imperialistischen Interessen Deutschlands u.a. gegen die USA, aber auch gegen andere EU-Länder (etwa Frankreich) sind kein Thema.

Hier ist also „für jede/n etwas dabei", hier kann sich jede/r seine „Lesart" heraussuchen: Von denjenigen, die innerhalb der linken Bewegung den Kampf gegen den Weltimperialismus vorrangig gegen den US-Imperialismus führen wollen und das dann soweit treiben, den deutschen Imperialisten Ratschläge mit auf den Weg zu geben, wie sie sich als „Werbemaßnahme" gegenüber den Völkern der Welt als die „bessere" Alternative darstellen können, bis hin zu den Kräften, die wirklich den deutschen Imperialismus bekämpfen wollen.

Und da sind wir wieder beim Thema „Einheit", beim Thema, ja niemandem auf die Füße treten zu wollen. Niemandem ist geholfen, wenn Stellungnahmen so formuliert sind, dass jede/r sich seine Interpretation herauslesen kann. Aus dem einfachen Grund, weil dann keine Diskussion darüber entsteht, nichts wirklich geklärt wird und jede/r sich „seinen Teil denkt".
Aber wäre es nicht gerade wichtig, sich an diesem Punkt zu positionieren und zu sagen: Wir kämpfen gegen den Weltimperialismus, gegen alle imperialistischen Länder, aber als revolutionäre Linke in Deutschland müssen wir diesen Kampf auf den deutschen Imperialismus zuspitzen und werden deshalb Positionen zurückweisen und deren Schlussfolgerungen aufzeigen, die - in ihrer reaktionären Variante - unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den US-­Imperialismus den deutschen Imperialismus als „völkerfreundliche Alternative" anpreisen und den Widerstand im Grunde in pro-deutsch-imperialistische Bahnen lenken wollen oder - in ihrer abgemilderten Variante - den deutschen Imperialismus unterschätzen?

III. „Zusammenbruch des sozialistischen Lagers" und „Stalinismus"?

Ihr seid für den Kommunismus, für die Perspektive einer klassenlosen Gesellschaft (S. 24 f.) und auch für eine Phase hin zu dieser klassenlosen Gesellschaft, in der als Vorstufe noch die alten Konterrevolutionäre und Ausbeuter unterdrückt werden müssen. Soweit sind wir bei Euch.
Aber wir fragen uns, welche genauere Vorstellung Ihr dazu entwickelt habt, wie Ihr Euch das vorstellt, woran Ihr Euch da orientiert, auf welche geschichtlichen Beispiele Ihr Euch dabei beruft. Und hierzu finden wir im Grunde wieder „für jeden etwas" in Euren Texten mit Formulierungen wie „Zusammenbruch des sozialistischen Lagers" (S. 6) oder „Zusammenbruch des Staatssozialismus" (S. 9), ohne dass genauer darauf eingegangen wird, warum und wann dieser Zusammenbruch stattgefunden hat.
„Für jeden etwas": für diejenigen, die sagen, in der Sowjetunion sei schon seit der Oktoberrevolution alles den Bach herunter gegangen, für diejenigen, die heute polizeistaatliche Regimes mit restauriertem Kapitalismus wie in China, Kuba, Nordkorea usw. propagieren und für „verteidigungswert halten" oder diejenigen, die behaupten ja Gorbatschow habe den Ausverkauf der Sowjetunion abgewickelt, aber vorher, mit Breschnew, sei alles besser gewesen. Und auch wir können uns ein stückweit in dieser Formulierung wiederfinden, obwohl wir eine vollkommen andere Auffassung haben im Widerspruch zu den gerade genannten Positionen, aber vielleicht auch im Gegensatz zu Euch?

Wir denken, um jetzt mal unsere Meinung darzulegen und damit eine Debatte auszulösen, dass noch nie vorher in der Geschichte Arbeiterinnen und Arbeiter im Kampf für die Beseitigung des Kapitalismus und die Abschaffung der Klassen so weit gekommen sind, wie in der Sowjetunion bis Anfang der 50er Jahre. Dass es gelungen ist, dort den Kapitalismus zu restaurieren, wie, wodurch und wann es dazu kam, daß dort eine neue Ausbeuterklasse entstehen konnte, sind für uns auch Grundfragen, die man untersuchen muss.

Um unser bisheriges Diskussionsergebnis nur anzureißen: Wir denken, dass die allgemeine Linie der Kommunistinnen und Kommunisten in der Sowjetunion bis zu Stalins Tod 1953 richtig war. Sein Tod gab den Startschuß, daß konterrevolutionäre revisionistische Figuren innerhalb der KPdSU Morgenluft witterten und denen es gelang, auf dem 20. Parteitag 1956 die Führung der KPdSU zu übernehmen und dabei alle Eckpunkte wirklich kommunistischer Politik revidierten (etwa mit der Behauptung vom „friedlich-parlamentarischen Weg). Nicht nur in der Innenpolitik, sondern zunehmend sichtbar auch in einer konterrevolutionären auf die wirtschaftlichen Vorteile der neu entstandenen Bourgeoisie abgerichteten Außenpolitik, die nichts mehr mit proletarischem Internationalismus zu tun hatte, reaktionäre Regimes unterstützte und selbst nicht davor zurückschreckte, revolutionäre Kräfte innerhalb von antiimperialistischen Bewegungen niederzuschlagen (wir erinnern nur an Afghanistan in den 1970er/80er Jahren).

Wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte? Gab es darin Einschnitte oder war dies ein schleichender Prozess? Welche Rolle etwa die Tatsache spielte, daß im Kampf gegen die Nazi-Faschisten Tausende und Abertausende sowjetische Kommunistinnen und Kommunisten ermordet wurden? Wurden die aufkommenden revisionistischen Element nicht genügend bekämpft? Wurde
nicht umfassend gegen Bürokratismus, Verspießerung und falsch verstandene Parteidisziplin gekämpft und nicht genügend Kritik und Selbstkritik als Motor der revolutionären Entwicklung betont? War die allgemeine Linie richtig, aber gab es Mängel in der Umsetzung? Wir haben diese Fragen im Zusammenhang mit der Analyse der Ursachen für die konterrevolutionäre Restauration in der Sowjetunion diskutiert und würden unser bisheriges Diskussionsergebnis gerne mit Euch teilen, aber dies soll erst einmal genügen.
In diesem Zusammenhang ist es uns ein Anliegen, einen weiteren damit zusammenhängenden Punkt zu kritisieren. Ihr bzw. Laura im Interview „Politische Militanz gestern und heute" sprecht auf S. 42 „von der Entartung in Form des Stalinismus", wo „jegliche Gewalt, selbst gegen Kommunistinnen und Kommunisten, die eine andere Linie verfolgten, als notwendig betrachtet" worden sei.
Reden wir mal gar nicht davon, daß Ihr in diesem Zusammenhang überhaupt von „Entartung" sprecht. Aus diesem Seitenhieb gegen den „Stalinismus" ist für uns klar, daß da viel Diskussionsbedarf angelegt ist. Wir wollen Euch zunächst einmal folgendes zu bedenken geben: Macht es Euch nicht stutzig, dass sich beim „Thema Stalin" in Deutschland auf einmal alle - bürgerliche Antikommunisten, Revisionisten, Trotzkisten, Anarchisten, Autonome - einig sind und die Bourgeoisie mit dem ganzen zur Verfügung stehenden Apparat der bürgerlichen Medien, in Schulen und Unis Lügengeschichten in Umlauf bringen? Macht es Euch nicht stutzig, daß Stalin besonders in Deutschland so gehaßt wird? Unsere Meinung hierzu in aller Kürze: Die sozialistische Sowjetmacht hat unter Anleitung Stalins den entscheidenden Anteil daran gehabt, daß Nazi-Deutschland besiegt werden konnte. Schon das sollte Anlass genug sein, sich tiefgehend, ehrlich und solidarisch damit auseinanderzusetzen, warum Stalin insbesondere in Deutschland mit solchem geifernden Hass begegnet wird. Eine solche Auseinandersetzung wäre unserer Meinung nach die Voraussetzung, um sich kritisch - so kritisch wie mit dem Werk von Marx oder Lenin - mit dem Werk Stalins, mit seinen Schriften und auch seiner Praxis auseinanderzusetzen.
Soweit erst mal die Themen, bei denen wir mit Euch weiteren Diskussionsbedarf sehen und warten gespannt auf Eure Antwort.

Mit internationalistischen Grüßen
Mustafa, Yilmaz & Ibrahim